Mit der Eroberung einer weiteren strategisch wichtigen Provinzhauptstadt treiben die radikal-islamischen Taliban ihren Vormarsch im Norden Afghanistans voran und schüren die Furcht vor einem Übergreifen des Konflikts auf Nachbarstaaten. Am Mittwoch übernahmen die Aufständischen nach heftigen Kämpfen die Stadt Faisabad, wie ein Vertreter der an Pakistan, China und Tadschikistan grenzenden Provinz Badachschan mitteilte. Die Taliban kontrollierten somit nun bereits den gesamten Nordosten, sagte er. Nach russischen Angaben gilt dies auch für die Grenzen zu den früheren Sowjetrepubliken Tadschikistan und Usbekistan.
Gekämpft wurde zudem in zahlreichen anderen Landesteilen, wie das Verteidigungsministerium in Kabul mitteilte, darunter in Fara im Westen nahe der Grenze zum Iran. 431 Aufständische seien getötet worden. Zu Opfern aufseiten der afghanischen Truppen wurden keine Angaben gemacht.
Der US-Geheimdienst hält einen raschen weiteren Vormarsch der Taliban für möglich. Aus Kreisen des Verteidigungsministeriums verlautete, einer neuen Einschätzung zufolge könnten die Kämpfer die Hauptstadt Kabul binnen 30 Tagen isolieren und binnen 90 Tagen einnehmen. Diese Entwicklung sei aber nicht zwangsläufig. Die Sicherheitskräfte der Regierung könnten mit einem entschlosseneren Entgegentreten für eine Wende sorgen, hieß es.
Unterdessen machen Deutschland und die Niederlande eine Kehrtwende und setzen Abschiebungen in das Land am Hindukusch vorläufig aus. Bundesinnenminister Horst Seehofer habe sich für den Abschiebestopp "aufgrund der aktuellen Entwicklungen der Sicherheitslage entschieden", teilte sein Sprecher auf Twitter mit.
Faisabad ist innerhalb von sechs Tagen bereits die achte Provinzhauptstadt, die dem Ansturm der Taliban nicht standhalten konnte. Nach stundenlangen heftigen Gefechten hätten sich die afghanischen Sicherheitskräfte "leider zurückgezogen", sagte Dschawad Mudschadidi, der im Provinzrat von Badachschan sitzt. Die Taliban haben seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im Mai in immer mehr Gebieten die Vorherrschaft übernommen, darunter auch in Kundus, wo wie in Faisabad jahrelang Bundeswehr-Soldaten stationiert waren. Am Dienstag hatte ein ranghoher Vertreter der Europäischen Union gesagt, 65 Prozent des Landes stünden unter Kontrolle der Taliban.
PRÄSIDENT GHANI HOFFT AUF HILFE VON MILIZEN
Der Norden des Landes galt jahrelang als vergleichsweise friedliche Gegend in Afghanistan. Selbst als die Taliban das Land von 1996 bis 2001 beherrschten, unterlag ihnen die Gegend niemals vollständig. Nun aber wird befürchtet, dass sie ihre Präsenz in der Region festigen wollen, um dann von dort aus auf Kabul vorzustoßen.
Im Fokus dürfte dabei Masar-i-Scharif stehen. Sollte auch die Wirtschaftsmetropole des Nordens fallen, wäre das für die Regierung einer der schwersten Rückschläge bei ihrem Versuch, Afghanistan nicht an die Aufständischen zu verlieren. Präsident Aschraf Ghani wurde in der Stadt erwartet, um vor Ort mit einflussreichen und regierungsfreundlichen Milizenchefs zu besprechen, wie Masar-i-Scharif gehalten und die anderen Gebiete zurückerobert werden könnten.
Ungeachtet dessen befindet sich der Abzug der internationalen Truppen in den letzten Zügen. Die USA, die das mit Abstand wichtigste Truppenkontingent stellten und zusammen mit einer von ihnen angeführten Militärallianz die Taliban nach den Anschlägen vom 11. September gestürzt hatten, wollen noch im August den Abzug ihrer Soldaten abschließen. Die Bundeswehr hat ihren Einsatz bereits beendet. Die Taliban haben zugesagt, Afghanistan nicht zu einem Hafen für Terroristen werden zu lassen und wollen Angriffe auf ausländische Soldaten während des Abzugs unterlassen.
Die Taliban hätten auch versprochen, die Grenzen zu Tadschikistan und Usbekistan nicht zu überschreiten, zitierte die Zeitung "Kommersant" den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Moskau werde aber weiterhin Militärübungen mit seinen Verbündeten in der Region abhalten. Nach dem raschen Vorrücken der Taliban hielten Russland, Usbekistan und Tadschikistan gemeinsame Manöver in der Nähe der afghanischen Grenze ab. Russland rüstete zudem seinen Militärstützpunkt in Tadschikistan mit Waffen und neuen gepanzerten Fahrzeugen auf. Die beiden Länder gehören einem Militärbündnis an. Sollte es zu einer Invasion in Tadschikistan kommen, wäre Russland zum Beistand verpflichtet.
Die Sowjetunion hatte Afghanistan zwischen 1979 und 1989 besetzt. 15.000 ihrer Soldaten wurden getötet, Zehntausende verletzt.
Russland verstärkt zentralasiatische Militärbasis nahe Afghanistan