Es klingt wie ein filmreifes Drehbuch: Normalverdienende Anleger schließen sich mit Hilfe einer App in Scharen zusammen und zwingen milliardenschwere Hedgefonds in die Knie. So jedenfalls präsentierten die Medien die Vorgänge um die Webseite „WallStreetBets“, das Finanzdienstleistungsunternehmen „RobinHood“ sowie den Einzelhandels-Konzern „GameStop“ in der vergangenen Woche der Weltöffentlichkeit – und tatsächlich, Hollywood hat bereits zugegriffen und den entsprechenden Film in Auftrag gegeben.
Das allein sollte einen aufhorchen lassen, denn die US-Filmproduzenten verkaufen vor allem eines: Träume, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben. Genauso verhält es sich in diesem Fall. Was auf den ersten Blick wie ein Aufstand der Habenichtse gegen das ganz große Geld erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine äußerst raffinierte Abzocke, frei von jeder Heldenromantik.
RobinHood: Selbstloser Rebell oder egoistischer Raubritter?
Der wichtigste Akteur in diesem Spiel ist die Trading-Plattform „RobinHood“. Das Unternehmen wurde im April 2013 von zwei Stanford-Absolventen gegründet und brachte im März 2015 die erste App heraus, die einen provisionsfreien Aktienhandel per Handy ermöglicht. Zielgruppe sind bis heute vor allem junge und unerfahrene Börseneinsteiger, denen sich die RobinHood-Chefs im Stil ihres Namensgebers gern als soziale Räuber und Vorkämpfer für eine „Demokratisierung der Finanzwelt“ präsentieren.
Dieses Narrativ nehmen ihnen viele Neulinge ab, schließlich kann man die App umsonst herunterladen und gebührenfrei damit traden. Würden auch nur einige von ihnen öffentlich hinterfragen, womit die Betreiber der Plattform wohl ihr Geld verdienen, würde sich das Märchen vom selbstlosen sozialen Räuber, der den Reichen nimmt und den Armen gibt, vermutlich sehr schnell in Luft auflösen.
Das tatsächliche Geschäftsmodell von RobinHood besteht nämlich in etwas ganz anderem: Nämlich darin, die Handelsdaten der eigenen Kunden an genau diejenigen weiterzuleiten, denen man angeblich die Stirn bieten will. So verkauft das Unternehmen bis heute die Trading-Daten seiner Nutzer an milliardenschwere Handelsfirmen wie Citadel Securities, Two Sigma Securities, Susquehanna International Group und Virtu Financial.
Wie wichtig diese Informationen sein können, zeigt sich vor allem an der Weitergabe der Stop-Loss-Orders, mit denen RobinHood-Kunden ihre Verluste im Fall von plötzlichen Kursstürzen begrenzen. Diese Daten geben den großen Handelsfirmen enorm wichtige Hinweise darauf, wie weit sie bei der Manipulation der Märkte gehen können, ohne zu überreizen. Dazu ein ehemaliger High-Speed-Händler: "Das ist, als würde Ihr Broker ein Geheimnis, das Sie ihm anvertrauen, an jemanden weiterverkaufen, der die Information gegen Sie verwendet.“
RobinHooder: Immun gegen Kritik an ihrer Plattform
Die mittlerweile mehr als 13 Millionen RobinHooder, die dem Unternehmen zu einem Marktwert von über 11 Milliarden Dollar verholfen haben, scheinen jedoch immun, wenn es um Kritik an der von ihnen idealisierten Plattform geht. Selbst als die US-Börsenaufsicht SEC (Securities and Exchange Commission) das Unternehmen vor knapp sechs Wochen wegen Betrugs an den eigenen Kunden zu einer Strafe von 65 Millionen Dollar verurteilte, wurden nur wenige Accounts gekündigt.
Auch die Nachricht, dass RobinHood sich bei dem für 2021 geplanten Börsengang ausgerechnet vom offiziellen Feindbild Goldman Sachs beraten lässt, scheint die Fangemeinde nicht zu stören. Im Gegenteil: Allein im vergangenen Jahr meldeten sich drei Millionen neue User an, und ein Ende des Zustroms ist nicht abzusehen.
Diese Entwicklung hat vermutlich zwei Ursachen. Zum einen werden in den sozialen Medien in regelmäßigen Abständen Erfolgsgeschichten einzelner Trader veröffentlicht - so wie die eines 23jährigen Studenten, der im vergangenen März einen Account eröffnete und es innerhalb von vier Monaten mit etwas mehr als dreihundert Trades auf einen Gewinn von 100.000 Dollar brachte. Zum anderen haben die Pandemie-Lockdowns RobinHood zahlreiche neue Kunden verschafft, weil hunderttausende Arbeitslose – zum Teil aus purer Verzweiflung - versuchen, ihre finanzielle Situation zu verbessern, indem sie die staatlichen Hilfszahlungen zum Traden benutzen.
Der GameStop-Hype oder: Das Märchen vom Kampf David gegen Goliath
Dass RobinHood zusammen mit seinem kleineren Konkurrenten „WallStreetBets“ in der vergangenen Woche in die Schlagzeilen geriet, liegt vor allem an den Vorgängen um die strauchelnde Handelskette GameStop. Deren Geschäfte laufen seit Jahren immer schlechter, weshalb sie in der jüngeren Vergangenheit ins Visier von Hedgefonds geraten ist, die mit Leerverkäufen auf einen weiteren Kursverfall von GameStop-Aktien gewettet haben.
Solche Leerverkäufe sind ein beliebtes Mittel, um vom Niedergang schwächelnder Unternehmen zu profitieren. Investoren (insbesondere Hedgefonds) leihen sich deren Aktien, verkaufen sie umgehend, drücken dadurch den Preis, warten ab, bis er noch weiter fällt und greifen dann wieder zu, um anschließend die Differenz zwischen Kauf- und Verkaufspreis als Gewinn zu verbuchen. Eine noch dreistere Variante dieser zerstörerischen Praxis ist der ungedeckte Leerverkauf, bei dem man Aktien verkauft, die man nicht besitzt, um später ein Aktienpaket in gleicher Höhe aufzukaufen.
Derartige Wetten sind in Finanzkreisen gang und gäbe, haben allerdings einen Haken: Wenn der Aktienkurs nicht fällt, sondern steigt, können enorme Verluste entstehen. Genau das ist im Fall GameStop passiert: Dadurch, dass die Nutzer von WallStreetBets und RobinHood in großen Mengen GameStop-Aktien kauften, schnellte der Kurs immer weiter in die Höhe. Das zwang einzelne Leerverkäufer, ihre Verluste durch das Aufkaufen der Aktien zu begrenzen, was den Kurs noch weiter beflügelte (den sogenannten „Short Squeeze“ auslöste) und andere Leerverkäufer unter Zugzwang setzte. Ergebnis war, dass einer der größten Leerverkäufer, der Hedgefonds „Melvin Capital“, sich insgesamt 2,75 Milliarden Dollar besorgen musste, um zahlungsfähig zu bleiben.
Algorithmus-Rechner gegen Amateure
Betrachtet man das Ganze nur oberflächlich, so drängt sich tatsächlich der Vergleich mit David und Goliath auf. Das ändert sich allerdings, wenn man folgende Informationen berücksichtigt:
Melvin Capital zählt zu den wichtigsten Geschäftspartnern von RobinHood. Sobald der Kursanstieg bei GameStop für Melvin Capital lebensbedrohlich wurde, setzte RobinHood den Handel mit GameStop-Aktien einfach aus und bereitete dem Höhenflug so ein Ende. Als daraufhin ein Heer von RobinHood-Usern sich beschwerte, ließ die Geschäftsführung durch Google 100.000 negative Kommentare im Netz löschen.
Die daraufhin einsetzenden Kursschwankungen ermöglichten es den Algorithmus-Rechnern (Algorechnern)s der Hedgefonds, erlittene Verluste zu einem Großteil wieder gutzumachen. Der anschließende Kurssturz wiederum konnte für erneute Leerverkäufe genutzt werden und brachte viele Hedgefonds wieder auf die Gewinnerstraße. Verlierer dagegen waren zahlreiche ahnungslose und von der schnellen Entwicklung überforderte RobinHooder, die zum Teil empfindliche Verluste hinnehmen mussten.
Besonders interessant ist, dass die Masse der RobinHooder ganz offensichtlich nie auf die Besitzverhältnisse im Hintergrund schaut, um zu wissen, mit wem sie es zu tun hat. Diese sind im Fall von GameStop besonders aufschlussreich, denn bei deren größten Anteilseignern handelt es sich um BlackRock und Fidelity, zwei Marktgiganten, die zusammen etwa zehn Billionen Dollar an Vermögen verwalten.
Für beide waren die Kursbewegungen der vergangenen zwei Wochen ein wahrer Glücksfall, denn während die RobinHooder entweder mit den Schwankungen nicht mithalten konnten oder von der eigenen Plattform vom Handel ausgeschlossen wurden, konnten die Algorechner der Mega-Vermögensverwalter genau im richtigen Moment zuschlagen und zum Teil atemberaubende Gewinne einstreichen.
RobinHoods historische Mission: Staatsgelder in private Taschen umleiten
RobinHoods Siegeszug wird vermutlich noch eine Zeitlang weitergehen, denn das Unternehmen erfüllt sowohl für die Zentralbanken als auch für die großen Akteure an der Wall Street eine wichtige Rolle. Da das globale Finanzsystem seit 2007/08 nur noch durch immer neue Geldinjektionen am Leben erhalten werden kann, der Löwenanteil dieser Gelder aber direkt in die Taschen der Ultrareichen fließt, wird es für die Politik nämlich zunehmend schwieriger, die Geldschwemme gegenüber der Bevölkerung zu rechtfertigen. Genau da kommt RobinHood ins Spiel.
Im Zuge der Pandemie-Maßnahmen erhielten arbeitslose US-Bürger im vergangenen Jahr von der Regierung eine Einmalzahlung von 600 Euro plus 300 Dollar pro Woche Zuschuss zum Arbeitslosengeld, von denen sie einen erheblichen Teil über RobinHood und andere Plattformen dazu nutzten, das Finanzcasino anzuheizen. Dass diese Einspeisung von frisch gedrucktem Geld über die unteren Einkommensschichten und nicht über Großinvestoren den Wählern wesentlich besser zu verkaufen ist als die bisherigen „Hilfspakete“, ist der neuen Administration von Joe Biden offenbar nicht entgangen. Sie plant, diese Zahlungen zu erhöhen – vermutlich in der Erwartung, dass in Zukunft noch mehr Geld über RobinHood und Co. in die Finanzmärkte gelangt und diese noch möglichst lange stabilisiert.
Die Betreiber der Plattform können sich jedenfalls die Hände reiben, denn das Quartett aus Zentralbank, Hedgefonds, Vermögensverwaltungen und Politik wird ihnen mit Sicherheit auch in Zukunft helfen, das verkaufsfördernde Märchen von der sozialen App, die den Reichen nimmt und den Armen gibt, am Leben zu erhalten.