Eine der wichtigsten Herausforderungen für US-Präsident Joe Biden ist die Lage in Afghanistan. Dort sind die Taliban wieder auf dem Vormarsch, und ihr Mord- und Terrorfeldzug eskaliert immer mehr, seitdem sie letztes Jahr mit der Regierung von Donald Trump ein Abkommen schlossen, das einen vollständigen Rückzug des US-Militärs sowie die Teilung der Macht in Kabul (zwischen den Taliban und einer demokratisch gewählten Regierung – Anm. d. Red.) vorsieht. Bidens politischer Kurs wird nicht nur über das Schicksal Afghanistans entscheiden, sondern auch über die regionale Sicherheit, den Krieg gegen den Terror und Amerikas internationalen Ruf – in einer Zeit, in der dieser Ruf zweifellos bereits erheblich gelitten hat.
Die Kehrtwende der Vereinigten Staaten begann im Februar 2020. Um Afghanistan zu verlassen und die Angelegenheit beenden zu können, schloss Trump ein „Friedensabkommen“ mit den Taliban – also genau derselben Terrormiliz, die durch den Einmarsch der USA nach dem 11. September 2001 entmachtet worden war. Trumps faustischer Pakt, der hinter dem Rücken der gewählten afghanischen Regierung stattfand, verleiht den Taliban nun erneute Legitimität. Die Zunahme terroristischer Gewalt seitdem zeigt, wie wenig Afghanistan von dem Abkommen - einem Abkommen zwischen den USA und blutrünstigen Terroristen, das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen - profitiert hat.
Einen langen und vergeblichen Krieg zu beenden, der über 800 Milliarden Dollar gekostet hat und dem 2.218 US-amerikanische Soldaten zum Opfer gefallen sind, machte für Amerika in gewisser Weise durchaus Sinn. Aber: Letztlich hat Trump Afghanistan den Terroristen und ihren pakistanischen Förderern und Geldgebern überlassen. Pakistans allmächtiges Militär hat die Taliban einst ins Leben gerufen, beherbergt immer noch ihre Führungsspitze und bietet ihren Kämpfern grenzüberschreitende Schutzzonen. Der größte Profiteur eines Abkommens, dass droht, Afghanistan in einen schwachen, beliebig durch Pakistan beeinflussbaren Nachbarn zu verwandeln, wäre das pakistanische Militär.
Trotzdem hat Biden das von Trump geschlossene Abkommen rasch akzeptiert und Zalmay Khalilzad als US-Sonderbeauftragten für die afghanische Versöhnung im Amt gelassen. Der in Afghanistan geborene Khalilzad, der schon lange die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt, hat enge Verbindungen zu den Taliban, aber Probleme damit, einen Draht zur afghanischen Regierung zu finden.
Die hektischen Bemühungen der Biden-Regierung, eine afghanische Einigung zu erreichen, um den Rückzugstermin vom 1. Mai einzuhalten, werden durch den kürzlich durchgestochenen Entwurf eines Friedensvorschlags verdeutlicht. Laut dieses Vorschlags soll der afghanische Präsident Ashraf Ghani durch eine neue Übergangsregierung ersetzt werden, in der die Taliban die Hälfte aller Posten bekommen. In einem Brief an Ghani hat ihn US-Außenminister Antony Blinken gedrängt, einen „Plan für eine neue, inklusive Regierung“ und eine neue Verfassung zu entwickeln. Er fügte hinzu, er wolle die islamistische Regierung der Türkei bitten, ein Treffen zwischen der afghanischen Regierung und Vertretern der Taliban auszurichten, „um einen Friedensvertrag abzuschließen“. Der entschiedene Ton des Briefs veranlasste den afghanischen Vizepräsidenten Amrullah Saleh bereits zu der Aussage, Afghanistan werde „niemals einen aufoktroyierten und bevormundenden Frieden akzeptieren“.
Bidens Regierung muss eine zentrale Frage beantworten: Wie kann eine Terrorgruppe Teil einer Regierung sein, wenn sie immer noch einen militärischen Sieg anstrebt und erneut eine brutale, theokratische Herrschaft einführen will? Um sich die absolute Macht über Afghanistan sichern zu können, warten die Taliban nun einfach auf den Abzug der Amerikaner, was ihre Verzögerungstaktik bei den Machtteilungs-Gesprächen mit der afghanischen Regierung erklärt.
Jetzt, wo die US-Strategie zu scheitern droht, sagt Biden, der Termin zum ersten Mai werde „schwer einzuhalten sein“, aber er könne sich „nicht vorstellen“, dass im nächsten Jahr immer noch amerikanische Truppen in Afghanistan stationiert seien. Zieht Biden alle US-Truppen vor 2022 ab, ist es wahrscheinlich, dass er Zeuge einer terroristischen Übernahme Afghanistans wird. In der Tat werden die Taliban Bidens Aussage als Bestätigung dafür sehen, dass sie bis zu ihrer Eroberung Kabuls nur noch ein paar Monate abwarten müssen.
Die Diskussion in den USA darüber, ob Al-Kaida nach einem amerikanischen Abzug in Afghanistan dort wieder eine Basis für seine Greultaten errichten kann oder ob der Islamische Staat (IS) seinen Einfluss dort vergrößern wird, ist müßig – sie ignoriert die Tatsache, dass der islamistische Terrorismus eine selbstorganisierende ideologische Bewegung ist, die diverse dschihadistische Gruppen vereint, ohne dafür koordinierte Aktionen zu erfordern. Die Taliban-Miliz mag zwar keine globale Mission verfolgen, aber sie ist ein wichtiges Glied in einer internationalen dschihadistischen Bewegung, die die Feindschaft gegen nicht-sunnitische Muslime mit gewalttätiger Ablehnung der Moderne verbindet.
Zwingen die Taliban die Amerikaner zum Abzug und erobern sie Kabul, würden sie damit auch dschihadistische Gruppen anderswo zu verstärktem Terror inspirieren. Durch die Wahrnehmung, Dschihadisten hätten die mächtigste Armee der Welt vertrieben, würde der Glauben verstärkt, die amerikanische Macht befinde sich in einem unumkehrbaren Niedergang. Einfach ausgedrückt, der Griff der Taliban nach der absoluten Macht in Afghanistan wäre für die freie Welt eine größere dschihadistische Bedrohung als durch jede andere Gruppe – einschließlich Al-Kaida oder des verbleibenden IS.
Um dies zu verhindern, müssen die USA Streitkräfte in Afghanistan behalten, um dem afghanischen Militär weiterhin Unterstützung und Schutz aus der Luft bieten zu können – ebenso wie logistische Hilfe für die etwa 7.000 Soldaten der NATO und der Alliierten. Nachdem auf dem Höhepunkt des Krieges etwa 100.000 US-Soldaten im Land waren, sind es jetzt nur noch 2.500. Seit dem Ende der US-Kampfrolle sind Amerikas finanzielle Kosten und Opferzahlen dramatisch zurückgegangen. In den letzten 14 Monaten hatten sie keinerlei Tote mehr zu beklagen.
Biden muss sich entscheiden: Entweder plant er einen völligen US-Rückzug, der auf jeden Fall Chaos verursachen und den afghanischen Staat untergraben könnte, oder er behält eine kleine stationäre Truppe im Land, um zu verhindern, dass Afghanistan in einen Bürgerkrieg abrutscht und zu einem terroristischen Knotenpunkt wird. Mit der ersten Möglichkeit wäre er weit davon entfernt, Amerika einen gesichtswahrenden Ausstieg aus einem zwanzigjährigen Krieg zu verschaffen. Stattdessen würde er zu einem Komplizen der Taliban, die, wenn sie Afghanistan kontrollieren, den Interessen fast aller Länder auf dieser Welt massiv schaden.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
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