Politik

US-Experte: Nato-Beitritt der Ukraine wäre ein großer Fehler

Jeffrey Sachs analysiert die beiden zur Zeit gefährlichsten Brennpunkte: Ukraine und Taiwan. Der US-Experte kritisiert die Expansionspläne der Nato - an die russische Grenze und bis ins Südchinesische Meer.
19.12.2021 11:00
Lesezeit: 4 min
US-Experte: Nato-Beitritt der Ukraine wäre ein großer Fehler
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg (r / Norwegen) trägt sich bei seinem Ukraine-Besuch ins Gästebuch ein. Links der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. (Foto: dpa) Foto: Efrem Lukatsky

Zwei gefährliche Krisenherde in Europa und Asien könnten sich zu einem offenen Konflikt zwischen den USA, Russland und China entwickeln: Zum einen die Ukraine, zum anderen Taiwan. Die beiden Krisen sind lösbar - wenn alle Beteiligten die legitimen Sicherheitsinteressen der jeweils anderen respektieren. Diese Interessen objektiv anzuerkennen, bildet die Grundlage für eine bleibende Deeskalation der Spannungen.

Ein Nato-Eintritt der Ukraine wäre ein großer Fehler

Man betrachte die Ukraine: Obwohl sie unzweifelhaft das Recht auf Souveränität und Sicherheit vor einer russischen Invasion hat, hat sie kein Recht, dabei Russlands Sicherheit zu untergraben.

Die aktuelle Ukraine-Krise rührt daher, dass sowohl Russland als auch die USA es zu weit getrieben haben. Im Falle Russlands geschah dies mit der Annexion der Krim und der Besetzung des industriellen Kernlands der Ukraine in Donezk und Luhansk im Jahre 2014 und mit Moskaus fortlaufenden Bemühungen, die Abhängigkeit der Ukraine von Russland im Bereich der Energie, der industriellen Vorleistungen und der Märkte aufrechtzuerhalten. Die Ukraine hat ein legitimes Interesse an einer stärkeren Integration mit den Volkswirtschaften der Europäischen Union, und sie hat zu diesem Zweck ein Assoziationsabkommen mit der EU unterzeichnet. Der Kreml jedoch fürchtet, die EU-Mitgliedschaft könnte ein erster Schritt auf dem Weg hin zu einem NATO-Beitritt der Ukraine sein.

Auch die USA haben übertrieben. Im Jahr 2008 sprach sich die Regierung von US-Präsident George W. Bush dafür aus, die Ukraine zum NATO-Beitritt einzuladen – eine Erweiterung, die die Präsenz des Bündnisses an Russlands langer Grenze zur Ukraine etabliert hätte. Dieser provozierende

Vorschlag spaltete die US-Verbündeten, doch bestätigte die NATO nichtsdestotrotz, dass die Ukraine irgendwann als Mitglied aufgenommen werden könnte, und stellte fest, dass Russland kein Veto darüber habe, wer dem Bündnis beitrete. Als Russland 2014 gewaltsam die Krim annektierte, war es eines seiner Ziele, sicherzustellen, dass die NATO nie Zugriff auf Russlands Schwarzmeerflotten-Stützpunkt am Schwarzen Meer erhalten könnte.

Den öffentlichen Mitschriften der Gespräche zwischen US-Präsident Joe Biden und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in diesem Monat nach zu urteilen, bleibt eine NATO-Erweiterung um die Ukraine auf dem Tisch. Obwohl Frankreich und Deutschland sehr wohl ihre langjährige Drohung aufrechterhalten könnten, ihr Veto gegen einen derartigen Beitrittsantrag einzulegen, haben Vertreter sowohl der Ukraine als auch der NATO wiederholt darauf hingewiesen, dass die Entscheidung zum Beitritt bei der Ukraine läge. Ein hochrangiger estländischer Parlamentsabgeordneter hat zudem gewarnt, dass eine Beschneidung des Rechts der Ukraine, der NATO beizutreten, der Beschwichtigungspolitik Großbritanniens gegenüber Hitler 1938 gleichkäme.

Amerikanische Regierungsvertreter, die argumentieren, dass die Ukraine das Recht auf Wahl ihres eigenen Militärbündnisses hat, sollten sich allerdings eines bewusst sein: Nämlich der langen Geschichte des kategorischen Widerstandes ihres eigenen Landes gegen eine äußere Einmischung in der westlichen Hemisphäre. Diese Position fand erstmals in der Monroe-Doktrin des Jahres 1823 Ausdruck, und sie war deutlich sichtbar in der gewaltsamen US-Reaktion auf Fidel Castros Hinwendung zur Sowjetunion nach der kubanischen Revolution von 1959.

Damals erklärte US-Präsident Dwight D. Eisenhower, dass „Kuba der Sowjetunion als Instrument überlassen wurde, mit dem sie unsere Stellung in Lateinamerika und der Welt untergräbt“. Er wies die CIA an, Pläne für eine Invasion zu entwickeln. Das Ergebnis war das Fiasko in der Schweinebucht (unter Präsident John F. Kennedy), das der Auslöser für die Kubakrise von 1962 war.

Fakt ist: Länder können sich ihre Militärbündnisse nicht einfach aussuchen, weil derartige Entscheidungen häufig Auswirkungen auf die Sicherheit ihrer Nachbarn haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg sicherten sich Österreich und Finnland beide ihre Unabhängigkeit und ihren künftigen Wohlstand, indem sie nicht der NATO beitraten, da dies den Zorn der Sowjets provoziert hätte. Die Ukraine sollte heute dieselbe Besonnenheit an den Tag legen.

Die Nato hat nichts im Südchinesischen Meer zu suchen – aber Peking muss die militärische Einschüchterung von Taiwan beenden

Die Probleme in Taiwan sind ähnlich gelagert. Taiwan hat das Recht auf Frieden und Demokratie im Einklang mit dem Konzept der Ein-China-Politik, das seit den Tagen Richard Nixons und Mao Zedongs das Fundament der Beziehungen Chinas zu den USA ist. Letztere tun Recht daran, China vor einseitigen Militäraktionen gegenüber Taiwan zu warnen, da dies die globale Sicherheit und die Weltwirtschaft gefährden würde. Doch genau wie die Ukraine nicht das Recht hat, der NATO beizutreten, hat Taiwan nicht das Recht auf Abspaltung von China.

In den letzten Jahren jedoch haben einige taiwanesische Politiker mit einer möglichen Unabhängigkeitserklärung ihres Landes geflirtet, und eine Reihe von US-Politikern haben sich Freiheiten gegenüber dem Ein-China-Grundsatz herausgenommen. Der damalige designierte Präsident Donald Trump leitete im Dezember 2016 die Abkehr der USA von diesem Grundsatz ein, als er erklärte: „Ich verstehe die Ein-China-Politik vollkommen, aber mir ist nicht klar, warum wir durch eine Ein-China-Politik gebunden sein sollten, sofern wir nicht eine Abmachung mit China treffen, die andere Dinge betrifft, einschließlich des Handels.“

Dann lud Präsident Joe Biden Taiwan in provozierender Weise zu seinem Demokratie-Gipfel in diesem Monat ein. Schon zuvor hatte US-Außenminister Antony Blinken sich deutlich für Taiwans „robuste Beteiligung“ am System der Vereinten Nationen ausgesprochen. Diese US-Handlungen haben die Spannungen mit China stark verschärft.

Auch hier sollten jene US-Sicherheitsanalysten, die argumentieren, dass Taiwan das Recht habe, seine Unabhängigkeit zu erklären, über Amerikas eigene Geschichte nachdenken. Die USA führten vier Jahre lang einen blutigen Bürgerkrieg über die Legitimität der Unabhängigkeit der Südstaaten, welchen diese verloren. Die USA würden eine chinesische Unterstützung für eine Unabhängigkeits-Bewegung beispielsweise in Kalifornien nicht tolerieren (ebenso wenig wie das europäische Länder wie Spanien tun würden, das im Baskenland und in Katalonien schon damit konfrontiert war).

Die Risiken einer Eskalation in Bezug auf Taiwan werden durch die jüngste Ankündigung von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erhöht, dass der künftige Daseinszweck des Bündnisses unter anderem sein würde, ein Gegengewicht zu China zu bilden. Ein Bündnis, das geschaffen wurde, um Westeuropa vor einer Invasion durch eine inzwischen nicht mehr bestehende europäische Macht zu schützen, sollte nicht zu einem US-geführten Militärbündnis gegen eine asiatische Macht umfunktioniert werden.

Fazit: Den Frieden wahren

Die die Ukraine und Taiwan betreffenden Krisen lassen sich friedlich und unkompliziert lösen. Die NATO sollte die Mitgliedschaft der Ukraine vom Tisch nehmen, und Russland sollte einer Invasion abschwören. Die Ukraine sollte frei sein, ihre Handelspolitik nach eigenem Belieben auszurichten, vorausgesetzt, sie hält sich dabei an die Grundsätze der Welthandelsorganisation.

In ähnlicher Weise sollten die USA erneut klarstellen, dass sie eine Abspaltung Taiwans unumstößlich ablehnen und nicht das Ziel einer Eindämmung Chinas verfolgen, insbesondere nicht durch eine Neuausrichtung der NATO. China seinerseits sollte einseitigen Militärmaßnahmen gegenüber Taiwan abschwören und den Grundsatz der zwei Systeme, den viele Taiwanesen nach dem harten Vorgehen Chinas in Hongkong unmittelbar bedroht sehen, erneut bekräftigen.

Keine globale Friedensarchitektur kann stabil und sicher sein, sofern nicht alle Beteiligten die legitimen Sicherheitsinteressen der jeweils anderen anerkennen. Die beste Weise, wie die Großmächte anfangen können, das zu erreichen, besteht in der Wahl eines Kurses, der gegenseitiges Verständnis sowie Deeskalation in Bezug auf die Ukraine und Taiwan beinhaltet.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2021.

www.project-syndicate.org

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Jeffrey D. Sachs

Jeffrey D. Sachs ist Professor an der renommierten Columbia University (New York). Er hat als Berater für eine ganze Reihe von internationalen Organisationen gearbeitet und war als Berater für drei UNO-Generalsekretäre tätig. 
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