Weltwirtschaft

Putin bombt die Welt in eine Ernährungskrise

Lesezeit: 7 min
19.03.2022 10:26  Aktualisiert: 19.03.2022 10:26
DWN-Kolumnist Ronald Barazon analysiert die erschreckende Entwicklung auf dem Getreidemarkt.
Putin bombt die Welt in eine Ernährungskrise
Die globale Nachfrage nach Weizen ist größer als das Angebot. (Foto: dpa)

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Der Ukraine-Krieg stürzt die Welt in eine Ernährungskrise. Sowohl die Versorgung mit Getreide als auch mit Ölsaaten, die für die Gewinnung von Speise- und Futteröl notwendig sind, ist gefährdet. Noch gibt es zwar beide Güter zu kaufen, aber die Preise sind aufgrund der Knappheit explodiert, und die hohen Ölpreise sorgen für einen zusätzlichen Preisschub, da durch sie der Transport teurer wird. Die Konsumenten müssen sich wohl oder übel auf höhere Preise einstellen, obwohl die Haushaltsbudgets schon jetzt durch die allgemeine Teuerung stark belastet sind. Der Krieg hat erst vor drei Wochen begonnen, und bis die Folgen in vollem Umfang bei den Verbrauchern ankommen, dauert es - bei Nahrungsmitteln geht das nicht so schnell wie beim Benzinpreis. Aber die Folgen werden ankommen, soviel steht fest. Dazu kommt, dass es (außer es erfolgt ein sofortiges Ende des Krieges, was sich jedoch nicht abzeichnet) keine rasche Lösung gibt - die Agrarproduktion kann nicht kurzfristig in großem Umfang gesteigert werden, wenn auch jetzt viele Bauern die Wintersaat nutzen, um schon im kommenden Sommer mehr erzeugen zu können. Auch ein Griff auf Reserven ist kaum möglich, da sich die Lagermengen weltweit auf einem historischen Tiefstand befinden, weil seit Jahren der Verbrauch durch die wachsende Weltbevölkerung größer ist als die Erzeugung.

Die Knappheit bei Nahrungsmitteln ist bereits überall spürbar

Die Ukraine gehört zu den größten Exporteuren von Weizen, Mais, Soja und Sonnenblumen, ist also entscheidend für die Versorgung der Welt. Jetzt musste im Gefolge des Einmarschs der russischen Armee und des Bombenhagels ein Exportstopp verfügt werden, um die Eigenversorgung zu sichern (weil viele Felder nicht mehr bestellt werden, da die Landwirte zu den Waffen geeilt sind und kämpfen). Unter dem Eindruck der Ereignisse drosseln weltweit nahezu alle Erzeugerländer ihre Lieferungen an ausländische Kunden, um die Versorgung des eigenen Landes zu sichern. Die Knappheit ist überall spürbar. So hat beispielsweise Ungarn, ein weiteres Agrarland, bereits ein Exportverbot beschlossen. In Russland, das weltweit der Weizen-Exporteur Nummer eins ist, überlegt man einen ähnlichen Schritt. In der EU fühlt man sich (noch) sicher, weil die Agrarproduktion traditionell Überschüsse liefert, doch der Schein trügt. Der Weltmarkt hat sich durch den Bedarf der stark wachsenden Weltbevölkerung in den vergangenen Jahren dramatisch verändert.

Die Weltagrarproduktion deckt schon länger nicht mehr den Bedarf

Lange wurde, insbesondere in der EU, geklagt, dass die produzierten Überschüsse nicht zu bewältigen sind und man die nicht benötigten Mengen auf dem Weltmarkt zu Schleuderpreisen verkaufen muss. Diese Situation ist längst Geschichte. Die - von der Politik totgeschwiegene und der Öffentlichkeit wenig beachtete - Tatsache lautet: Die gesamte Weltgetreideproduktion reicht schon seit einigen Jahren nicht mehr aus, um den Bedarf zu decken. Die Lagerbestände sind auf dem geringsten Stand seit langem. Die Preise steigen kontinuierlich. Und das war die Situation bereits vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs. Die Daten des „International Grain Council“ in London zeigen die Dimension: Produziert wurden 2020/21 insgesamt 2,220 Milliarden Tonnen Getreide, konsumiert wurden aber 2,235 Milliarden Tonnen. Für 2021/22 ging man von einer Steigerung der Produktion auf 2,286 Milliarden Tonnen aus, die in etwa dem Verbrauch entsprechen sollte.

Die Ernte im Sommer 2021 dürfte die für eine Komplettversorgung notwendigen Mengen ergeben haben, würde also die Versorgung sichern - eigentlich. Doch durch die Exportverbote sowie durch die Weigerung vieler Transportunternehmen, die doch noch verfügbaren Mengen aus den Schwarzmeer-Häfen im Kriegsgebiet abzuholen, können die potentiellen Abnehmer nicht auf die gewaltigen ukrainischen Bestände zugreifen.

Der Weizenpreis hat ein historisches Hoch von über 500 Dollar je Tonne erreicht

Von besonderer Bedeutung ist die Lage auf dem Weizenmarkt, auf den rund 800 Millionen Tonnen der insgesamt 2,220 Milliarden Tonnen Getreide entfallen. Weizen dient in der Form von Mehl unmittelbar der menschlichen Ernährung. Die anderen von der Ukraine exportierten Produkte wie Mais, Soja und Sonnenblumen kommen überwiegend als Futtermittel zum Einsatz.

Während man für Weizen etwa 300 Dollar je Tonne in den vergangenen Jahren zahlen musste, liegt der Preis jetzt über 500 Dollar. Die eine von zwei Aussaaten für die nächste Ernte erfolgt im Herbst, geschah also lange vor Beginn des Krieges. Die zweite Aussaat muss aber im Februar und März durchgeführt werden, und das war beziehungsweise ist in der Ukraine aktuell unter den Kriegsbedingungen kaum möglich. Wenn der Krieg länger dauert, kann auch die ab Juni fällige Ernte nicht eingebracht werden. Die heurige Ernte wird jedenfalls geringer ausfallen, die Weltproduktion wird somit wieder kleiner sein als der Bedarf, die Lager schrumpfen weiter, die Preise steigen, und die Saison 2022/2023 ist bereits jetzt als Krisenperiode erkennbar.

Somit kann sich niemand mehr sicher fühlen, auch nicht die EU, deren Weizen-Produzenten normalerweise über die Inlandsdeckung hinaus große Mengen exportieren. Angesichts der bereits erreichten Spitzenpreise, die in den kommenden Monaten noch steigen dürften, werden diese Produzenten die Chancen auf dem Weltmarkt nützen - in der Folge muss unweigerlich die Versorgung des Binnenmarktes leiden. Ein Preisanstieg auch in der EU ist unvermeidlich, neue Verträge wird man nicht mehr zu den traditionellen Konditionen bekommen.

Eine strenge Marktregulierung würde das Problem nicht lösen

Absehbar ist, dass die Forderung nach einem Exportverbot und einer Preisregelung, vor allem in der EU, in Kürze zu hören sein wird. Allerdings würde dies eine Rückkehr zu einer umfassenden Marktordnung bedeuten, die in den vergangenen Jahren mühsam abgebaut wurde. Auch darf man nicht übersehen, dass die Landwirte nun die Aussicht auf faire Preise haben, nachdem sie lange nur bescheidene Erträge erwirtschaften konnten.

Eine Regulierung kann nicht allein über ein Exportverbot funktionieren. Man müsste eine gesetzlich geregelte und öffentlich kontrollierte Lagerhaltung durchsetzen. Hier sei wieder der Weizen als entscheidendes Produkt zur Illustration herangezogen: Nach der Ernte werden die Lager gefüllt und in der Folge Monat für Monat bis zur nächsten Ernte abgebaut. In einer vollständig regulierten Wirtschaft müsste der Jahresbedarf zuzüglich einer Sicherheitsreserve bestimmt und der entsprechende Lageraufbau veranlasst werden. Die monatlichen Mengen wären von einer Behörde freizugeben. Der Staat hätte auch die Preise für jeden Monat zu verordnen. Man kann diese Perspektive einer Rückkehr zur Nachkriegswirtschaft der 1940er Jahre getrost als Horrorvision bezeichnen. Ein derartiges System wird nicht funktionieren - zu vielfältig wird der Markt von Landwirten, Genossenschaften, Händlern und Großabnehmern mit den unterschiedlichsten Lager- und Transportstrategien bestimmt. All diese müsste man in ein Korsett zwängen, die unweigerlich aufwändige Bürokratie würde die aktuelle Knappheit wahrscheinlich nicht lösen, sondern sogar eher noch verschärfen.

Kurioser Nebeneffekt von Putins Versuch, durch die Invasion die Sowjetunion wiederherzustellen: Es droht weltweit das Entstehen von abgeschotteten Märkten mit Marktordnungen nach sowjetischem Muster (nicht zuletzt in der EU).

China sorgt für eine zusätzliche Knappheit auf den internationalen Agrarmärkten

Der Ukraine-Krieg ist nicht der einzige dramatische Störfaktor für die Welternährung. China ist mit über 130 Millionen Tonnen zwar der weltweit größte Weizenproduzent, allerdings ist der Konsum des Landes noch weit größer und der Importbedarf daher enorm. Jetzt rächt sich der seit zwanzig Jahren planwirtschaftlich betriebene Umbau der chinesischen Wirtschaft von einem Agrarland zu einer Industrie- und Dienstleistungsnation mit der Verlagerung der Bevölkerung in die Städte. Das Motto lautete „urbanes China“. Dazu kommt aktuell, dass der heurige Winterweizen der „schlechteste in der Geschichte“ ist, wie das chinesische Landwirtschaftsministerium kürzlich in seltener Offenheit verlautete. Somit kauft China derzeit jede auf dem Weltmarkt verfügbare Tonne auf, um die Lager zu füllen, und zahlt Preise über 500 Dollar pro Tonne.

Der Markt wird das Problem lösen. Aber erst im Sommer 2023!

Die EU-Kommission neigt bekanntlich dazu, alle Bereiche zu regulieren, und so könnte die geschilderte Perspektive einer Rückkehr zur dirigistischen Marktordnung tatsächlich wahr werden, zumal in der bestehenden „Gemeinschaftlichen Agrarpolitik“ (GAP) noch viele planwirtschaftliche Elemente enthalten sind.

Viel entscheidender als der Eifer der Regulierer ist allerdings das Verhalten der Marktteilnehmer. Angesichts der derzeit bezahlten Traumpreise werden die Produzenten alles unternehmen, um die Erzeugung zu steigern, um von der aktuellen Lage zu profitieren. Gerade rechtzeitig zur Februar/März-Aussaat herrschen gegenwärtig Mangel und daher Zahlungsbereitschaft, also ideale Voraussetzungen für die Landwirte.

So werden die großen Weizenproduzenten die Gelegenheit nutzen. Die größten Exportmengen liefern außer Russland und der Ukraine die USA, Kanada, Frankreich, Deutschland, Polen, Kasachstan, Australien und Argentinien. Die zusätzlich erzielten Erntemengen werden allerdings nur bedingt die Knappheit und die Preise in der kommenden Saison 2022/2023 korrigieren. Die Preise für Nahrungsmittel werden also weiterhin hoch sein, noch deutlich höher als sie es jetzt bereits sind; und es wird nicht genug Weizen auf dem Markt sein - sprich, die Nachfrage wird das Angebot übersteigen. Und die im Gefolge des wachsenden Konsums immer niedriger werdenden Lagerbestände werden auch keinen befreienden Griff auf Reserven zulassen.

Man kann allerdings als Ergebnis der nun voraussichtlich weltweit stattfindenden Produktionssteigerung mit einer extrem hohen Ernte im Sommer 2023 und einem anschließend in der Saison 2023/2024 eintretenden Preisrückgang rechnen. Und dann werden wohl Russland und die Ukraine wieder liefern, und möglicherweise kann auch China eine gute Ernte einfahren. Es würde sich für die EU also nicht auszahlen, eine planwirtschaftliche Marktregulierung aufzubauen, die weder kurz- noch langfristig das Problem löst.

Mais ist so teuer wie früher Weizen, Soja wird zum Luxusgut

Die Struktur des Getreidegeschäfts ist am - oben skizzierten - Beispiel des Weizens deutlich abzulesen. Ähnlich verhält sich der Markt bei Mais, einem weiteren Getreide, das aus der Ukraine bezogen wird. Auch beim Mais war die Weltproduktion in den vergangenen Jahren kleiner als der Bedarf und sollte heuer eigentlich auf 1,2 Milliarden Tonnen steigen, womit nach längerer Zeit wieder ein Lageraufbau möglich gewesen wäre. Diese Aussicht ist durch den Ukraine-Krieg nun aber gefährdet. Auch der Maispreis ist auf das Doppelte des üblichen Werts gestiegen. An den Märkten wird im „Bushel“ abgerechnet, also dem Scheffel (der in Mitteleuropa schon seit über hundert Jahren nicht mehr verwendet wird). Während der Preis für einen Bushel üblicherweise um drei US-Dollar schwankte, notiert Mais derzeit bei sieben US-Dollar, etwa 360 Dollar je Tonne. Mais kostet jetzt so viel wie Weizen vor dem Krieg.

Soja ist für die EU ein besonders heikles Thema, da die Ölpflanze in der Tierfütterung eine entscheidende Rolle spielt und in Westeuropa keine günstigen klimatischen Verhältnisse vorfindet. Aufgrund der derzeit praktizierten Produktionsweise sorgt eine Soja-Krise im Endeffekt für einen Mangel an Steaks, Hühnerfilets und anderen Köstlichkeiten. Neben dem Import aus Brasilien sind die Lieferungen aus der Ukraine von großer Bedeutung für die EU. Die Weltproduktion ist nach starken Zuwächsen bei 368 Millionen Tonnen angelangt und dürfte heuer durch die Ukraine-Krise sinken. Der Sojapreis lag lange zwischen acht und neun Dollar je Bushel, heute zahlt man 17 Dollar, das entspricht 700 Dollar je Tonne. Dieser Preis stellt den gesamten Getreidemarkt in den Schatten.

Zu bemerken ist, dass bei Soja, wie auch bei den anderen Getreideprodukten, ein erster vorübergehender Preisschub bereits zur Jahresmitte 2021 eintrat, der heute rückblickend als Warnsignal erscheint. 2021, ohne Ukraine-Krieg, wirkten sich die starke Nachfrage bei ungenügender Produktion sowie die Störung der Lieferketten durch die Corona-Krise und nicht zuletzt die lange Sperre des Suezkanals preissteigernd aus.

Fazit: Der Ukraine-Krieg löst eine Welternährungskrise aus, die kurzfristig nicht zu lösen ist. Diese kommt gleichzeitig mit der ebenfalls durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Energiekrise zustande. Beide bilden mit der anhaltenden Corona-Krise ein teuflisches Trio, das alle ohnehin vorhandenen Strukturschwächen bloßlegt, nicht zuletzt in der EU.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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