Politik

Lagebericht Afghanistan: Taliban eröffnen Großoffensive in mehreren Provinzen

Die Taliban haben eine Großoffensive in mehreren Teilen Afghanistans eingeleitet.
04.05.2021 14:37
Aktualisiert: 04.05.2021 14:37
Lesezeit: 4 min
Lagebericht Afghanistan: Taliban eröffnen Großoffensive in mehreren Provinzen
Sommer 2019: Afghanische Sicherheitskräfte im Kampf gegen Taliban in der Provinz Helmand. (Foto: dpa) Foto: Watan Yar

Wenige Tage nach dem offiziellen Beginn des Abzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan dauern die Gefechte in dem Krisenland weiter an. Die aufständischen Taliban griffen in der Nacht zu Dienstag erneut in mehreren Provinzen die Sicherheitsgürtel rund um Provinzhauptstädte oder Kontrollpunkte und Militärbasen an. Verlässliche Angaben zu Opfern gab es zunächst nicht.

In Helmand im Süden des Landes werde seit drei Tagen gekämpft, sagte der Provinzrat Ataullah Afghan. Mindestens zehn Kontrollposten nahe der Provinzhauptstadt Laschkargah seien an die Taliban gefallen. Spezialkräfte seien mittlerweile vor Ort, auch die afghanische Luftwaffe habe in mehreren Bezirken der Provinz Taliban-Stellungen bombardiert. Den Islamisten seien so Verluste zugefügt geworden. Aus dem Flüchtlingsministerium hieß es, rund Tausend Familien seien vor den Kämpfen geflohen.

In Baghlan im Norden des Landes griffen Taliban eine große Militärbasis im Bezirk Baghlan-e Markasi an. Mindestens neun Sicherheitskräfte seien dabei ums Leben geommen, sagten Provinzräte am Dienstag. Die Islamisten hätten die Basis komplett zerstört.

Provinzräten aus Kabul zufolge gab es zudem die vierte Nacht infolge heftige Gefechte rund um und in der Provinzhauptstadt Kalat. Teils konnten die Angriffe von den Sicherheitskräften abgewehrt werden, mindestens zwei Kontrollpunkte aber seien an die Taliban gefallen.

Angriffe auch im Westen

Bei mehreren Angriffen islamistischer Talibankämpfer im Westen Afghanistans waren am Sonntag mindestens 15 Sicherheitskräfte getötet worden. Mindestens sieben Soldaten starben bei einem Anschlag auf einen Außenposten der Armee im Dorf Schiwan im Distrikt Balak Buluk, wie am Montag der Gouverneur der Provinz Farah, Tadsch Mohammad Dschahid, der Deutschen Presse-Agentur sagte.

Die Extremisten hatten demnach einen Tunnel zu dem Posten gegraben und darunter Sprengstoff gelegt. Ein Soldat sei bei dem Angriff gefangen genommen worden, mehrere weitere hätten zum nächstgelegenen Armeestützpunkt fliehen können. Die Taliban bekannten sich zu dem Anschlag und gaben an, am Checkpoint Waffen an sich genommen zu haben.

Unterdessen griffen mehr als 100 Taliban-Kämpfer in der Nacht zum Montag den Bezirk Farsi in der Provinz Herat an und zündeten zwei Autobomben. Bei den Zusammenstößen seien mindestens acht Sicherheitskräfte der Regierung getötet und mindestens vier weitere verletzt worden, sagte ein örtlicher Sicherheitsbeamter, der anonym bleiben wollte, der dpa. Es fehle an Munition, sagte er - und gab an, die Taliban könnten in der folgenden Nacht wieder angreifen.

Parallel zum Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan, der am Samstag offiziell begonnen hatte, bleibt die Lage in dem Krisenland angespannt. Mitte April hatte US-Präsident Joe Biden erklärt, er werde ab 1. Mai die Truppen nach Hause holen. Rund 10 000 Nato-Soldaten der Ausbildungsmission «Resolute Support», darunter rund 2500 Soldaten aus den USA und rund 1100 aus Deutschland, werden nun bis spätestens 11. September das Land verlassen. Das Datum markiert den 20. Jahrestag der Terroranschläge in den USA von 2001, die der Anlass für den Einsatz waren.

Experte: Auch Al-Kaida könnte von US-Abzug profitieren

Zehn Jahre nach dem Tod von Al-Kaida-Chef Osama bin Laden warnt der Terrorexperte Guido Steinberg vor einem möglichen Wiederaufstieg der Dschihadisten. Nach dem geplanten US-Abzug aus Afghanistan werde es schwer, die Extremisten dort zu bekämpfen, sagte der Mitarbeiter der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) der Deutschen Presse-Agentur. Zudem hätten die militant-islamistischen Taliban keinen Grund, ihr Bündnis mit Al-Kaida aufzugeben. Vielmehr sei davon auszugehen, dass sich die Taliban in Afghanistan durchsetzten. «Das könnte zu einem Weckruf für Dschihadisten weltweit werden.»

Steinberg sagte, der Tod Bin Ladens sei ein «Epochendatum in der Geschichte des islamistischen Terrorismus» gewesen. Der Verlust des Anführers habe den Niedergang Al-Kaidas besiegelt. Sein Nachfolger Aiman al-Sawahiri erziele vor allem auf die junge Generation der Dschihadisten kaum noch Wirkung. Zuletzt hatte es auch Gerüchte gegeben, Al-Sawahiri sei nicht mehr am Leben. Zudem waren in den vergangenen Jahren mehrere hohe Al-Kaida-Anführer getötet worden.

Viele junge Dschihadisten seien heute orientierungslos, erklärte Steinberg. Wenn die Taliban sich in Afghanistan nach dem US-Abzug durchsetzen und das «klug» spielten, könnten sie in der Lage sein, Dschihadisten aus der ganzen Welt in das Land zu holen. Es sei jedoch nicht davon auszugehen, dass Al-Kaida in den nächsten Jahren in der Lage sei, international einen großen Anschlag zu verüben.

Biden hatte Mitte April angekündigt, die US-Truppen fast 20 Jahre nach Beginn des internationalen Militäreinsatzes aus Afghanistan abzuziehen. Sie sollen das Land bis zum 11. September dieses Jahres verlassen. Die Bundeswehr will ihre dort stationierten 1100 Soldaten bis Mitte August zurück nach Deutschland holen.

Biden betonte am Sonntag, Al-Kaida sei durch den Militäreinsatz in Afghanistan enorm geschwächt. Aber die Vereinigten Staaten blieben wachsam mit Blick auf mögliche Bedrohungen aus Afghanistan oder mögliche Bedrohungen durch terroristische Gruppen, die sich anderswo auf der Welt ausgebreitet hätten.

In einem UN-Bericht von Mai 2020 heißt es, die Führungsriege von Al-Kaida sei weiter in Afghanistan präsent. Insgesamt sei das Terrornetzwerk in zwölf der 34 afghanischen Provinzen aktiv. Informationen deuteten darauf hin, dass Al-Kaida in Afghanistan still und heimlich an Stärke gewinne. Die Beziehungen zwischen den Taliban und der Organisation sind demnach weiter eng. Die Taliban hatten sich im Februar 2020 in einem Abkommen mit den USA eigentlich dazu verpflichtet, ihre Zusammenarbeit mit Al-Kaida zu kappen.

Steinberg erklärte, insgesamt sei die internationale Dschihad-Szene heute viel stärker zersplittert. Es sei wichtig, auf deren regionale Ableger zu schauen. Al-Kaida sei etwa in Syrien stark und könne dort bis zu 12 000 Kämpfer mobilisieren. Ableger des Terrornetzwerks sind auch im Jemen, in Libyen, in Somalia sowie in Westafrika aktiv.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Technologie
Technologie Erkennen Sie schnell instabile Li-Ion-Batterien

Brady Corporation bietet eine neue, kostengünstigere Lösung an, um instabile Li-Ion-Batterien im Lager schnell und einfach zu erkennen....

DWN
Unternehmen
Unternehmen KI-Betrug: Nur 22 Prozent der Unternehmen schützen sich
24.01.2025

KI-Betrug wird 2025 zur größten Bedrohung für Unternehmen. Deepfakes und andere KI-gestützte Betrugstechniken nehmen in Deutschland und...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Fachkräftemangel hausgemacht? Zu viele Akademiker, zu wenig Azubis - Deutschland braucht eine Reform der Berufsausbildung
24.01.2025

Zu viele Jugendliche studieren, zu wenige streben in die Ausbildung. Die Unternehmen sehen einen Veränderungsbedarf bei der...

DWN
Technologie
Technologie Atomkraft-Comeback? Weltweiter Run auf Kernenergie laut IEA
23.01.2025

"Neue Ära der Kernenergie": Die Internationale Energieagentur (IEA) prognostiziert einen wachsenden Strombedarf weltweit und ruft...

DWN
Technologie
Technologie Rätselhafte ChatGPT-Störung verärgert tausende Nutzer
23.01.2025

Derzeit kommt es zu massiven Störungen bei der Nutzung des ChatGTP-Bots. Nutzer rätseln derweil über die Ursachen der Panne. Das...

DWN
Politik
Politik "Das Maß ist endgültig voll": Merz will nach Aschaffenburg Asyl-Kehrtwende
23.01.2025

Nach dem tödlichen Angriff auf eine Kita-Gruppe in Aschaffenburg verlangt der CDU-Chef fundamentale Änderungen in der Migrationspolitik....

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Europas Wachstumslokomotive: Wie Spanien zum Wachstums-Star wird
23.01.2025

Wachstums-Star Spanien: Während Deutschlands Wirtschaft stagniert, erlebt Spanien ein beeindruckendes Comeback. Dank Rekorden im...

DWN
Politik
Politik Merz will TV-Duell mit Alice Weidel: "Gehe der Diskussion nicht aus dem Weg"
23.01.2025

Kanzlerkandidat Friedrich Merz will ein TV-Duell mit AfD-Chefin Alice Weidel. Der CDU-Vorsitzende möchte die "fundamentalen Unterschiede"...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Wirtschaftskrise: Deutschland hinkt bei Investitionen global hinterher - und verliert an Wettbewerbsfähigkeit
23.01.2025

Ob Wohnungsbau, Maschinen oder Forschung: Deutschland bleibt bei den Investitionen hinter anderen Ländern zurück, zeigt eine neue...