Politik

Der Westen eskaliert, statt Verhandlungen anzustreben: Die Gefahr eines Atomkriegs wächst

In der Ukraine ist eine Pattsituation entstanden. Warum versucht der Westen nicht, Russland und die Ukraine an einen Tisch zu bringen?
05.05.2022 17:22
Aktualisiert: 05.05.2022 17:22
Lesezeit: 5 min
Der Westen eskaliert, statt Verhandlungen anzustreben: Die Gefahr eines Atomkriegs wächst
Eine britische "Sea Ceptor"-Rakete. (Foto: dpa)

Die Debatte über die Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine hat die deutsche Öffentlichkeit in den letzten Wochen stark bewegt. Während der Autor dieser Zeilen im privaten Bereich regelmäßig Zeuge von harscher Kritik an solchen Lieferungen ist, wird von Seiten der Politik und in den Medien zunehmend sogar für die Lieferung noch schwererer Waffen plädiert. Friedensverhandlungen mit Russland werden zunehmend ausgeschlossen, das Risiko eines Atomkriegs wird heruntergespielt.

Russlands Militärausgaben

Sehr häufig wird als Argument für Waffenlieferungen angeführt, dass angeblich die Ukraine nur das allererste Opfer einer umfassenden russischen Aggression sei - auch Deutschland und Westeuropa seien von Russland direkt bedroht. Nüchtern betrachtet erscheint diese Argumentation allerdings sehr fragwürdig. So verzeichnete Russland im Jahr 2021 Militärausgaben von 66 Milliarden Dollar, allein die USA haben dagegen für ihre Streitkräfte rund 800 Milliarden Dollar ausgegeben. Alle NATO-Staaten zusammen investierten in ihr Militär im vergangenen Jahr über 1,15 Billionen Dollar: Das ist mehr als das 17-fache der russischen Militärausgaben. Wer kann angesichts solcher Zahlen ernsthaft glauben, dass Russland für ein derart hochgerüstetes Bündnis eine Gefahr darstellt? Zudem die NATO ein Bündnis von 30 Staaten mit gegenseitiger Beistandsverpflichtung ist, während Russland allenfalls mit der schwachen militärischen Unterstützung von Weißrussland rechnen kann.

Ist das Baltikum wirklich bedroht?

Derzeit scheint selbst der russische Angriff auf die Ukraine - die kein NATO-Mitglied ist - weitgehend festgefahren. Geländegewinne sind zwar durchaus möglich (allerdings auch Rückeroberungen durch die ukrainischen Kräfte), doch es ist nicht abzusehen, dass es noch zu größeren russischen Durchbrüchen kommt. Die russischen Soldaten, viele von ihnen Rekruten, scheinen wenig motiviert, für Putins Krieg ihr Leben opfern zu wollen.

Das Baltikum und Polen werden im Gegensatz zur Ukraine von den Russen nicht als Teil ihrer „russkij mir“ (russischen Welt) gesehen. Sowohl die russische Bevölkerung als auch das Militär könnten wohl kaum für eine Invasion dieser Staaten begeistert werden - ein solcher Angriff würde schnell, so er denn überhaupt stattfinden könnte, in sich zusammenbrechen. Wie können da einzelne deutsche Politiker mit tiefer Inbrunst von einer russischen Bedrohung des Baltikums sprechen? Offensichtlich wird bewusst ein Bedrohungsszenario aufgebaut, das die deutsche Bevölkerung zu immer neuen finanziellen und persönlichen Opfern für die Ukraine mobilisieren soll.

Putins falsche Einschätzung

Auch wenn Putin schwer berechenbar ist, so sind ihm doch die Kräfteverhältnisse zwischen Russland und der NATO bewusst. In Sachen Ukraine war das ganz anders: Hier hat sich Putin komplett verkalkuliert und sowohl die Kampfbereitschaft der Ukrainer als auch die massive militärische Hilfe des Westens unterschätzt. Die russische Militärführung hat hieraus die Konsequenzen gezogen und beschränkt ihre Operationen jetzt weitgehend auf die Ostukraine.

Es muss die Frage erlaubt sein, warum es angesichts der Tatsache, dass beide Seiten zuletzt keine größeren Gebietsgewinne mehr erzielen konnten, nicht zu ernsthaften Verhandlungen über einen Waffenstillstand kommt. Seit Anfang April hat es keine direkten Verhandlungen zwischen den beiden Kriegsparteien mehr gegeben. Immerhin: Mitte April hat die russische Regierung ein Dokument mit ausgearbeiteten Vorschlägen für eine Friedenslösung nach Kiew gesandt.

Keine Verhandlungen

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij erklärte anfangs, dieses Dokument nicht erhalten zu haben. Sein Berater Mychajlo Podoljak musste später aber einräumen, den russischen Vorschlag durchaus empfangen zu haben. Er bemängelte allerdings, dass darin keine neuen Vorschläge von russischer Seite enthalten seien: „Das ist das Kommuniqué von Istanbul, das die Ukraine der russischen Seite in Istanbul übergeben hat. Dann hat sich die russische Seite Zeit genommen, die Vorschläge zu studieren - vor allem in Bezug auf eine Einigung über Garantien und Sicherheiten - und dann [lediglich ein paar] Gegenvorschläge und Anmerkungen gemacht.“

Die Ukraine fordert, dass zum einen die russischen Truppen sämtliche seit dem Beginn des Krieges eroberten Gebiete wieder räumen und zum anderen bilaterale Verhandlungen über eine Rückgabe der Krim geführt werden. Dies lehnt Moskau kategorisch ab, da die Krim „Teil Russlands“ sei. Angesichts der militärischen Lage sind die Positionen der Ukraine aber auch wenig realistisch. Es wäre für Kiew schon ein Erfolg, wenn die russischen Truppen die seit Kriegsbeginn eroberten Gebiete wieder räumen. Doch sowohl den Besitz der Krim als auch die Unabhängigkeit der Separatisten-Gebiete Donezk und Luhansk wird Russland wohl kaum aufgeben.

Merkwürdig ist, dass Präsident Selenskij zu Beginn der Verhandlungen in Istanbul Ende März noch kompromissbereiter schien als derzeit. Offensichtlich haben die massiven Waffenlieferungen des Westens bei der ukrainischen Regierung die Hoffnung aufkommen lassen, doch noch einen Sieg erringen zu können. In diesem Glauben werden sie vor allem von den USA und Großbritannien bestärkt.

Neutralität der Ukraine versus endloser Krieg

Noch bis Ende März war Selenskij bereit, für sein Land einen neutralen Status und den Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft zu akzeptieren. Aktuell ist dazu aus Kiew kaum noch etwas zu hören. Stattdessen signalisiert man - genau, wie Russland es auch tut -, dass es wenig Sinn mache, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Die russische Regierung wirft der Ukraine vor, dass sie seit den Verhandlungen in Istanbul verschiedene Positionen geändert habe. Hat hier die NATO ihren Einfluss geltend gemacht, um doch noch eine zukünftige NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zu ermöglichen? Aber auch Moskau signalisiert, wie gesagt, aktuell wenig Verhandlungsbereitschaft.

Es führt kein Weg daran vorbei, Druck auf beide Kriegsparteien auszuüben, damit sie endlich einen Waffenstillstand vereinbaren. Auf Russland wird durch die Sanktionen und die Waffenlieferungen an die Ukraine massiv Druck ausgeübt, und die Appelle, die Waffen niederzulegen, richten sich immer nur an Moskau und nie an Kiew. Der britische Premier Johnson forderte mit der Aussage, mit Putin zu verhandeln sei das Gleiche „wie mit einem Krokodil, dass dein Bein zwischen seinen Kiefern hat“, zu sprechen, indirekt zu einem Abbruch der Friedensverhandlungen auf. Und US-Präsident Biden spricht offen davon, dass die amerikanischen Waffenlieferungen „nicht nur der Verteidigung der Ukraine, sondern auch dem ukrainischen Sieg gegen Russland“ dienen sollten.

Gefahr der atomaren Eskalation

Natürlich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung. Doch letztendlich müssen sowohl die ukrainische als auch die russische Regierung Zugeständnisse machen, um ein Ende der Kämpfe zu erreichen. Ein Waffenstillstand ist schon deshalb dringend notwendig, um eine weitere militärische Eskalation zu vermeiden. Wenn einige Staaten, besonders die USA, Großbritannien und Polen, aber auch EU-Präsidentin Ursula von der Leyen auf einen ukrainischen Sieg setzen und einen Waffenstillstand in weite Ferne rücken, so nehmen sie bewusst die Gefahr einer atomaren Eskalation in Kauf. Und zugleich akzeptieren sie stillschweigend, dass bis zur Erreichung eines Sieges viele weitere tausende ukrainische Zivilisten und Soldaten sterben werden.

Russland ist zwar nicht in der Lage, die NATO mit konventionellen Waffen zu gefährden, aber im atomaren Bereich stellt sich die Situation vollkommen anders dar. Russland besitzt nach Einschätzung von ICAN, der Initiative zur Abschaffung von Atomwaffen, sogar etwas mehr Atomsprengköpfe als die USA.

Während Moskau in den vergangenen Jahren Teile der Armee vernachlässigte, hat es sein Nukleararsenal und besonders die Trägersysteme in nicht geringem Maße modernisiert. Wenn sich Putin durch die massiven Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine in die Defensive gedrängt fühlt, könnte er als letzte Option den Einsatz nuklearer Waffen wählen. In seiner aktuellen Putin-Biografie zitiert der Journalist Thomas Fasbender eine Aussage, die Putin vor einigen Jahren einem russischen Interviewer gab: „Wenn du gewinnen willst, musst du jeden Kampf so kämpfen, als wäre es der letzte und entscheidende. Du musst davon ausgehen, dass es keinen Rückzugsort gibt und du bis zum Ende durchhalten musst.“

Schon allein diese Sätze sollte bei den führenden Politikern des Westens die Alarmglocken schrillen lassen. Sie sollten sich mit aller Kraft für einen schnellen Waffenstillstand einsetzen, anstatt darauf zu hoffen, durch immer neue Waffenlieferungen einen Sieg der Ukraine in unbestimmter Zukunft zu ermöglichen. Auch wenn niemand einen Nuklearkrieg will: Die Gefahr eines Hineinschlitterns in einen atomaren Konflikt ist so groß, wie seit der Kuba-Krise vor 60 Jahren nicht mehr.

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