Politik

Ungarns Wähler haben der EU einen tödlichen Schlag versetzt - doch in Brüssel merkt es niemand

Lesezeit: 6 min
09.04.2022 13:56
Viktor Orbáns Triumph könnte der Anfang vom Ende der EU sein, denn so mancher europäische Politiker wird dem Vorbild des ungarischen Ministerpräsidenten folgen.
Ungarns Wähler haben der EU einen tödlichen Schlag versetzt - doch in Brüssel merkt es niemand
Brüssel: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán trifft zu einem Gipfel der EU-Staats- und Regierungs-Chefs ein. (Foto: dpa)

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Das Ergebnis der ungarischen Wahlen vom vergangenen Sonntag bedeutet für die EU einen Sprengstoff, der weit dramatischer ist als der Austritt Großbritanniens. Der Sieger, Langzeit-Ministerpräsidenten Viktor Orbán, hatte sich in seinem Wahlkampf als Verteidiger eines unabhängigen Ungarns präsentiert, eines Ungarns, das sich unter keinen Umständen Brüssel beugen wird. Die Wähler haben seiner rechtskonservativen Partei FIDESZ die absolute Mehrheit gesichert, wobei das spezielle Wahlsystem für eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament sorgt. Für die EU-Spitzen hieße das eigentlich, zur Kenntnis zu nehmen, dass man Wahlen gewinnen kann (und zwar hoch), selbst wenn man die rechtsstaatlichen Grundsätze der EU verletzt und die Regeln der freien Marktwirtschaft ignoriert, wenn man trotz Mitgliedschaft in EU und NATO enge Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin unterhält und wenn man den Einmarsch in ein anderes Land - wenn überhaupt - nur halbherzig kritisiert. Dass all das keine Nachahmer in anderen EU-Staaten finden wird, ist kaum zu erwarten - mit anderen Worten: Die Union ist in ihrem Bestand gefährdet, und zwar ernsthaft. Aber in Brüssel bekommt man das nicht mit - man lebt in seiner eigenen, selbstgeschaffenen kleinen Welt.

Die vereinigten Oppositionsparteien konnten Orbán nichts anhaben

Es ist am Ergebnis auch nichts umzudeuten: Fast alle Oppositionsparteien hatten sich verbündet, um die Ära Orbán zu beenden - mit dem Ergebnis, dass sie kläglich scheiterten. Die ungarische Bevölkerung will also eindeutig einen Anti-EU-Kurs - und nicht nur das. Die EU- und menschenrechtswidrigen Verfassungsreformen in den vergangenen zwölf Jahren stören kaum jemanden. Auch an den antisemitischen Attacken nimmt die Mehrheit keinen Anstoß. Die Knebelung der freien Meinung ist kein großes Thema in der breiten Öffentlichkeit, obwohl etwa 80 Prozent der Medien dem Diktat der Regierung unterworfen sind - die Argumentation der Opposition, wegen der gesteuerten Presse sei die FIDESZ unschlagbar, hat keinerlei Wirkung, die Bürger winken ab. Fakt ist: Die Ungarn wissen genau, warum sie Orbán wählen, und nehmen die Demokratie-Defizite dafür in Kauf.

Ungarn schert sich nicht um die wirtschaftspolitischen Vorgaben der EU

Orbán schert sich auch nicht um die Regeln der EU, die einen freien Wettbewerb vorschreiben und staatliche Eingriffe zugunsten von bestimmten Unternehmen, Branchen oder Regionen verbieten. Der autoritäre Politiker verfolgt eine Mischung aus freier Marktwirtschaft und staatlicher Förderung, wie sie eigentlich für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg typisch - und auch durchaus angemessen - war. Wobei Ungarn seine Missachtung der EU-Vorschriften argumentativ recht einfach untermauern kann: Schließlich unterhält die EU selbst einen wahren Förderungsdschungel, der eine wahre Verhöhnung des von ihr propagierten freien Wettbewerbs darstellt. Mit dem „Green Deal“ und der aktuellen Umsetzung des „750-Milliarden-Programms“ wird derzeit sogar eine immer umfassendere öffentliche Wirtschaftslenkung aufgebaut. Die EU ist da übrigens kreativ, manche würden auch sagen scheinheilig: Wenn sie sich als Hilfs- und Steuerungseinrichtung aufspielt, stellt sie das als eine Wohltat dar - tut ein einzelner Mitgliedsstaat das Gleiche, so wird dies von Brüssel als Verletzung der EU-Grundsätze bezeichnet und dementsprechend geahndet.

Mit Subventionen, Preis- und Lohnregelungen zu einem Wachstum von sieben Prozent

Mit der Methode, Investitionen großzügig zu fördern, Privathaushalte über Steuersenkungen und Zuschüsse zu subventionieren, bei Bedarf Preise zu regulieren, gelegentlich auch Löhne und Renten festzulegen, hat Ungarn einen relativ hohen Wohlstand bei gleichzeitig geringer Arbeitslosigkeit erreicht. Das erste Covid-Jahr 2020 brachte einen stärkeren Einbruch, aber schon im Jahr 2021 konnte mit dieser Art von Wirtschaftspolitik wieder ein kräftiges Wachstum von 7,1 Prozent erzielt und die Arbeitslosigkeit bei 4,1 Prozent gehalten werden. Selbst im Gespräch mit liberalen, kritischen Ungarn, die die Menschenrechtsverletzungen verurteilen, hört man dann auch stets den Hinweis, Orbáns autoritäre Politik sei zwar abzulehnen, aber man dürfe eben auch nicht die wirtschaftliche Erfolgsstory übersehen. So müssen auch wir konstatieren, daran geht kein Weg vorbei, dass Ungarns erfolgreiche Wirtschaftspolitik den vielen anderen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckenden Staaten Europas durchaus als Vorbild dienen könnte.

Im Übrigen verhindert Orbán bewusst einen Beitritt Ungarns zum Euro, da er in der Währungsunion weitere Regeln seine dirigistische Politik behindern würden. Auch kann die ungarische Zentralbank als Verwalterin des Forint unabhängig vom Euro und der EZB agieren.

Allerdings stellt sich die Frage, warum Ungarn denn überhaupt noch in der EU bleibt? Nun, die Antwort ist leicht gefunden: aus dem EU-Budget fließen jährlich etwa drei bis vier Milliarden Euro nach Budapest, und dieser Betrag ist bei einer Gesamtwirtschaftsleistung von rund 145 Milliarden Euro eine nicht zu unterschätzende Summe.

Wie viel Geld ist eine Menschenrechtsverletzung wert?

Dieser Umstand verleitet die EU-Spitzen zu der absurden Idee, man müsse Ungarn nur den Geldhahn abdrehen, dann werde Orbán die Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit in der Verfassung sowie die Beschneidung der Menschenrechte schon wieder korrigieren. Als ob Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einen Preis hätten, als ob man sie mit Subventionen aufrechnen könnte! Die demokratischen Grundsätze der ungarischen Verfassung werden - etappenweise - seit 2010 immer weiter beschnitten, wobei die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit den Anfang machte. Die EU hätte somit längst die Mitgliedschaft Ungarns aussetzen und für ruhend erklären müssen. Nach dem Völkerrecht sind Verträge nichtig, wenn die Voraussetzungen, unter denen sie geschlossen wurden, nicht mehr bestehen. Nachdem die demokratische Verfassung, die 2004 eine Voraussetzung für den Beitritt Ungarns zur EU war, nicht mehr in Kraft ist, kann es auch die Mitgliedschaft nicht mehr geben. Das bestimmt das „Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge“ aus dem Jahr 1969, das auch von Ungarn unterschrieben wurde.

Die EU ist als Hüterin der Menschenrechte und der Demokratie unglaubwürdig geworden

Nachdem man sich in der EU zu diesem Schritt bisher nicht entschließen konnte und auch jetzt nicht entschließen kann, wird eine Entscheidung über Jahre hinausgezögert, wodurch jede Glaubwürdigkeit verloren geht. Lächerlich ist auch die jüngste Reaktion: Das Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag quittierte der Präsident des EU-Rats der Regierungen, der Belgier Charles Michel, mit der großspurigen Erklärung, man werde jetzt mit ganzer Kraft gegen Ungarn vorgehen. Doch das ist einfach nur leeres Geschwätz. Fakt ist, dass die EU in den vielen Jahren des Zögerns und Lavierens unglaubwürdig geworden ist, und dass Brüssel auch in dieser Situation - in der es sich mit einem Wahlergebnis konfrontiert sieht, das offenbart, dass die Mehrheit der Bevölkerung eines Landes die ständige Brüskierung der EU-Institutionen unterstützt - nicht weiß, was es tun soll, und daher gar nichts tun wird. Jetzt müsste man sich in Brüssel fragen, welche Konsequenzen der ungarische Weg für die Wahlen in den anderen Mitgliedstaaten der EU haben wird, mit anderen Worten: Welches Land dem ungarischen Beispiel folgen wird? Doch man steckt lieber den Kopf in den Sand und spielt Vogel Strauß!

Die geopolitische Impotenz der EU wird in Ungarn bloßgelegt

In Ungarn werden nicht nur die verfassungsrechtlichen und wirtschaftspolitischen Grundsätze der EU mit Füßen getreten, in Ungarn findet auch die Offenbarung der geopolitischen Impotenz der Union statt. Und zwar vor allem durch die Wähler. Die Wahlen fanden zu einem Zeitpunkt statt, als das brutale Vorgehen der russischen Armee gegen die ukrainische Zivilbevölkerung weltweit für Entsetzen und Abscheu sorgte. Ungarn ist ein Nachbarland der Ukraine, und so hätte schon die Nähe der Ereignisse eine größere Betroffenheit und einen Aufschrei auflösen müssen. Nicht zuletzt sollte in Ungarn noch die Erinnerung an die sowjetische Diktatur und an die Niederschlagung des Aufstands 1956 durch die russische Armee wach sein. Aber: Nichts davon. Viktor Orbán hält als einziger EU-Staatschef seine engen Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin aufrecht, untersagt Waffenlieferungen über ungarisches Gebiet an die Ukraine und distanziert sich vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij; lahme Erklärungen gegen den Krieg und eine halbherzige Unterstützung der EU-Sanktionen gegen Russland runden das Bild ab. Aber: (Wieder)gewählt wird Orbán dennoch.

Die Botschaft an Brüssel ist deutlich: Ungarns Bevölkerung erwartet keinen Schutz aus Brüssel für den Fall, dass ihr Heimatland unter Druck aus Moskau geraten sollte. Da ziehen die Magyaren es vor, dafür zu sorgen, mit dem Riesenreich im Osten in gutem Einvernehmen leben, und keine Probleme mit der früheren Okkupationsmacht zu bekommen.

Diese Haltung ist allerdings nicht nur ein Signal an die EU-Führung. Immerhin ist Ungarn seit 1999 auch NATO-Mitglied und wäre also eigentlich angehalten, die aktuelle anti-russische Politik der NATO mitzutragen. Offensichtlich hält man in Budapest jedoch nicht viel von dem immer wieder behaupteten Schutz durch die westliche Verteidigungsallianz. Das ist gut nachzuvollziehen - schließlich war man als unmittelbarer Nachbar Zeuge, wie die NATO-Vertreter den Ukrainern vorgaukelten, die Allianz würde im Ernstfall an der Seite der Ukraine stehen, nur um jetzt das Land in seinem Krieg mit Russland allein zu lassen. Die Rechtfertigung der NATO-Granden lautet, die Ukraine sei schließlich kein NATO-Mitglied, und man werde doch für die Ukraine keinen Weltkrieg riskieren. Da muss man sich Ungarn fragen, ob denn die NATO für das NATO-Mitglied Ungarn einen Weltkrieg riskieren würde?

Ist Ungarns Schaukelpolitik zwischen Ost und West eine kluge Strategie? Oder der Weg in die Katastrophe?

Aufmerksam registriert wird in Osteuropa, dass Putin nicht nur die Ukraine wieder zu einem russischen Vasallen machen möchte, sondern auch einen Rückbau der NATO-Osterweiterung fordert. Vor allem die an der EU-Ostgrenze in den neuen NATO-Staaten von Litauen über Polen bis Rumänien errichteten Raketenbasen werden vom Kreml als Bedrohung Russlands gesehen. Während die anderen europäischen Staaten, die in direkter Nähe zu Russland liegen, Druck auf die NATO, die EU und die USA ausüben und eine weitere Aufrüstung zum Schutz vor möglichen russischen Übergriffen einfordern, geht Budapest den Weg in die andere Richtung und bemüht sich um eine freundschaftliche Beziehung mit Moskau.

Im Grunde betreibt Ungarn eine Politik, die eigentlich maßgeschneidert für die Ukraine wäre: Mit der Pflege der Freundschaft zu Putin beruhigt Orbán den möglichen Aggressor, der das sowjetische Reich wieder herstellen möchte, und schafft dem Land Ruhe im Osten. Gleichzeitig distanziert er sich von der EU und der NATO, bleibt aber doch Mitglied der beiden westlichen Organisationen (das kann die Ukraine natürlich nicht tun, da sie ja kein Mitglied ist), agiert also gleichsam als „neutraler“ Staat. Ein ähnlicher Balanceakt könnte sich auch für die Ukraine empfehlen. Allerdings gilt für Ungarn und gegebenenfalls auch für die Ukraine – mit einer derartigen Politik landet man leicht zwischen sämtlichen Stühlen und hat alle zu Feinden.

Eine Perspektive, die Ungarn schon aufgrund seiner Geschichte fürchten muss, schließlich befand sich das Land Jahrhunderte unter osmanischer, österreichischer und zuletzt bis 1990 unter russischer Herrschaft. Diese Perioden bilden in ihrer Gesamtheit das große Trauma der Ungarn, die allerdings auch nur zu gerne hören, wenn Orbán nationalistische Parolen drischt und sein Land gegen den „neuen Diktator“ aus Brüssel verteidigt. Mit seiner Mischung aus geschickter Wirtschaftslenkung, dreisten Menschenrechtsverletzungen und cleverer Schaukelpolitik zwischen West und Ost ist Orbán derzeit erfolgreich. Ob er damit das von den Ungarn seit Jahrhunderten ersehnte freie, unabhängige, starke Land zu schaffen vermag, ist allerdings fraglich. Über das Magyaren-Reich ist das letzte Wort noch nicht gesprochen - sein Schicksal steht in den Sternen.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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