Transhumanismus bezeichnet eine Denkströmung, die das Verschmelzen von Mensch und Technologie anstrebt. Ziel ist die Überwindung der natürlichen Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind, also das Ausschöpfen dessen, was Transhumanisten als unser wahres Potenzial ansehen. Das heißt, die Transhumanisten wollen den Menschen und damit die Welt grundlegend verändern – in ihren Augen natürlich zum Besseren. Im Folgenden stellen wir die wichtigsten diesbezüglichen Projekte vor.
Die Gedächtnis-KI von Facebook
KI ist eines der großen Forschungsgebiete unserer Zeit, und die Big-Tech-Giganten spielen in ihm eine entscheidende Rolle. „Informationsreichtum“ ist das Schlüsselwort bei der Entwicklung und beim Trainieren von KI-Algorithmen. Konzerne wie Google, Facebook und Tesla sind deshalb mit ihren riesigen Datenschätzen bei der Erforschung maschinellen Lernens klar im Vorteil – und befinden sich auch schon eindeutig in Führung.
Roboter werden mittlerweile flächendeckend in der automatisierten Produktion eingesetzt. Weitgehend unbekannt dürfte dagegen Facebooks „Ego4D“-Projekt sein – ein KI-System, welches sich an alle Ereignisse des menschlichen Lebens erinnern können soll. Die KI könnte dafür zum Beispiel in Augmented-Reality-Brillen verbaut werden (unter „erweiterter Realität“ versteht man die computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung durch das Projizieren von digitalen Inhalten in die reale Welt). Ego4D soll lernen, die Welt aus der Sicht eines Menschen zu sehen und sich alles Geschehene zu merken – also analysieren und verstehen können, was ein Mensch macht, sieht, hört und sagt und damit den Nutzern unter anderem bei Gedächtnislücken auf die Sprünge helfen.
Elon Musks „Neuralink“: Mensch-Maschine-Verbindung zur Heilung neuronaler Krankheiten
Auch Tesla-Chef Elon Musk arbeitet an potentiell hoch-disruptiven Technologien. Eine davon könnte transhumanistischer nicht sein – die Rede ist vom 2016 gegründeten Implantat-Startup „Neuralink“, welches die Möglichkeiten einer Schnittstelle zwischen dem menschlichen Gehirn und einem Computer erforscht.
Neuralink will Neuronen im Gehirn per drahtloser Funkverbindung an Computer anschließen. Dafür wird ein von außen nicht sichtbarer Chip („Neuralink“) als Informations-Kanal in den Schädel implantiert, wobei die feinen Leitungen des Mini-Computers mit Hirn-Gewebe verbunden werden.
Kurzfristig fokussiert man sich auf neurologische Erkrankungen. Das erste Neuralink-Produkt mit dem Namen „N1“ soll es Querschnittsgelähmten, die weder Beine noch Arme bewegen können, ermöglichen, Computer oder Smartphones zu bedienen. Kabellose, rein gedanken-basierte Steuerungsmethoden sollen dafür zum Einsatz kommen. Langfristig strebt Neuralink die Schaffung einer umfassenden Gehirn-Computer-Schnittstelle an, die menschliche und Künstliche Intelligenz vereint. Erst im Sommer konnte man frisches Geld (insgesamt 205 Millionen Dollar) von Google und verschiedenen Startup-Investoren einsammeln.
OpenAI: Ein Tummelplatz der Transhumanisten
Es scheint ein wenig widersprüchlich, dass Elon Musk an vorderster Front maßgeblich an der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz und Mensch-Computer-Schnittstellen mitwirkt und gleichzeitig KI als „größte existenzielle Gefahr für die Menschheit“ ansieht. Unter anderem spendete der Tesla-Chef zehn Millionen Dollar an das „Future of Life Institute“ – eine Denkfabrik, die sich der Verhinderung des Weltuntergangs durch eine nur schwer zu bändigende Superintelligenz verschrieben hat. Der Tech-Milliardär ist auch Mitgründer des auf Open-Source-Basis arbeitenden Non-Profit-Unternehmens „OpenAI“, das es sich zum Ziel setzt, Künstliche Intelligenz so zu entwickeln und zu vermarkten, das sie der Gesellschaft Vorteile bringt, statt ihr zu schaden.
Einer der größten Geldgeber von OpenAI ist Microsoft. Der Software-Platzhirsch arbeitet derzeit in Zusammenarbeit mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) an einem „smarten Tattoo“. Das Tattoo soll zur eigenen Nutzeroberfläche avancieren, mit Smartphones und anderen Endgeräten gekoppelt werden und diese eines Tages womöglich komplett ersetzen.
Die Welt der Zukunfts-Technologien ist noch recht klein, und die Entscheider sind eng miteinander verzahnt und relativ überschaubar an der Zahl. Derzeitiger CEO von OpenAI (und zugleich Präsident des Gründerzentrums „Y Combinator“) ist Sam Altman, der wie Elon Musk und viele weitere hochrangige Funktionäre aus dem Silicon Valley ein bedingungslosen Grundeinkommens befürwortet. Zitat: „Die Frage, die ich mir stelle, ist: Gibt es einen Weg, wie wir Technologie nutzen können, um Umverteilung auf globaler Ebene zu ermöglichen?“
Bedingungsloses Grundeinkommen per Augen-Scan
Und diese Gedanken setzt er bereits in die Praxis um. Altman ist Mitgründer und Unterstützer des Start-ups „Worldcoin“, dessen gleichnamige Kryptowährung zu einer Art globalem bedingungslosem Grundeinkommen werden soll. Jeder Mensch soll kostenlos einen identischen Anteil an der Welt-Kryptowährung erhalten – einzige Voraussetzung ist eine kleine technische Prozedur: Mithilfe eines Iris-Scans wird das Menschsein und die Einzigartigkeit jeder einzelnen Person sichergestellt.
Naheliegende Bedenken bezüglich der Privatsphäre und der Daten-Sicherheit der Nutzer weist das Unternehmen zurück. Der Augen-Scan via Hightech-Kamera solle nur dazu dienen, eine jeweils einzigartige Adresse für die digitale Brieftasche jeder Person zu generieren und damit verhindern, dass sich Leute mehrfach für das Krypto-Grundeinkommen anmelden. Die dabei gewonnenen biometrischen Daten würden hinterher sofort gelöscht und nicht etwa in der Blockchain gespeichert oder anderweitig verwertet.
Transhumanistische Ideen sind in der Medizin schon weit verbreitet
Worldcoins Pläne sind durchaus umstritten. Die in anderen Bereichen angestrebte Verschmelzung von Mensch und Technologie werden deutlich positiver gesehen.
Allen voran der Bereich Medizin, von dem es gewaltige Fortschritte zu vermelden gibt. Künstliche Hüften und Kniegelenke, Beinprothesen, Herzschrittmacher, Herztransplantationen mit Roboter-Herzen, 3D-Druck von Organen und Gliedmaßen, sogar Implantate, die Blinde zu Sehenden machen und Taube wieder hören lassen: All das ist bereits – zumindest bis zu einem gewissen Grad – möglich.
Wobei nicht auf allen diesen Gebieten von tatsächlichen Revolutionen sprechen kann. An der Gedankensteuerung von Armprothesen wird schon seit Jahrzehnten geforscht, und doch ist es immer noch eine sehr hakelige Angelegenheit, die sich kaum auf den Alltag übertragen lässt. Auch die Implantate für Blinde konnten die hohen Erwartungen bisher nicht erfüllen. Eine der Pionier-Firmen in diesem Bereich, die „Retina Implant AG“, wurde 2019 aufgelöst. Die mit einem Retina-Implantat ausgestatteten Patienten konnten, wenn überhaupt, nur grobe Umrisse erkennen, im besten Fall sehr große Buchstaben – und auch das nur unter Laborbedingungen.
Man kann natürlich auch kleiner denken: Der Künstler und Mitbegründer der „Cyborg Foundation“, Neil Harbisson, hat sich eine Antenne implantieren lassen, die seine Farbenblindheit behandelt. Er sagt, er könne die Farben jetzt hören. Im Silicon Valley werden derweil Kopfhörer entwickelt, die beim Sport, bei der Arbeit oder beim Entspannen helfen sollen, indem mit leichten Stromschlägen bestimmte Hirnareale stimuliert werden.
Aber auch wenn viele technische Durchbrüche noch auf sich warten lassen: Die Wissenschaft schreitet unaufhaltsam voran. Ein relativ neues Gebiet ist hier die Nanotechnologie – medizinische Anwendungsbereiche inklusive. Winzige Roboter („Nanobots“) sollen in Zukunft im Körper platziert werden und dort Diagnosen stellen, Krebszellen zerstören, Wirkstoffe zielgerichtet transportieren und kleinste chirurgische Eingriffe durchführen. Die Nano-Roboter werden mithilfe von Magneten wieder aus dem Körper entfernt. Geforscht wird auch an sogenannten „Xenobots“ – das sind lebendige Nanobots, die beispielsweise aus Zellen von Frosch-Embryos konstruiert werden. Behandlungsmethoden von innen heraus ganz ohne explizite äußere Eingriffe eines Arztes: Nanobots haben das Potenzial, die Medizin zu revolutionieren.
Digitaler Eskapismus in der neuen virtuellen Welt?
Auch wer sich nicht bester Gesundheit erfreut, könnte in der Welt der Zukunft glücklich werden. Dafür sorgen neueste Entwicklungen im Bereich von Virtual- (VR) und Augmented-Reality (AR). Die Tech-Giganten Google und Samsung forschen etwa an smarten Kontaktlinsen mit AR-Funktionen, die auch über medizinische Anwendungen verfügen. Samsung will zudem die Entwicklung von Hologramm-Projektion vorantreiben.
Analysten-Schätzungen zufolge wird die mittels AR- und VR-Technologien „vertiefte Welt“ in wenigen Jahren zu einem riesigen Markt werden – Statista prognostiziert einen Anstieg der Marktgröße von heute circa 30 Milliarden Dollar auf rund 300 Milliarden Dollar bei mehreren Milliarden Nutzern weltweit – und das innerhalb von nur drei Jahren.
Das „Metaverse“ (eine Verbindung aus VR, AR und der realen Welt), das sich Science-Fiction-Autor Neal Stephenson in seinem Roman „Snow Crash“ 1992 ausgedacht hat, wird heute von Big-Tech-Konzernen – allen voran Facebook – vorangetrieben. Marc Zuckerberg hat sehr ambitionierte Langfristpläne mit Anwendungen in der virtuellen und erweiterten Realität. Soziale Netzwerke, Chats, Videospiele, Streaming-Dienste und sogar Werbung – die Menschen sollen perspektivisch den Großteil ihrer Freizeit in einer zentralen virtuellen Plattform, dem sogenannten „Metaversum“, verbringen.
Die Tendenz gibt es schon lange, aber durch die Corona-Situation haben virtuelle Aktivitäten noch einmal enorm zugenommen – es ist zu erwarten, dass sich dieser Trend in Zukunft noch weiter beschleunigt. Bis zum Jahr 2030 erwartet beziehungsweise erhofft Silicon Valley sich circa eine Milliarde Nutzer im „Metaverse-Network“. Facebook ist dabei nicht der einzige Player in diesem Feld. Microsoft plant zum Beispiel eine Erweiterung namens „Mesh“ für seinen Kommunikationsdienst „Teams“, wodurch Besprechungen in einer VR-Umgebung ermöglicht werden sollen.
Das Metaversum bezieht sich auf eine gemeinsame virtuelle 3D-Welt, in der alle Aktivitäten mit AR- und VR-Geräten stattfinden. Die Avatare, die den Nutzer im Metaversum repräsentieren, kann man als Vorstufe digitaler Klone sehen. Es soll möglich sein, reale Gegenstände einzuscannen und im Metaversum darzustellen. Umgekehrt soll es auch möglich sein, Gegenstände aus der virtuellen Welt in die tatsächliche Realität zu projizieren.
Facebook, nach seinem offiziellen Rebranding nun „Meta“ genannt, Microsoft und viele weitere Tech-Unternehmen arbeiten an einer durchgehenden Cyberwelt, die eines Tages sogar das gesamte Internet vereinnahmen könnte. In dieser Cyberwelt verschmilzt die physische Realität mit erweiterter sowie virtueller Realität – dieser Verschmelzungsprozess ist ein zentraler Aspekt des Transhumanismus.
Die physische oder digitale Unsterblichkeit ist noch reine Zukunftsmusik
Mit der Entwicklung in manchen Bereichen können Transhumanisten sehr zufrieden sein. Anderorts stockt es dafür seit vielen Jahrzehnten.
Der Wunsch nach Unsterblichkeit ist ganz zentral im Transhumanismus verankert, doch Fortschritte gibt es hier kaum. Firmen wie „Alcor Life“ bieten zwar eine sogenannte kryonische Aufbewahrung in flüssigem Stickstoff zur Konservierung des toten Körpers an, vielversprechende technologische Ansätze zur Wiederbelebung gibt es jedoch keine. Und so muss man fürs erste darauf hoffen (oder auch nicht, je nach Sichtweise), dass Forschungs-Unternehmen wie die Google-Tochter „Calico“ Wege finden werden, den menschlichen Alterungsprozess zu verlangsamen.
Ansonsten bleibt noch die Hoffnung auf ein Weiterleben als digitale Kopie. Einige der reichsten und mächtigsten Menschen der Welt, darunter Google-Mitgründer Larry Page, würden das menschliche Bewusstsein am liebsten so schnell wie möglich in eine digitale Form überführen. Die Vision des führenden Transhumanisten Ray Kurzweil ist, dass Gedanken-Uploads ab dem Jahr 2045 möglich sind.
Die Firma „Nectome“ forscht an der Konservierung des menschlichen Gehirns. Sobald die nötigen Technologien vorhanden sind, will man auf dieser Basis den Geist eines Menschen digitalisierbar machen und in einer Computersimulation weiterleben lassen. Stand jetzt funktioniert der chemische Prozess allerdings nur, wenn das Gehirn noch funktionstüchtig ist, das heißt der Kunde müsste vorher noch leben und würde dann infolge der Prozedur sterben. Zeitweise arbeitete Nectome mit dem MIT zusammen. Einer der Kunden auf der Warteliste, der sein Gehirn eines Tages in die Cloud hochladen möchte, ist übrigens – wie könnte es anders sein – Sam Altman.