Deutschland

Soziale Spaltung und eine „verlorene Generation“ sind das Ergebnis monatelanger Schulschließungen

Lesezeit: 2 min
09.02.2021 08:44
Die seit Monaten anhaltenden Schließungen von Schulen haben zu einer ernsten sozialen Spaltung geführt, sagen Experten.
Soziale Spaltung und eine „verlorene Generation“ sind das Ergebnis monatelanger Schulschließungen
Eine Mutter und ihre Tochter im "Homeschooling". (Foto: dpa)
Foto: Rolf Vennenbernd

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Die seit nun fast acht Wochen dauernden Schulschließungen des zweiten Corona-Lockdowns - einschließlich der Weihnachtsferien - könnten für viele Schüler nach Ansicht von Experten weitreichende negative Folgen haben. Die Schließungen führten nicht nur zu Leistungsverlusten, sondern gerade für Kinder "aus bildungsfernen Schichten" sei Schule oft einer der wichtigsten sozialen und emotionalen Bezugspunkte, sagte OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher der Deutschen Presse-Agentur. "Genau da liegen die entscheidenden Risiken des zweiten Lockdowns." Für diese Schüler und kleine Kinder, für die digitales Lernen keine Alternative sei, wüchsen die Risiken "überproportional zur Länge des Lockdowns".

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, sprach von einer Schülergruppe, die sowohl im letzten Schuljahr schlecht per Distanzlernen erreicht worden sei und jetzt wieder neue Defizite anhäufe. "Die können praktisch den Anschluss im nächsten Schuljahr nicht mehr schaffen." Bei den betroffenen Schülern wachse die Gefahr, keinen Schulabschluss oder zumindest den angestrebten Abschluss nicht mehr zu erreichen. "Das bedeutet massiv verschlechterte Zukunftschancen."

Am Mittwoch wollen Bund und Länder über das weitere Vorgehen nach dem zunächst bis Ende dieser Woche befristeten Lockdown beraten. Führende Politiker auf Bundes- und Landesebene hatten unter Verweis auf Bildungsverluste, Belastungen für Eltern und andere Folgen wiederholt gesagt, dass Kitas und Schulen bei Lockerungen Priorität hätten. Seit Mitte Dezember haben die meisten Kinder und Jugendlichen in Deutschland ihre Schule oder Kita nicht mehr von innen gesehen.

Schleicher verwies auf andere Länder: Viele Staaten hätten auch bei schwieriger Infektionslage der Öffnung von Kindergarten und Grundschulen absolute Priorität eingeräumt. "Das heißt, diese Bildungseinrichtungen blieben offen, auch wenn es sonst vielfache Einschränkungen des öffentlichen Lebens gab." Mit Blick auf das weitere Vorgehen an den Schulen in Deutschland forderte der OECD-Experte, dass kleine Kinder und Kinder mit Benachteiligung beim Präsenzunterricht systematisch Vorrang haben müssten.

Meidinger sprach sich dafür aus, nach der ersten Phase von Schulöffnungen Leistungsstanderhebungen zumindest in den Kernfächern in allen Jahrgangsstufen durchzuführen, und dann Konzepte für den Umgang mit Lernrückständen zu erarbeiten. "Für einen Teil der Kinder und Jugendlichen wäre ein Zusatzjahr mit Sicherheit die beste Option." Der Lehrerverband hatte schon mehrfach ein solches freiwilliges Zusatzjahr vorgeschlagen, das nicht als Sitzenbleiben gewertet wird.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) befürchtet durch die Situation eine zunehmende soziale Spaltung. Unzureichende digitale Infrastruktur und Lehrkräftemangel träfen gerade Kinder aus ohnehin benachteiligten Elternhäusern besonders, sagte Gewerkschaftschefin Marlis Tepe der dpa. Sie fügte aber auch hinzu, dass viele Schulen den Lockdown gut gemeistert hätten. "Schon heute von einer "verlorenen Generation" zu sprechen, wird der Realität nicht gerecht: Das wirkliche Leben ist komplexer."

Mit Blick auf das weitere Vorgehen an den Schulen sagte Tepe, mehrheitlich hielten die Lehrkräfte den Wechselunterricht für ein gutes Modell. Dieser ermögliche es, Gesundheitsschutz für alle und das Recht der Kinder auf Bildung zusammenzubringen. Halbierte Schülerzahlen in den Klassen und feste Gruppen senkten das Infektionsrisiko. "Gleichzeitig können die Lehrerinnen und Lehrer regelmäßig Kontakt zu allen Schülerinnen und Schülern halten." So könnten weitere Benachteiligungen von Kindern und Jugendlichen, die im Elternhaus nicht die nötige Unterstützung bekämen, verhindert werden.

Meidinger forderte ein regionales Vorgehen, allerdings nach einem bundesweit gültigen Stufenplan. Dieser müsse an die Inzidenzen vor Ort gekoppelt sein und regeln, ab welchen Werten welcher Unterrichtsbetrieb möglich sei. Ein einheitliches Vorgehen im ganzen Land lehnt er ab: "Warum soll man in Regensburg bei Inzidenz 25 die Schulen nicht stufenweise öffnen dürfen, weil er landesweit noch über 50 und in Hof über 300 ist?"


Mehr zum Thema:  

Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Zu Weihnachten Zukunft schenken

Gerade zu Weihnachten wünschen sich viele Menschen, etwas von ihrem Glück zu teilen und sich für diejenigen zu engagieren, die es nicht...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Kampf gegen Monopole: Europas Schlüsselrolle im Kampf gegen Big Tech und für den Klimaschutz
21.12.2024

Teresa Ribera steht vor einer gewaltigen Herausforderung. Die sozialistische Vizepremierministerin Spaniens wurde im September von der...

DWN
Finanzen
Finanzen US-Börsen: Eine Erinnerung an ausreichend Risikokontrolle
21.12.2024

Die vergangene Woche brachte einen deutlichen Ausverkauf an den Aktienmärkten, der von Experten als gesunde Entwicklung gewertet wird....

DWN
Finanzen
Finanzen Nach Trumps missglücktem Finanztrick: Stillstand der US-Regierung doch noch abgewendet
21.12.2024

Der US-Kongress hat einen drohenden Stillstand der Regierungsgeschäfte im letzten Moment abgewendet. Nach dem Repräsentantenhaus...

DWN
Panorama
Panorama Magdeburg: Anschlag auf Weihnachtsmarkt - vier Tote, zahlreiche Verletzte - Verdächtiger ist verwirrter Islam-Gegner
21.12.2024

Einen Tag nach der tödlichen Attacke auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg sitzt der Schock tief. Erste Details zum Tatverdächtigen werden...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Griechenlands Wirtschaft boomt: Erfolgreiche Steuerreformen und starke Investitionen treiben den Aufschwung
21.12.2024

Griechenlands Wirtschaft überrascht: Für 2025 erwartet das Land einen Haushaltsüberschuss von 13,5 Milliarden Euro – mehr als doppelt...

DWN
Panorama
Panorama Winterurlaub in Gefahr: Weniger Gäste in den Alpen erwartet
21.12.2024

Die Alpenregion, ein traditionell beliebtes Ziel für Wintersport und Erholung, steht in der neuen Saison vor Herausforderungen. Weniger...

DWN
Finanzen
Finanzen Quality Investing: Von der Kunst des klugen Investierens
21.12.2024

Luc Kroeze, Autor des Buches „Die Kunst des Quality Investing“, erläutert im Gespräch mit den Deutschen Wirtschaftsnachrichten, wie...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Unsicherheit für PCK: Verkauf der Shell-Anteile gescheitert
20.12.2024

Das Scheitern des Verkaufs der Shell-Anteile an der Schwedter Raffinerie erschüttert den Standort. Wieder bleibt die Zukunft unklar. Nun...