Politik

Die DWN decken auf: Das sind die wahren Schuldigen am deutschen Debakel in Afghanistan

Lesezeit: 7 min
22.08.2021 12:51
Die Presse spekuliert darüber, wer verantwortlich ist für das chaotische Ende von Deutschlands Engagement in Afghanistan. Nicht so die DWN: Sie interviewt einen Experten - und der gibt eindeutige Antworten.
Die DWN decken auf: Das sind die wahren Schuldigen am deutschen Debakel in Afghanistan
Da war die deutsche Welt in Afghanistan noch in Ordnung: Vor auf den Tag fast genau zehn Jahren, am 21. August 2011, holen deutsche Polizeibeamte, die afghanische Polizisten schulen, am Ende eines Arbeitstages die deutsche Flagge ein. (Foto: dpa)

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die Taliban haben Kabul eingenommen, die Bundesregierung gibt sich überrascht. Ist sie diesbezüglich vom BND schlecht unterrichtet worden, wie vielerorts kolportiert wird?

Jörg Barandat: Kabul fällt, und in Berlin geht das „Schwarzer-Peter-Spiel“ los. Diesmal sind das Bauernopfer die Nachrichtendienste: „Bauernopfer“ sage ich, weil die von den Diensten gelieferten Daten und Fakten – anders als behauptet und immer wieder in der Presse wiederholt - korrekt waren. Der Fehler liegt bei den Ministerien. Ihnen obliegt es, die Berichte (die übrigens, wenn sie gut sind, nicht einseitig sind, sondern möglichst unterschiedliche Entwicklungen aufzeigen) politisch und militärisch zu bewerten, das heißt - auf Grundlage der Zuarbeit der Dienste, Ämter und Kommandos - die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen und den außenpolitischen Entscheidungsträgern Handlungsempfehlungen zu geben. Aufgabe der Ministerien ist es unter anderem, Worst-Case-Szenarien durchzuspielen, Eintrittswahrscheinlichkeiten zu berechnen, Vor- und Nachteile bei verschiedenen Handlungsoptionen gegeneinander abzuwägen, Risiken abzuschätzen, mögliche Lösungsansätze vorzuschlagen, etc. Nun muss man sich allgemein und muss man sich speziell im Hinblick auf die BND-Berichte aus Afghanistan fragen: Werden beziehungsweise wurden die Ergebnisse der in den Ministerien durchgeführten Analysen auch tatsächlich an die politische Leitung kommuniziert? Tatsache ist: Die verantwortlichen Referenten, die Referats- und Abteilungsleiter sind kompetente Leute. Aber: Die Ministerien machen sich schon Gedanken darüber, welche Ergebnisse sich die außenpolitischen Entscheidungsträger wünschen, auf gut Deutsch: Was diese Entscheidungsträger hören wollen. Und so geschieht es eben, dass harte, unangenehme, unpopuläre aber eben notwendige Maßnahmen tendenziell von den Ministerien nicht angemessen kommuniziert werden. Sie werden stattdessen zurechtgebogen, erhalten einen rosa-roten Anstrich, eine Nachsteuerung in Richtung Regierungslinie. Abweichendes Verhalten wird in den Ministerien eben tendenziell als störend empfunden und zieht ärgerlichen Rechtfertigungsdruck nach sich. Welcher Mitarbeiter will das über sich ergehen lassen?

Meine Vermutung: Vor den anstehenden Bundestagswahlen war eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit des Afghanistan-Einsatzes ebenso unerwünscht wie eine neue Flüchtlingsdiskussion. Indiz: Das jetzt plattensprungartige: „2015 darf sich nicht wiederholen.“ Also: Füße stillhalten, wird schon gut gehen! Allerdings sind Glaube und Hoffnung, die aus unterbewussten Traumata und Ängsten gespeist sind, keine guten Grundlagen für belastbare politische Konzepte und Entscheidungen. Der – nachdem es schief gegangen ist – regelmäßig aufgeführte „Getäuscht worden sein, nichts gewusst haben, ganz schrecklich betroffen sein“-Reigen ist ein mittlerweile erfolgserprobter Mechanismus zum Macht- und Statuserhalt nach Politikversagen, letztendlich auch, weil politische Verantwortungsträger vor einem Untersuchungsausschuss ungelogen aussagen können, sie hätten ja nichts gewusst ... sonst, ja sonst hätten sie das Richtige getan. Das Ganze hat also System.

Dass die afghanischen Streitkräfte über kurz oder spätestens etwas länger kapitulieren würden, war zu erwarten. Um das zu sehen, brauchte man keine Geheimdienstberichte. Wer es wissen wollte, konnte es in entsprechenden außen- und sicherheitspolitischen Veröffentlichungen und Foren sehr frühzeitig nachlesen. Zusammengefasst: Militärisch unterscheiden wir zum einen nach Kampfkraft, also: Personalstärke, Ausstattung, Waffen, Fahrzeuge, Kommunikationsmittel, etc., plus der hinter der Kampftruppe stehenden Kampfunterstützung: Aufklärung, Luftunterstützung, Artillerie, Logistik, Sanitätsversorgung, etc. Zum anderen nach dem Gefechtswert, also: Ausbildungsstand, Führung, Kampfmoral, innerer Zusammenhalt, soziale Versorgung als Voraussetzungen dafür, dass die Kampfkraft überhaupt wirksam werden kann. Kampfkraft lässt sich statistisch gut messen, da waren die afghanischen Streitkräfte durchschnittlich gar nicht so schlecht aufgestellt. Die Kampfunterstützungsleistungen allerdings wurden vor allem von den US-Streitkräften bereitgehalten und fielen nach ihrem Abzug weitgehend weg. Eine realistische Bewertung des Gefechtswerts ist nur möglich bei intensiver Beobachtung und in der Begleitung im Gefecht, was unseren Bundeswehr-Ausbildern ja verboten war. Dennoch wissen wir, dass dieser Gefechtswert bei den Einheiten und Verbänden der afghanischen Streitkräfte sehr unterschiedlich ausgeprägt war. Neben sehr niedrig zu bewertenden Einheiten gab es auch Einheiten mit sehr hohem Gefechtswert, die geführt wurden von afghanischen Kommandeuren, Offizieren und Unteroffizieren, die tatsächlich exzellent waren. Aber: Als diese Einheiten in der Krise ohne entsprechende Kampfunterstützung dastanden und der Gegner faire Behandlung und Amnestie anbot, ging auch dort der Widerstandswille rasch gen null.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wird es gelingen, westliche Staatsbürger und afghanische Helfer aus Kabul zu evakuieren? Wie läuft so eine Evakuierung ab, wie lange würde sie in Kabul dauern, welche kritischen Momente gibt es, und wer würde als letzter evakuiert werden?

Jörg Barandat: Militärische Evakuierungsoperationen sind das Anspruchsvollste, was einem militärischen Führer vor Ort abverlangt werden kann. Er muss in einem hoch dynamischen Chaos entscheiden und handeln. Solche Operationen sind mit extrem hohen Risiken verbunden, insbesondere unter Einkreisung und militärischem Druck durch den Gegner, und wenn dazu am Boden kein Korridor in sicheres Gebiet geöffnet werden kann. Die Sowjettruppen hatten also bei ihrem Abzug 1989 deutlich günstigere Rahmenbedingungen.

Der Flughafen Kabul liegt inmitten von Gewerbe- und Wohngebieten in einer nur nach Osten offenen Senke. Darüber müssen alle Flugzeuge ein- und ausfliegen. In diesen Phasen fliegen sie tief mit nur eingeschränkter Manövrierfähigkeit. Sie sind dort im Wirkungsbereich von Handfeuerwaffen, und selbst Kinderdrachen, Luftballons sowie Hobbydrohnen können sie schwer beschädigen, also Notlandungen erzwingen, was zum Verlust des – für die Evakuierung so dringend benötigten - Flugzeugs führt. Um solche Angriffe zu verhindern, muss mindestens ein Radius von sechs Kilometern um den Flughafen feindfrei sein, also mit eigenen Kräften besetzt werden. Wenn das nicht möglich ist, muss wenigstens mit Abstandswaffen - Mörser, Artillerie, Luftnahunterstützung, Kampfdrohnen – gegen den Feind gewirkt werden können, und ja: auch in Wohngebiete hinein. Flugfeld und Vorfeld müssen frei sein und dürfen nicht von unautorisierten Personen, Fahrzeugen und Gegenständen belegt sein. Um solche Rahmenbedingungen herzustellen, sind in einer ersten Phase zunächst zusätzliche Truppen und schwere Waffen einzufliegen und deren Folgeversorgung sicher zu stellen. Nach Abschluss der Evakuierung sind diese Truppen die letzten, die ohne eine dann noch bestehende Sicherung unter Zurücklassung allen Geräts ausgeflogen werden. Sie gehen also hohes Risiko, zu fallen oder in Gefangenschaft zu geraten.

Ich könnte hier noch weitere Details und Bedrohungs-Szenarien ausführen, meine aber schon ausreichend deutlich gemacht zu haben, dass die Taliban-Führung, wenn sie ein Interesse daran hätte, „den Westen“ zu demütigen, jetzt ohne irgendeinen Aufwand die beste Chance dazu hätte. Es wäre völlig ausreichend, Flashmobs auf dem Flughafen zuzulassen oder in der Anflugschneise ein Handwaffenschießen zu veranstalten, um jede Evakuierung unmöglich zu machen und in einem blutigen Chaos versinken zu lassen. Ganz offensichtlich hat die Taliban-Führung aber daran kein Interesse. Es klingt absurd, aber Fakt ist, dass die Taliban die Sicherheit an den Flughafenzäunen und in den Anflugzonen sicherstellen und „wir“ dabei mit ihnen „dankbar“ kooperieren müssen. Außerdem zeigt ihre Führung, dass sie die vollständige politische und militärische Kontrolle über ihre Kämpfer hat. Ob sie die Evakuierung unserer afghanischen Helfer ermöglichen wird, hängt also ganz von den Interessen der Taliban-Führung ab, beziehungsweise davon, was ihr im Austausch für diese Evakuierung angeboten wird.

Tatsache ist: Schluss mit der Evakuierung ist, wenn die Taliban-Führung sagt: Jetzt ist Schluss! Spätestens aber, wenn die USA ihre Kampfdrohnen aus der Region abziehen. Sie sind dort das einige Waffensystem mit Abschreckungswirkung, das einzige Waffensystem, vor dem die Taliban Respekt haben. Auch die Bundeswehr agiert unter ihrem Schutz. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass unser Parlament unseren Streitkräften die Einführung dieses Waffensystems verweigert.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Konsequenzen hat der Sieg der Taliban für das geostrategische Gefüge in der Region? Vor welche Herausforderungen stellt die neue Situation Russland und China?

Jörg Barandat: Die west-afghanische Stadt Herat trägt nicht ohne Grund den Beinamen "Hochtor nach Indien". Der Norden Afghanistans - geographisch Zentralasien zuzuordnen - mit Zugängen über den Iran und Pakistan an den Indischen Ozean, hätte viel Potential, eine wichtige Verbindung zwischen Chinas beiden großen Projekten, der Neuen Seidenstraße und der Maritimen Seidenstraße, zu werden. Attraktiv ist Afghanistan auch wegen seiner Rohstoff-Lagerstätten. Abzuwarten ist, ob die Taliban-Führung Interesse an einer solchen möglichen Entwicklung hat, oder eher einen isolationistischen Kurs fahren wird. Viele Fühler sind aber bereits ausgestreckt: Nach China, Russland, Iran, Pakistan, Türkei.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Gab es je eine tragfähige Strategie hinter dem deutschen Afghanistan- Einsatz? Und falls nicht: Wie hätte eine solche sinnvollerweise aussehen müssen?

Jörg Barandat: Nun ja … Strategien sind gekennzeichnet durch eine klare Festlegung von Zielen, Mitteln und Wegen. Als es in der ersten Phase des Einsatzes darum ging, Al-Qaida in seinen Schlupflöchern in Afghanistan zu zerschlagen, war ein strategischer Ansatz durchaus erkennbar. Danach nicht mehr. Deutschland hat halt einfach aus Solidarität zur USA und aus Bündnissolidarität mitgemacht. Nun ist das ja mit Zielsetzungen auch ziemlich schwierig … Wer Ziele definiert, macht sich überprüfbar, das ist aber von der Politik – egal ob Regierung oder Opposition – nicht wirklich gewollt. Und deswegen hat der Westen auch Vieles falsch gemacht. Hier nur einige wenige Punkte, die mir besonders wichtig sind: Wir haben in unserer Arbeit konzeptionell zu wenig zwischen größeren Städten und ländlichen heterogenen Stammesgesellschaften unterschieden und unser Engagement nicht ausreichend auf diese fundamentalen Unterschiede ausgerichtet. So waren, sind und werden auch weiterhin die Taliban – ebenso wie die Religiös-Konservativen - ein integriertes Element in den paschtunischen Stammesverbänden sein. Sie hätten also in Entwicklungs- und Friedensprozesse eingebunden werden müssen. Wir haben im Regierungsapparat, den Behörden, der Polizei und mit der Erlaubnis, dass Warlords eigene Truppen aufstellen durften, am Ende auch in den afghanischen Streitkräften Korruption zugelassen.

Ich habe anlässlich des deutschen Einstiegs in das Afghanistan-Abenteuer die Lektüre der Werke von Oberst T. E. Lawrence ("Lawrence of Arabia") empfohlen: „Die sieben Säulen der Weisheit“ sowie „The 27 Articles“ (nur im Englischen erhältlich – Anm. d. Red.).

Lawrence schrieb: “Mache nicht zu viel selbst. Es ist besser, wenn die Araber es einigermaßen akzeptabel erledigen, als wenn Du es perfekt machst. Es ist ihr Krieg – deine Aufgabe ist es, ihnen zu helfen, aber nicht, den Krieg für sie zu gewinnen.

Bezogen auf Afghanistan: Die Afghanen müssen ihr eigenes Gesellschaftsmodell entwickeln, westliche „Blaupausen“ gehen an der Realität vorbei. Es ist ihr Land, in dem sie leben und bleiben wollen. „Wir“ werden irgendwann wieder gehen.

Ich empfehle diese Lektüre an dieser Stelle noch einmal – sie ist wirklich sehr gewinnbringend.

Der Westen ist nun erst mal aus dem Spiel ausgeschieden. Meine Empfehlung: Abwarten und dann versuchen „Tee mit dem Teufel“ zu trinken. Dabei ausloten, was möglicherweise geht - vielleicht auch nur örtlich und regional sehr begrenzt, - und was nicht.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Werden sich die Taliban dauerhaft an der Macht halten können? Mit welchen Gegnern müssen sich die Taliban innerhalb Afghanistans noch auseinandersetzen? Welche Rolle spielt ISIS dort?

Jörg Barandat: Genau hier, bei ISIS, wäre möglicherweise ein Ansatzpunkt für Kooperation in der Region: Taliban-Führung, Zentralasiatische Staaten, China, Russland und der Westen haben alle ein gemeinsames Interesse daran, dass sich internationale Terrororganisationen wie Al-Qaida und ISIS (beziehungsweise Daesch) nicht in der Region einnisten. Die Agenda von ISIS/Daesch ist mit der der Taliban unverträglich. Außerdem gingen letztere bei einer solchen Kooperation das hohe Risiko ein, die Unterstützung der Golfstaaten zu verlieren.

Da wären wir dann auch bei der Frage nach dem Machterhalt. Vorweg eine Grunderkenntnis: „Die Taliban“ gibt es nicht! Und die Taliban von heute sind auch nicht mehr die von 1996 bis 2001. Sie haben gelernt und sich weiterentwickelt. Was ihre verschiedenen Gruppen und Interessenträger vereint hat, ist nicht eine gemeinsame Identität oder tiefgreifende Programmatik, sondern nur das eine: Die „Besatzer“ aus dem Land zu werfen. Nachdem das erreicht ist, wird man abwarten müssen, ob sich weitere Gemeinsamkeiten als tragfähig erweisen, oder das Ganze wieder in seine stammesgesellschaftliche Vielfalt von regionalen, örtlichen und persönlichen Interessen zerfällt.

Meine Hoffnung richtet sich darauf, dass eigentlich alle Konfliktparteien und die gesamte afghanische Stadt- wie Landbevölkerung das Töten – auch zwischen den Fronten – beendet haben wollen. Ich würde mich freuen, wenn „wir“ für erste kleine Schritte in diese Richtung eine helfende Hand anbieten könnten, also im Sinne von T. E. Lawrence: Hilfe zur Selbsthilfe!

Info zur Person: Jörg Barandat, Oberstleutnant a.D., war als Generalstabsoffizier von 2013-19 Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg, mit den Arbeitsschwerpunkten (u.a.) „Strategielehre und Strategisches Denken“ sowie „Sicherheitspolitik und Globale Trends“. Zuvor war er unter anderem im Bundesministerium der Verteidigung, im Einsatzführungskommando, im Zentrum für Transformation, in der Bundeswehr-Arbeitsgruppe „Joint and Combined Operations“ sowie im Auswärtigen Amt tätig.


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