Politik

Nach US-Abzug aus Afghanistan: Taliban könnten noch dieses Jahr Kabul einnehmen

Die Taliban treiben ihren schnellen Vormarsch weiter voran. Nach russischen Angaben haben sie die Kontrolle über Afghanistans Grenzen zur früheren Sowjetunion übernommen. Nun rückt die Hauptstadt Kabul in Reichweite.
11.08.2021 14:49
Aktualisiert: 11.08.2021 14:49
Lesezeit: 2 min
Nach US-Abzug aus Afghanistan: Taliban könnten noch dieses Jahr Kabul einnehmen
Ein Taliban-Kämpfer sitzt am Mittwoch neben seinen Waffen. (Foto: dpa) Foto: Mohammad Asif Khan

Mit der Eroberung einer weiteren strategisch wichtigen Provinzhauptstadt treiben die radikal-islamischen Taliban ihren Vormarsch im Norden Afghanistans voran und schüren die Furcht vor einem Übergreifen des Konflikts auf Nachbarstaaten. Am Mittwoch übernahmen die Aufständischen nach heftigen Kämpfen die Stadt Faisabad, wie ein Vertreter der an Pakistan, China und Tadschikistan grenzenden Provinz Badachschan mitteilte. Die Taliban kontrollierten somit nun bereits den gesamten Nordosten, sagte er. Nach russischen Angaben gilt dies auch für die Grenzen zu den früheren Sowjetrepubliken Tadschikistan und Usbekistan.

Gekämpft wurde zudem in zahlreichen anderen Landesteilen, wie das Verteidigungsministerium in Kabul mitteilte, darunter in Fara im Westen nahe der Grenze zum Iran. 431 Aufständische seien getötet worden. Zu Opfern aufseiten der afghanischen Truppen wurden keine Angaben gemacht.

Der US-Geheimdienst hält einen raschen weiteren Vormarsch der Taliban für möglich. Aus Kreisen des Verteidigungsministeriums verlautete, einer neuen Einschätzung zufolge könnten die Kämpfer die Hauptstadt Kabul binnen 30 Tagen isolieren und binnen 90 Tagen einnehmen. Diese Entwicklung sei aber nicht zwangsläufig. Die Sicherheitskräfte der Regierung könnten mit einem entschlosseneren Entgegentreten für eine Wende sorgen, hieß es.

Unterdessen machen Deutschland und die Niederlande eine Kehrtwende und setzen Abschiebungen in das Land am Hindukusch vorläufig aus. Bundesinnenminister Horst Seehofer habe sich für den Abschiebestopp "aufgrund der aktuellen Entwicklungen der Sicherheitslage entschieden", teilte sein Sprecher auf Twitter mit.

Faisabad ist innerhalb von sechs Tagen bereits die achte Provinzhauptstadt, die dem Ansturm der Taliban nicht standhalten konnte. Nach stundenlangen heftigen Gefechten hätten sich die afghanischen Sicherheitskräfte "leider zurückgezogen", sagte Dschawad Mudschadidi, der im Provinzrat von Badachschan sitzt. Die Taliban haben seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im Mai in immer mehr Gebieten die Vorherrschaft übernommen, darunter auch in Kundus, wo wie in Faisabad jahrelang Bundeswehr-Soldaten stationiert waren. Am Dienstag hatte ein ranghoher Vertreter der Europäischen Union gesagt, 65 Prozent des Landes stünden unter Kontrolle der Taliban.

PRÄSIDENT GHANI HOFFT AUF HILFE VON MILIZEN

Der Norden des Landes galt jahrelang als vergleichsweise friedliche Gegend in Afghanistan. Selbst als die Taliban das Land von 1996 bis 2001 beherrschten, unterlag ihnen die Gegend niemals vollständig. Nun aber wird befürchtet, dass sie ihre Präsenz in der Region festigen wollen, um dann von dort aus auf Kabul vorzustoßen.

Im Fokus dürfte dabei Masar-i-Scharif stehen. Sollte auch die Wirtschaftsmetropole des Nordens fallen, wäre das für die Regierung einer der schwersten Rückschläge bei ihrem Versuch, Afghanistan nicht an die Aufständischen zu verlieren. Präsident Aschraf Ghani wurde in der Stadt erwartet, um vor Ort mit einflussreichen und regierungsfreundlichen Milizenchefs zu besprechen, wie Masar-i-Scharif gehalten und die anderen Gebiete zurückerobert werden könnten.

Ungeachtet dessen befindet sich der Abzug der internationalen Truppen in den letzten Zügen. Die USA, die das mit Abstand wichtigste Truppenkontingent stellten und zusammen mit einer von ihnen angeführten Militärallianz die Taliban nach den Anschlägen vom 11. September gestürzt hatten, wollen noch im August den Abzug ihrer Soldaten abschließen. Die Bundeswehr hat ihren Einsatz bereits beendet. Die Taliban haben zugesagt, Afghanistan nicht zu einem Hafen für Terroristen werden zu lassen und wollen Angriffe auf ausländische Soldaten während des Abzugs unterlassen.

Die Taliban hätten auch versprochen, die Grenzen zu Tadschikistan und Usbekistan nicht zu überschreiten, zitierte die Zeitung "Kommersant" den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Moskau werde aber weiterhin Militärübungen mit seinen Verbündeten in der Region abhalten. Nach dem raschen Vorrücken der Taliban hielten Russland, Usbekistan und Tadschikistan gemeinsame Manöver in der Nähe der afghanischen Grenze ab. Russland rüstete zudem seinen Militärstützpunkt in Tadschikistan mit Waffen und neuen gepanzerten Fahrzeugen auf. Die beiden Länder gehören einem Militärbündnis an. Sollte es zu einer Invasion in Tadschikistan kommen, wäre Russland zum Beistand verpflichtet.

Die Sowjetunion hatte Afghanistan zwischen 1979 und 1989 besetzt. 15.000 ihrer Soldaten wurden getötet, Zehntausende verletzt.

Mehr zum Thema:

Nach US-Rückzug aus Afghanistan: Putin ist der neue starke Mann in der Region - und kommt Biden mit großzügiger Geste entgegen

Russland verstärkt zentralasiatische Militärbasis nahe Afghanistan

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN-Wochenrückblick

Weniger E-Mails, mehr Substanz: Der DWN-Wochenrückblick liefert 1x/Woche die wichtigsten Themen kompakt und Podcast. Für alle, deren Postfach überläuft.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

DWN
Panorama
Panorama DWN-Wochenrückblick KW 52: Die wichtigsten Analysen der Woche
28.12.2025

Im DWN Wochenrückblick KW 52 fassen wir die zentralen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen der vergangenen Woche zusammen....

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Jahreswagen, Vorführwagen, Tageszulassung: So sparen Sie beim Autokauf
28.12.2025

Wer beim Auto kaufen sparen will, muss nicht zwingend zum alten Gebrauchten greifen. Jahreswagen, Vorführwagen und Tageszulassung wirken...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Föderale Modernisierungsagenda: 200-Punkte-Programm für Bürokratieabbau – ist das der große Wurf?
28.12.2025

Bund und Länder haben ein Paket beschlossen, das den Staat schlanker und schneller machen soll. Über 200 Maßnahmen zielen auf Bürger,...

DWN
Politik
Politik Steuern, Deutschlandticket, Musterung – die Änderungen 2026 im Überblick
27.12.2025

2026 bringt spürbare Änderungen bei Lohn, Rente, Steuern und Alltag. Manche Neuerungen entlasten, andere verteuern Mobilität oder...

DWN
Panorama
Panorama Keine Monster, keine Aliens: Prophezeiungen für 2025 erneut widerlegt
27.12.2025

Düstere Visionen und spektakuläre Vorhersagen sorgen jedes Jahr für Schlagzeilen – doch mit der Realität haben sie meist wenig zu...

DWN
Unternehmen
Unternehmen E-Mail-Betrug im Mittelstand: Die unterschätzte Gefahr im Posteingang – und welche Maßnahmen schützen
27.12.2025

E-Mail-Betrug verursacht im Mittelstand mehr Schäden als Ransomware. Stoïk, ein auf Cybersecurity spezialisiertes Unternehmen, zeigt,...

DWN
Technologie
Technologie China überholt Europa: Wie europäische Energieprojekte den Aufstieg befeuerten
27.12.2025

Europa hat in den vergangenen Jahrzehnten erheblich zum Aufbau der chinesischen Industrie beigetragen, ohne die langfristigen Folgen zu...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Hoffnung auf den Aufschwung: Kann 2026 die Wirtschaftswende bringen?
27.12.2025

Nach mehreren Jahren der Stagnation und anhaltend schlechter Stimmung in vielen Branchen richtet sich der Blick der deutschen Wirtschaft...