Lassen Sie uns gemeinsam über die jüngste Verzögerung bei der vollständigen Freigabe aller Unterlagen zum Mord an Präsident John F. Kennedy am 22. November 1963 in Dallas nachdenken. Das Attentat geschah vor 58 Jahren. Inzwischen ist tatsächlich mehr Zeit vergangen zwischen heute und dem 26. Oktober 1992, an dem der US-Kongress per Gesetz die vollständige und sofortige Freigabe fast aller Aufzeichnungen zum Präsidentenmord anordnete, als zwischen der Tat und der Verabschiedung jenes Gesetzes.
Der inzwischen verstorbene Senator John Glenn aus Ohio, ein Astronautenheld der Kennedy-Ära, hatte das besagte Gesetz verfasst. In ihm steht unter anderem, dass „alle amtlichen Unterlagen in Bezug auf die Ermordung ... grundsätzlich zur sofortigen Freigabe bestimmt und sämtliche Unterlagen letztendlich offenzulegen sind“. Laut dem Gesetz „besteht nur in den seltensten Fällen ein rechtmäßiger Grund für den fortgesetzten Schutz dieser Unterlagen“.
Der Kongress legte auch genau fest, welche Gründe dies sind. Einer davon ist der Schutz der Identität eines Geheimagenten, der „aktuell geschützt werden muss“. Auch eine „aktuell genutzte“ nachrichtendienstliche Quelle oder Methode ist schutzwürdig. In manchen Fällen kann der Schutz der Privatsphäre schwerer wiegen als das Interesse an einer Offenlegung. Und schließlich nimmt eine Bestimmung jegliche Angelegenheiten von der Offenlegung aus, die „die Verteidigung, die Tätigkeit der Nachrichtendienste oder die Pflege auswärtiger Beziehungen betreffen und deren Offenlegung nachweislich die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten beeinträchtigen würde“.
Nach 25 Jahren (also im Jahr 2017) erloschen diese Ausnahmebestimmungen, wonach laut dem Gesetz der Präsident erklären muss, dass „es notwendig ist, die Offenlegung weiter zu verschieben, um erkennbare Nachteile für die militärische Verteidigung, die Nachrichtendienste, die Strafverfolgung oder die Pflege auswärtiger Beziehungen abzuwenden, die so schwerwiegend sind, dass sie das öffentliche Interesse an einer Offenlegung überwiegen“ (auf Druck der Geheimdienste hielt der damalige Präsident Donald Trump im Jahr 2017 die Veröffentlichung der Geheimakten zurück – Anm. d. Red.). Am 22. Oktober hat Präsident Joe Biden diese Erklärung, angeblich nur vorübergehend, abgegeben und die zuständigen Bundesbehörden angewiesen, alle noch nicht veröffentlichten Unterlagen zu prüfen und bis 1. Oktober 2022 alle Fälle zu nennen, bei denen weiterhin die Gefahr eines erkennbaren Nachteils im Falle einer vollständigen Offenlegung besteht.
Aber welche „erkennbaren Nachteile“ könnten, bitte schön, jetzt noch eintreten? Wie die New York Times uns in einem Artikel zum Thema in Erinnerung ruft, kam eine erschöpfende „jahrelange Untersuchung des Mordes unter der Leitung des Obersten Richters Earl Warren zu dem Ergebnisse, dass Lee Harvey Oswald allein gehandelt hat“. Genau wie Kennedy ist Oswald seit 58 Jahren tot (er wurde zwei Tage nach dem Attentat von dem zwielichtigen Nachtclub-Besitzer Jack Ruby erschossen – Anm. d. Red.). Wenn er allein gehandelt und eine erschöpfende Untersuchung dies vor 57 Jahren bewiesen hat, welches Geheimnis könnte es dann noch geben? Wenn er allein gehandelt hat, gibt und gab es keine anderen Schuldigen. Nicht damals, nicht 29 Jahre später und nicht heute!
Die New York Times unterscheidet zwischen „Forschern und Verschwörungstheoretikern“. Nach dieser Lesart sind Forscher diejenigen, die der Warren-Kommission glauben, und Verschwörungstheoretiker diejenigen, die das nicht tun. Aber warum sollte sich irgendjemand, der die offizielle Version nicht anzweifelt, überhaupt noch für die Geschichte interessieren, von den wenigen Leuten einmal abgesehen, die aus der Verteidigung der Kommission gegen ihre vielen Kritiker eine Lebensaufgabe gemacht haben? Doch dass Interesse vorhanden ist, gibt auch die New York Times zu und zitiert Umfragen, nach denen „die meisten Amerikaner glauben, dass weitere Personen beteiligt waren“.
In anderen Worten: Die meisten Amerikaner glauben an das, was die New York Times eine „Verschwörungstheorie“ nennt. Die Menschen erkennen ganz richtig, dass die Geschichte vom angeblichen „Einzeltäter“ nicht zu der Behauptung passt, die gesetzlich vorgeschriebene vollständige Freigabe der Dokumente könne der nationalen Verteidigung, den Nachrichtendiensten oder den auswärtigen Beziehungen im Jahr 2021 schaden, ganze 58 (!) Jahre nach der Tat.
Ich behaupte nicht, dass Biden oder die Behörden, auf deren Rat er in dieser Sache hört, gegen geltendes Recht verstoßen. Im Gegenteil, ich nehme sie beim Wort: die lückenlose Freigabe aller Unterlagen würde ihrer Ansicht nach dem Militär, den Nachrichtendiensten und den auswärtigen Beziehungen schaden.
Man kann sich leicht vorstellen, wie. Nehmen wir, nur so zum Spaß, an, es gab eine Verschwörung. Nehmen wir an, die übrigen Dokumente würden zusammen mit den bereits freigegebenen beweisen – oder den Bürgern den Beweis dafür liefern – was die meisten Amerikaner sowie schon glauben. Dann wären an der damaligen Vertuschung der Fakten hochrangige Vertreter der US-Regierung beteiligt gewesen, unter anderem die Chefs eben derjenigen Behörden, die gerade mit der Prüfung der Unterlagen betraut wurden. Logischerweise folgt daraus, dass jede nachfolgende Beamtengeneration unter jedem Präsidenten die Vertuschung fortgeführt hat. Das ist die einzig plausible Erklärung, warum die aktuellen Interessen dieser Behörden gefährdet sein könnten.
Die Ironie ist: Indem sie die Unterlagen zurückhält, hat die Regierung schon implizit zugegeben, dass die Warren-Kommission gelogen hat und es hässliche Geheimnisse gibt, die sie unbedingt schützen will. Sie gibt implizit zu, dass es eine Verschwörung gegeben hat und dass diese Verschwörung immer noch vertuscht wird. Wenn nicht, wären schon vor langer Zeit alle Aufzeichnungen freigegeben worden. Man muss kein „Verschwörungstheoretiker“ sein, um das zu erkennen.
Ich kann jetzt schon sagen: Bidens Aufschub bis zum Jahr 2022 wird fortgesetzt werden, und das Schauspiel wird einfach weitergehen. Niemand, der sich an das Jahr 1963 erinnert, wird erleben, wie die US-Regierung die volle Wahrheit über den Mord an John F. Kennedy zugibt. Und das Vertrauen des amerikanischen Volkes in die Demokratie wird weiter beschädigt. Dies ließe sich nur verhindern, indem die Regierung nichts zurückhält und jede einzelne Akte herausgibt – und zwar noch heute.
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