Der Krieg in der Ukraine wird für das Nato-Land Türkei zu einem Balanceakt. Besonders in ihrer Rolle als Hüterin der Meerengen zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer steckt das Land nach Ansicht von Experten derzeit in einer schwierigen Lage. «Die Türkei muss ihre Aktionen nun sehr sorgfältig einfädeln», sagte Serhat Güvenc, Professor für Internationale Beziehungen an der Istanbuler Kadir-Has-Universität am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur. Die Diplomatie Ankaras verglich er mit einem Akrobaten, der am Klippenrand tanze.
Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte am Montag eine Warnung für Kriegsschiffe aller Länder ausgesprochen, die Meerengen nicht zu passieren. Er betonte, dass sich die Türkei an den sogenannten Vertrag von Montreux halte.
Darin geht es um Folgendes: Die Meerengen Bosporus und Dardanellen bilden die einzige Verbindung von Schwarzem Meer und Mittelmeer - und sind darum wichtige Wasserwege für Schwarzmeeranrainer wie die Ukraine - aber für allem für Russland. In dem Vertrag von Montreux wurde der Türkei nach dem Ersten Weltkrieg die Souveränität über die Meerengen zurückgegeben, in ihm sind auch die Zugangsrechte geregelt.
Der Vertrag sieht Regelungen für unterschiedliche Szenarien vor und gibt der Türkei Interpretationsspielraum. In Kriegszeiten, wenn die Türkei sich selbst im Krieg befindet oder sich bedroht fühlt, kann sie laut Vertrag recht frei über die Zufahrtswege verfügen. Von einer akuten Bedrohung hat die Regierung im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg bisher nicht gesprochen.
Wenn die Türkei - wie im aktuellen Fall - nicht am Krieg beteiligt ist, soll sie die Durchfahrt von Kriegsschiffen der Konfliktparteien verhindern (Artikel 19). Ausgenommen sind Kriegsschiffe, die durch die Meerengen in ihren Heimathafen zurückkehren. Experten sind der Ansicht, dass zurzeit faktisch Artikel 19 greift. Ob die Türkei ukrainischen oder russischen Kriegsschiffen die Durchfahrt durch die Meerengen tatsächlich verweigert, dürfte sich erst im konkreten Fall zeigen. Cavusoglu hatte am Montag betont, dass es zurzeit keine Anfragen für Durchfahrten gebe.
In der Praxis hat eine Verweigerung der Durchfahrt für den Krieg in der Ukraine ohnehin eher Symbolcharakter. Zum einen kann Russland von der Heimathäfen-Regelung Gebrauch machen. Zum anderen hat Moskau in den vergangenen Wochen bereits zahlreiche Kriegsschiffe über die Meerengen in das Schwarze Meer gebracht. «Russland braucht die Meerenge nicht», sagt Hüseyin Bagci, Professor für internationale Beziehungen an der Universität ÖDTÜ in Ankara. «Die Flotte im Schwarzen Meer ist stark genug, um die Ukrainer total zu zerstören.»
Die Türkei bleibt in ihrer Rhetorik zum Vertrag ungenau - das könnte gewollt sein, um sich offiziell auf keine Seite zu stellen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat den Einmarsch Russlands zwar verurteilt, ist aber bislang um eine neutrale Haltung bemüht.
«Erdogan hält die Beziehungen zu Russland aufrecht und geht in keiner Weise auf Konfrontation», sagt Günter Seufert, Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) in Berlin. So habe die Türkei auch keine Sanktionen gegen Russland verhängt und ihren Luftraum im Gegensatz zu Europa nicht gesperrt. Es gebe mehrere Gründe für den Balanceakt, so Seufert - unter anderem wirtschaftliche, aber auch das Bestreben, sich unabhängig vom Westen zu machen.
Wirtschaftlich ist die Türkei, wie andere Länder auch, von russischem Gas abhängig. 2020 stammten fast 34 Prozent der Gasimporte und rund 65 Prozent der Weizenimporte aus Russland. Eine Verschlechterung der Beziehungen könnte die Einfuhren verteuern. Dabei ist die Türkei ohnehin schon von einer Währungskrise gebeutelt. Auch im Syrien-Krieg und in weiteren Konflikten der Region ist Ankara auf ein gutes Verhältnis zu Moskau angewiesen.
Die Warnung Cavusoglus von Montag richtete sich nach Ansicht Seuferts eher gegen Länder, die keine Schwarzmeer-Anrainer sind, wie etwa die USA. Das erschwere es den Nato-Staaten, Kriegsschiffe in das Schwarze Meer zu bringen, so Seufert. «Die Türkei verfolgt eine Politik, die Russland nicht weh tut», aber stelle sich auch nicht gegen die Nato.