Als "politisch obsolet" hat der Generalsekretär des estnischen Verteidigungsministeriums, Kusti Salm, auf einer Veranstaltung des US-Think-Tanks CBSA (Center for Strategic and Budgetary Assessments) die derzeitige Strategie der Nato an ihrer Ostflanke bezeichnet. Diese setzt auf Abschreckung durch einen sogenannten "Stolperdraht": eine kleine Streitkraft, die einen Angriff nicht wirklich abwehren kann, potenziellen Angreifern jedoch signalisiert, dass man sich zu wehren bereit ist und einen Gegenschlag führen wird. "Abschreckung durch Bestrafung" (engl.: "deterrence by punishment") heißt diese Strategie. Ein Konzept, das sich, so Salm, überlebt habe.
Abschreckung durch Verhinderung statt Abschreckung durch Bestrafung
Stattdessen solle laut dem estnischen Politiker ein Umdenken hin zur "Abschreckung durch Verhinderung" (engl.: "deterrence by denial") stattfinden: Dabei sollen die Aussichten eines potenziellen Angreifers auf einen militärisch erfolgreichen Angriffs bereits im Vorfeld möglichst gering gehalten werden. Doch Salm äußerte Zweifel daran, dass dieses Konzept derzeit umsetzbar sei, sprich, dass die von der Nato in Polen und im Baltikum positionierten Streitkräfte einem russischen Angriff standhalten könnten: "Es wäre lächerlich zu behaupten, dass die zweitgrößte Atommacht der Welt durch ein Bataillon irgendwie abgeschreckt werden könnte. Das ist ein Scherz", kritisierte er - zu Recht. Denn auch wenn die gegenwärtige militärische Lage ein Vordringen russischer Truppen gen Westen auf den ersten Blick unwahrscheinlich erscheinen lässt, befeuert Moskau selbst solche Befürchtungen.
Denn Putin, seine Politiker und seine Medienleute attackieren die nationale Souveränität europäischer Nationen in zuverlässiger Regelmäßigkeit. So erklärte Andrei Klischas, Mitglied des Russischen Föderationsrats, erst kürzlich infolge von Litauens Umsetzung der EU-Sanktionen, dass sich Litauen in den letzten Jahren nie als unabhängiger Staat etabliert habe. Putin selbst fiel jüngst wiederum mit der Behauptung auf, dass der russische Zar Peter der Große keinen Krieg gegen Schweden geführt und dem Land nichts weggenommen habe. Stattdessen habe er sich lediglich russische Erde zurückgeholt. Noch explizitere Drohungen wurden im staatsnahen russischen Fernsehen Polen entgegengeschleudert, von der Androhung nuklearen Massenmords gegenüber Großbritannien ganz zu schweigen.
Baltikum und Baerbock fordern mehr Truppen und Munition statt "Stacheldraht"
Dass das erst seit wenigen Jahrzehnten nicht mehr unter russischer Gewaltherrschaft lebende Baltikum sich in Anbetracht dessen durch einen "Stolperdraht" nicht adäquat abgesichert fühlt, kann also kaum verwundern. Der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks forderte dementsprechend auf dem letzten Treffen der Nato-Verteidigungsminister nicht nur mehr Truppen an der Ostflanke, sondern auch Material- und Munitionslager sowie ständige Kommandostrukturen vor Ort. Die Gefahr eines russischen Angriffs auf die baltischen Nato-Länder sieht Deutschlands Verteidigungsministerin Lambrecht auch: Schließlich versprach sie die Stationierung 1000 weiterer Soldaten in Litauen, die eine neue internationale Kampfgruppen-Brigade mit 3000 bis 5000 Mann anführen sollen.
Nato-Generalsekretär Stoltenberg wiederum beteuerte, er hoffe, dass viele andere Mitgliedsstaaten es Deutschland gleichtun würden und verwies auf das nächste Nato-Gipfeltreffen in Madrid am 29. und 30. Juni. Ob die Erhöhung der Truppenkontingente an der Ostflanke in den Augen der Balten und Polen ausreichen wird, ist allerdings zu bezweifeln.
Aber immerhin wird überhaupt über die Verteidigungsbereitschaft der Nato gesprochen - sie dürfte einen zentralen Punkt auf den Tagesplänen der Konferenztage darstellen. Denn Verlautbarungen der Politik in diese Richtung kommen längst nicht mehr nur aus Osteuropa. So forderte die deutsche Außenministern Annalena Baerbock bereits nach Bucha und Mariupol eine Neujustierung der "alten Stacheldraht-Logik". Das betreffende Land müsse schlimmstenfalls zuerst hilflos eine Invasion erleben, bevor es von seinen Verbündeten wieder befreit werden könne - das sei keine geeignete Strategie.
Neue Strategie soll Nato auch gegen nicht-militärische Gefahren wappnen
Ein Szenario, das, so Baerbock bei einem Besuch in Vilnius im März, nach den russischen Kriegsverbrechen nicht mehr akzeptabel sei. Baerbock wird mit ihren Forderungen keineswegs allein dastehen. Dennoch soll der kommende Nato-Gipfel sich inhaltlich nicht ausschließlich um die Lage in der Ukraine, respektive an der Nato-Ostflanke, drehen. Stattdessen soll das neue strategische Gesamtkonzept der Nato vorgestellt werden. Neben rein militärischer Abschreckung soll es dabei auch um Lieferkettengefährdungen, Cyber-Angriffe, den Klimawandel sowie disruptive Technologien gehen – ein Gesamtpaket in Sachen Abschreckung also. Das bestätigte jüngst auch David van Weel bei einer Veranstaltung des US-Verteidigungsportals "Defense One".
"Das strategische Konzept muss für das nächste Jahrzehnt überlebensfähig sein", so der stellvertretende Nato-Generalsekretär für neu entstehende Sicherheitsherausforderungen. Van Weel weiter: "Es muss also weit über die aktuelle Krise in der Ukraine hinausgehen. Es befasst sich mit den Auswirkungen des Klimawandels, der Innovation, des Einsatzes hybrider Kriegsführung und des Cyberkriegs auf unsere Sicherheit. Aber auch mit der Resilienz. Wie widerstandsfähig sind unsere westlichen Gesellschaften gegenüber dieser Art von Angriffen und wie können wir dagegen vorgehen?" Seit der Veröffentlichung des letzten strategischen Konzepts der NATO im Jahr 2010 habe sich viel verändert. Bereits vor der russischen Invasion habe der Aufstieg Chinas – und die Dominanz der Volksrepublik im Bereich neuer Technologien – die Nato zunehmend beunruhigt. Das neue strategische Konzept, so van Weel, solle der Tatsache Rechnung tragen, dass künftige Bedrohungen für die Nato und ihre Mitglieder nicht nur militärischer Natur sein werden.