Politik

Chaos nach der Frankreich-Wahl: Ein verratenes Vermächtnis - und was das für Deutschland bedeutet

Lesezeit: 6 min
25.06.2022 09:26
Die Franzosen haben bei der Wahl mal wieder Ohrfeigen verteilt - fast alle haben ordentlich eins gewischt bekommen.
Chaos nach der Frankreich-Wahl: Ein verratenes Vermächtnis - und was das für Deutschland bedeutet
Am Arc de Triomphe ist eine Skulptur von Marianne, dem Symbol der französischen Republik, während einer Demonstration schwer beschädigt worden. (Foto: dpa(

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Das Ergebnis der französischen Parlamentswahlen: Eine schallende Ohrfeige für die EU. Wieder einmal haben die Bürger der Grande Nation demonstriert, dass ihre Begeisterung für Europa - gelinge gesagt - bescheiden ist. Der überzeugte Europäer Emmanuel Macron ist zwar kürzlich als Präsident bestätigt worden, aber in der Nationalversammlung hat sein Mitte-Wahlbündnis die absolute Mehrheit verloren. 245 Sitze konnte sie erobern – das sind 44 zu wenig, um ohne Unterstützung aus den Reihen der Opposition regieren zu können. Zum erneuten Male ist deutlich geworden, dass die von Macron verfolgten Ziele in Sachen „Europa“ im eigenen Land auf Widerstand stoßen.

Die von Putin geförderte Partei von Marine Le Pen darf jubeln

Das stärkste Alarmsignal für Europa besteht im sensationellen Ergebnis der rechtsnationalen Gruppe um Marine le Pen. Die kämpferische EU-Gegnerin und aggressive Nationalistin steigerte mit ihrer Partei „Rassemblement National“ die Zahl der Mandate von bedeutungslosen 8 bei der letzten Wahl auf nunmehr gewichtige 89. Das ist eine Zunahme um das elffache; die 89 Sitze entsprechen nun 15,4 Prozent der insgesamt 577. Le Pens dominante Botschaft besteht in der Wahrung der nationalen Interessen Frankreichs als Gegensatz zur konsensdominierten EU-Politik und zur Globalisierung. Diese Richtung verfolgt die Politikerin seit langem, doch hat sie in den vergangenen Jahren ihren aggressiven Ton gemildert. Heute betont Le Pen den Respekt für die französische Verfassung und die demokratischen Institutionen des Landes; den Austritt aus der EU verlangt sie auch nicht mehr. Rechtspopulismus mit staatstragendem Habitus kommt an.

Auch einen anderen Makel hat die Politikerin durch betontes Wohlverhalten abzustreifen versucht. Wie fast alle europäischen Parteien der extremen Rechten wurde auch die Le Pen-Partei stets von Russland finanziell unterstützt - Präsident Wladimir Putin versucht, auf diese Weise die EU zu de-stabilisieren. In den vergangenen Monaten hat sich Le Pen allerdings bei jeder nur passenden Gelegenheit vom russischen Präsidenten distanziert. Was die Frage aufwirft: Wie ehrlich meint sie das? Nun, genaugenommen kann nur sie die Frage beantworten. Die Annahme liegt jedoch nahe, dass diese Erklärungen ebenso wie die Bekenntnisse zur Republik nur dem Wahlerfolg dienen sollten. Jetzt sitzt die vermutlich immer noch enge Putin-Freundin mit 89 Abgeordneten im Parlament und bekämpft den Aufbau einer europäischen Sicherheitspolitik. Dabei kann sie, ganz unverdächtig, eifrig die Erinnerung an den von allen verehrten Präsidenten de Gaulle strapazieren, der die Stärkung der eigenen Armee abseits von der NATO durchgesetzt hat. Das war allerdings vor sechzig Jahren.

Das Bündnis der Linken ist stärkste Oppositionskraft: Geht´s den Deutschen jetzt ans Portemonnaie?

Ein weiterer Schlag gegen Macron erweist sich ebenfalls als Schlag gegen Europa: Die linken Parteien haben für die Wahl das Bündnis NUPES gebildet und sind nun als Gruppe mit 131 Abgeordneten die stärkste Opposition. Anders als Macron, der sich um eine Sanierung der Staatsfinanzen bemüht, besteht ihr Hauptziel in der Erhaltung und im Ausbau der üppigen Sozialleistungen, allen voran der höchsten Renten aller Länder unseres Kontinents. Frankreich ist durch die Kosten des Sozialstaats bereits vollkommen überschuldet, und diese Schulden werden unter dem Druck der Linken weiter steigen.

Nur: Der katastrophale Zustand der zweitgrößten Volkswirtschaft der EU belastet alle. Anstatt dabei zu helfen, den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen, zieht NUPES die gesamte EU mit in den Abgrund, beziehungsweise hält die Hand offen, damit die Bürger der anderen Mitgliedsstaaten – vor allem die aus Mittel- und Nordeuropa – den Franzosen ein frühes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und ein höchst bequemes Rentnerdasein ermöglichen. Diesen Weg hat Macron in den vergangenen Jahren mit der Durchsetzung gemeinsamer europäischer Anleihen vorgezeichnet. Die Erlöse werden auf die einzelnen Staaten verteilt, das heißt, die Anleihen sind nicht Schulden der Einzelstaaten, sondern der EU insgesamt - alle Länder haften solidarisch. Letztlich haften alle für die Finanzierung der französischen Renten, die höher sind als alle anderen Altersbezüge in Europa.

Die Linken feiern eine Renaissance mit ihren 131 Mandaten (22,7 Prozent aller Sitze). NUPES steht für „Nouvelle Union populaire écologqiue et sociale“ (Neue ökologische und soziale Volksunion) und wird von Jean-Luc Mélenchon dominiert, den man als „linkes Urgestein“ charakterisieren kann. Mélenchon präsentiert NUPES gerne als eine Partei, doch handelt es sich tatsächlich um einen Zusammenschluss, der schon im Wahlkampf nur mit Mühe zusammengehalten werden konnte. Zu bezweifeln ist, ob dieses Bündnis auch im parlamentarischen Alltag bestehen bleibt. Bei näherer Analyse erweist es sich nämlich als ein zerstrittener Haufen, den nur das gemeinsame Interesse an großzügigen Sozialleistungen zusammenhält:

  • Mélenchons Partei „Das unbeugsame Frankreich“ hält 72 Sitze im Parlament.
  • Die Sozialistische Partei hat 26 Sitze bekommen.
  • Die Grünen 23 Sitze.
  • Die Kommunisten 12.

Schon diese Aufzählung zeigt, wie zersplittert die politische Landschaft in Frankreich ist. Damit nicht genug, neben NUPES gibt es noch kleinere Linksparteien, die mit wenigen Sitzen den Einzug ins Parlament geschafft haben. Das Gleiche gilt auch für eine Reihe rechte Gruppierungen.

Mit Vollgas zurück in das Chaos der Ära vor Charles de Gaulle

Unter der Bezeichnung „Gemeinsam“ (Ensemble!) sind die Anhänge Macrons in den Wahlkampf gezogen und haben 245 der 577 Parlamentssitze erobert, stellen also 42,5 Prozent der Abgeordneten. Die von Macron nach seiner Trennung von den Sozialisten gegründete Partei „La République en Marche“ sowie die kleineren Parteien „Mouvement démocrate“, „Horizons“ und „Agir“ verstehen sich als Einheit. Die Stimmenanteile werden dementsprechend nicht getrennt ausgewiesen. In vielen Parlamenten würde eine Quote von 42,5 Prozent genügen, um regieren zu können. In Frankreich ist dies nicht der Fall, und so braucht Macron 44 zusätzliche Abgeordnete, um die absolute Mehrheit von 289 Stimmen zu erreichen. Die Suche hat bereits begonnen.

Als nächstliegender politischer Partner würden sich die „Republikaner“ anbieten, die früher als die Partei des legendären Präsidenten de Gaulle das Land dominierten. Diese Partei befindet sich ideologisch, politisch und wirtschaftlich in der Mitte des politischen Spektrums und entspricht somit der Linie Macrons. Mehr noch: Viele Stimmen sind von den Republikanern zu Macron gewandert. Bei den Wahlen verbuchten die Nachfolger de Gaulles nur 61 Mandate und liegen somit hinter der NUPES und hinter Le Pen. Allerdings wären die 61 Abgeordneten problemlos in der Lage, Macron eine Regierungsmehrheit sichern, da hierfür – wie schon erwähnt – nur 44 notwendig sind.

Naturgemäß wurde diese Perspektive sofort nach dem Bekanntwerden des Wahlresultats diskutiert. Allerdings hat der Obmann der Republikaner, Christian Jacob, diese Möglichkeit bereits vehement ausgeschlossen und erklärt, seine Partei werde weder an einer Koalition teilnehmen noch ein gemeinsames Arbeitsprogramm paktieren. Er ging sogar so weit, zu erklären, man sei nicht in Deutschland, wo Koalitionen zur selbstverständlichen Praxis gehören, sondern eben in Frankreich. Übersetzt heißt diese Botschaft, dass Macron und der Premierminister beziehungsweise die Premierministerin – derzeit ist das Élisabeth Borne - sich bei jeder Gesetzesvorlage als Bittsteller bei Jacob einfinden sollen, um eine Mehrheit zu erhalten.

Jacobs Haltung ist ein Bekenntnis zum Chaos, das Frankreich bereits vor de Gaulle in der sogenannten Vierten Republik gekannt hat. Ständig wechselnde Mehrheiten und Regierungen mit kurzer Lebensdauer bestimmten die Politik. Ab 1958 sorgte der Übervater der Republikaner, de Gaulle, zuerst als Premierminister und dann als Präsident für Stabilität und schuf die bis heute bestehende Fünfte Republik. Da ist es schon kurios, wenn der Obmann der heutigen Gaullisten politische Instabilität, also Chaos, als wünschenswertes französisches Spezifikum bezeichnet. Emotional ist seine Reaktion verständlich - er soll mit seinen verbliebenen Getreuen jenen Präsidenten aus der politischen Patsche ziehen, der ihm die früheren Wähler abspenstig gemacht hat. Aber im Sinne von Stabilität und Verlässlichkeit ist sie ein tolldreistes Stück, ist sie scheinheilig und im Grunde ein Verrat an den eigenen Prinzipien.

Ein entscheidendes Element der Fünften Republik bilden die weitreichenden Kompetenzen des Präsidenten, die de Gaulle erst ermöglichten, die Stabilität im Lande herzustellen. Der Schlüssel zu diesen Vorrechten besteht im Artikel 49,3 der Verfassung, der den Präsidenten ermächtigt, mit Dekreten ohne Einschaltung des Parlaments zu regieren. Diese Bestimmung gibt es zwar immer noch, sie wurde aber mit einer Verfassungsänderung im Jahre 2008 korrigiert. Heute kann der französische Präsident nur mehr in Fragen, die die Staatsfinanzen betreffen, allein entscheiden. Er hat auch die Möglichkeit, den Beschluss anderer Gesetze zu erzwingen, doch können die Abgeordneten in der Folge die Regierung mit einem Misstrauensantrag stürzen und Neuwahlen auslösen. Regieren wie einst de Gaulle ist also nicht mehr möglich. Auch wurde schon 2002 die Amtszeit des Präsidenten von sieben auf fünf Jahre gekürzt.

In einem Satz: Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit durch die Partei des Präsidenten befindet sich Frankreich mit Vollgas auf dem Weg zurück in die Vierte Republik.

Eine EU-Armee wird es nicht geben

Vor allem die Bemühungen um die Schaffung einer europäischen Armee werden scheitern, weil der Nationalismus dominiert. Die meisten Franzosen lehnen es ab, die Landesverteidigung und die Atomwaffen zugunsten einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik aufzugeben (sie sind ihnen gewissermaßen heilig - genauso wie die Renten). Ohne Frankreich, dem militärisch potentesten EU-Land, gibt es aber keine europäische Verteidigung.

Die kommenden Tage stehen im Zeichen internationaler Gipfel-Diplomatie: Es finden Treffen der EU, der NATO und der G7 statt, alle im Zeichen des russischen Überfalls auf die Ukraine, alle im Zeichen einer Neukonzipierung der Strategie des Westens. Macron, der sich als „Mister Europa“ versteht, erscheint überall als lahmer gallischer Hahn. Dabei würde Europa dringend eine überzeugende Integrationsfigur brauchen. Die beiden Präsidenten Europas, Ursula von der Leyen in der EU-Kommission und Charles Michel im EU-Rat, sind dieser Anforderung nicht gewachsen.

Das Chaos in Frankreich entspricht der allgemeinen Situation in Europa

Das Bild, das Frankreich derzeit präsentiert, spiegelt die allgemeine Situation in Europa wider. Die letzte Wahl in Ungarn wurde als Anti-EU-Kampagne geführt, Premierminister Viktor Orban verteidigte die Zweidrittelmehrheit und regiert nun mit Dekreten unter Ausschaltung des Parlaments. In Italien ist Mario Draghis Regierung der nationalen Einheit durch eine Spaltung der Fünf-Sterne-Bewegung gefährdet. In Spanien erschüttert ein Abhörskandal das Land. Schweden ist drei Monate vor der Wahl und mitten in der Diskussion um den NATO-Beitritt nur knapp an einer Regierungskrise vorbeigeschrammt. Und so weiter, und so fort.

Dieses Europa ist gelähmt - man muss wieder einmal von einer Euro-Sklerose sprechen. Das ist im wirtschaftlichen Wettbewerb mit den USA und China eine Katastrophe. Darüber hinaus steht, nach dem Überfall auf die Ukraine, die Gefahr eines russischen Angriffs auch auf Westeuropa im Raum. Oder auch die völlige Zerstörung unseres Kontinents: In kurzen Abständen verweisen Putin oder einer seiner Getreuen auf die neue Satan-Rakete, die in wenigen Minuten 18.000 Kilometer zurücklegen und zehn Atombomben transportieren kann.

Was muss geschehen, damit die politische Kaste rechtzeitig aufwacht? Und wie kann man die Wähler dazu bringen, endlich zu begreifen, dass sie mit ihrer Stimmabgabe nicht eine momentane Emotion zum Ausdruck bringen sollten – sondern die Entscheidung treffen, ob Europa besteht oder untergeht?

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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