Finanzen

Der gewagte Spagat: Wie die EZB die Krisenländer retten will

Lesezeit: 5 min
21.07.2022 21:06  Aktualisiert: 21.07.2022 21:06
Monatelang hat die EZB die Meinung vertreten, die Inflation sei nur vorübergehend. Eine massive Fehleinschätzung. Jetzt sind Europas Währungshüter im weltweiten Vergleich die absoluten Nachzügler bei den Zinserhöhungen und müssen gleichzeitig einen gewagten Spagat schaffen: die Inflation bekämpfen, aber dabei die Schuldenländer nicht tiefer in die Krise stürzen.
Der gewagte Spagat: Wie die EZB die Krisenländer retten will
Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, will ganz genau hinschauen, welche Staaten Unterstützung von der EZB erhalten sollen. (Foto: dpa)
Foto: Philipp von Ditfurth

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Historische Zäsur bei der Europäischen Zentralbank: Die EZB entschloss sich zur ersten Zinserhöhung seit elf Jahren und das gleich mit einer unerwartet kräftigen Erhöhung. Die Währungshüter um EZB-Präsidentin Christine Lagarde beschlossen am Donnerstag, den Leitzins gleich um einen halben Prozentpunkt auf 0,50 Prozent heraufzusetzen. Auch der Einlagensatz wurde in gleichem Umfang angehoben – und zwar auf 0,00 Prozent. Banken müssen somit nicht mehr draufzahlen, wenn sie überschüssiges Geld bei der EZB parken. Die Zinsanhebung fiel damit doppelt so stark aus wie Lagarde & Co noch unlängst in Aussicht gestellt hatten. Mit dem Schritt leiten sie eine umfassende Wende in ihrer Geldpolitik ein. Letztmalig hatten die Euro-Wächter im Juli 2011 die Zinsen angehoben.

„Der EZB-Rat kam zu dem Urteil, dass im Zuge seiner Leitzinsnormalisierung ein größerer erster Schritt angemessen ist als auf seiner vorangegangenen Sitzung signalisiert“, erläuterte Lagarde. Sie stellte zudem weitere Zinsschritte in Aussicht: „Auf unseren nächsten Zinssitzungen wird eine weitere Normalisierung der Zinsen angemessen sein.“ Durch das Vorziehen des Ausstiegs aus den Negativzinsen könnten die Währungshüter zudem dazu übergehen, dass Zinsbeschlüsse nun von Sitzung zu Sitzung gefasst würden. „Wir werden von Monat zu Monat vorgehen und Schritt für Schritt“, sagte Lagarde. Der künftige Pfad werde von der Datenlage abhängen. „Was im September passiert, hängt davon ab, welche Daten wir für September haben.“ Die EZB befinde sich auf einem Normalisierungspfad, um ihr mittelfristiges Inflationsziel von zwei Prozent zu erreichen.

Nachzügler EZB

Die Inflation im Euro-Raum war im Juni unter anderem angetrieben von den hochschießenden Energiepreisen im Zuge des Ukraine-Kriegs auf ein neues Rekordniveau von 8,6 Prozent geklettert. Die Teuerung ist bereits seit Monaten auf dem Vormarsch und die EZB war kritisiert worden, sie habe die Entwicklung zu spät erkannt. Unter den großen Notenbanken zählt sie zu den Nachzüglern. Seit Juli 2021 haben laut dem Internationalen Währungsfonds mehr als 70 Notenbanken ihre Leitzinsen erhöht. Manche sind zum Teil sehr aggressiv gegen den Inflationsanstieg vorgegangen. Die US-Notenbank erhöhte im Juni ihre Leitzinsen sogar um 0,75 Prozentpunkte – das war der größte Zinsschritt seit 1994.

Die Wirtschaftsaktivität schwäche sich ab, sagte Lagarde. Der Ausblick auf das zweite Halbjahr und darüber hinaus sei eingetrübt. „Russlands ungerechtfertigte Aggression gegenüber der Ukraine ist eine anhaltende Wachstumsbremse“, sagte sie. Doch werde zumindest der Tourismus-Sektor die Konjunktur im dritten Quartal stützen. Die EZB gehe davon aus, dass die Inflation unter anderem aufgrund des anhaltenden Drucks durch die Energie- und Lebensmittelpreise noch einige Zeit unerwünscht hoch bleibe. „Ein höherer Inflationsdruck ergibt sich auch aus der Abwertung des Euro-Wechselkurses“, sagte Lagarde. Ein schwacher Euro verteuert Importe, was die Inflation weiter anheizt. Die Gemeinschaftswährung hat seit Jahresbeginn zum Dollar mehr als zehn Prozent an Wert verloren.

Spagat zwischen Ende der lockeren Geldpolitik und neuem Anleihenkaufprogramm

Die Zinswende ergänzend verständigten sich die Währungshüter auf ein neues Krisen-Anleihenkaufprogramm, mit dem die EZB stark verschuldete Staaten wie Italien bei Turbulenzen am Anleihenmarkt unterstützen kann. Das neue Werkzeug (Transmission Protection Instrument – TPI) soll dabei helfen, dass die Geldpolitik gleichmäßig im Euroraum wirken kann und es nicht zu einem Auseinanderlaufen der Finanzierungskosten der einzelnen Euro-Staaten kommt. Die Einheitlichkeit der Geldpolitik sei eine Voraussetzung dafür, dass die EZB ihr Preisstabilitätsmandat erfüllen könne, erklärte die Notenbank. Doch das Programm ist auch umstritten.

Das neue „Whatever it takes?“

Die EZB will sich mit ihrem neuen geldpolitischen Instrument auf den Ankauf öffentlicher Wertpapiere konzentrieren. Dazu zählen etwa Staatsanleihen. Die Restlaufzeit der Papiere solle sich zwischen einem und zehn Jahren bewegen, teilte die EZB nach ihrer Zinssitzung am Donnerstag in Frankfurt mit. Der Kauf privater Wertpapiere, etwa Unternehmensanleihen, könne erwogen werden, falls dies erforderlich sei.

Laut Lagarde kann jedes Land der Euro-Zone im Prinzip in den Genuss des Programms kommen. TPI sei für spezielle Situationen und Risiken geschaffen worden, die jeden Staat treffen könnten. Der EZB-Rat werde bei Bedarf darüber entscheiden, ob das Programm für ein Land aktiviert werde. Dabei würden eine Reihe von Indikatoren als Kriterien herangezogen. Insidern zufolge rechnen die Euro-Wächter derzeit nicht damit, dass TPI zur Beruhigung der italienischen Staatsanleihen herangezogen wird, die in den letzten Tagen infolge der Regierungskrise im Land unter Druck geraten waren. Doch wer weiß, ob und wann auch diese Einschätzung von der Realität überholt wird.

Der Umfang der Anleiheankäufe im Rahmen des TPI soll laut EZB von der Schwere der Gefahren abhängen. Die Ankäufe sind den Währungshütern zufolge „nicht von vornherein beschränkt“. Dabei bindet die EZB das Programm am mehrere Bedingungen, wie etwa die Schuldentragfähigkeit und will zur Feststellung unter anderem Analysen des Euro-Rettungsfonds ESM heranziehen. „Der EZB-Rat möchte es eigentlich nicht einsetzen, aber wenn wir das nutzen müssen, werden wir nicht zögern. Wir werden nicht zögern“, betonte Lagarde.

Die Kritik an dem Programm ließ nicht lange auf sich warten. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, hat die kräftige Leitzinserhöhung gelobt, aber auch Sorgen über das neue Anti-Krisen-Instrument geäußert. Die EZB habe einen richtigen Mittelweg zwischen Forderungen nach einer restriktiveren Geldpolitik und einer stärkeren Unterstützung der verletzlichsten Mitgliedsländer gewählt, sagte Fratzscher.

TPI sei das nötige Gegengewicht zum nun schnelleren Zinsanstieg in den kommenden Monaten und „einerseits klug, andererseits aber auch riskant“, so der DIW-Präsident. Denn es sei unklar, wie das Instrument genutzt werde. Die Bedingungen dafür seien so gering, „dass es de facto der EZB kaum Begrenzungen geben dürfte“. Er befürchte einen zunehmenden politischen Druck auf die EZB. „Ich erwarte, dass sich die EZB-Kritikerinnen und -Kritiker in Deutschland umgehend an das Bundesverfassungsgericht wenden werden.“ Der bevorstehende Konflikt könnte der Glaubwürdigkeit der EZB schaden.

Stefan Reccius von der Börsenzeitung kommentiert die EZB-Entscheidung folgendermaßen

„Allerdings geht von dem historischen Doppelbeschluss, mit Beginn der Zinswende ein neues Notfallinstrument gegen Verwerfungen am Staatsanleihenmarkt aufzulegen, eine zweite Botschaft aus. Sie muss jeden beunruhigen, dem an der Stabilität der Eurozone gelegen ist. Diese Botschaft lautet: Wenn es darauf ankommt, kann die EZB ihr Hauptmandat der Preisstabilität nur erfüllen, indem sie ein Sicherheitsnetz nach dem anderen für hoch verschuldete und notorisch labile Euro-Staaten wie Italien aufspannt.

EZB-Chefin Christine Lagarde würde das so niemals sagen. Etliche ihrer Aussagen lassen aber genau diesen Schluss zu. Während mancher Beobachter berechtigterweise hinterfragt, ob ein neues Anleihekaufprogramm den Ausstieg aus der lockeren Geldpolitik nicht konterkariert, dreht der EZB-Rat den Spieß um: Vielmehr werde das „Transmission Protection Instrument“ „die effektive Transmission der Geldpolitik“ – also deren Wirkung – unterstützen.

Lagarde hob auch die Bedeutung anderer Instrumente hervor: die flexible Handhabe der Anleihebestände aus dem Pandemie-Notfallprogramm PEPP. Dazu das bereits 2012 im Zuge der Euro-Rettung aufgelegte OMT-Programm. Nun also auch noch das als „Antifragmentierungsinstrument“ bezeichnete TPI. Ein prall gefüllter Werkzeugkasten für alle Fälle als Voraussetzung für die überfällige Zinswende – deutlicher hätte die EZB kaum machen können, wie prekär der Zustand der Währungsunion auch ein Jahrzehnt nach der Euro-Schuldenkrise ist.

„Der EZB-Rat würde TPI lieber nicht nutzen“: So ehrenwert die Aussage von Lagarde, so entlarvend ist das Prinzip Hoffnung. Wie beim nie aktivierten OMT-Programm setzt die EZB auch diesmal auf den Placebo-Effekt. Skeptikern schwant Böses: Das TPI wird – wie bislang jedes EZB-Kaufprogramm – eines Tages den Test vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen müssen. Die Kriterien für den Einsatz sind zwar vermeintlich ausbuchstabiert. Ob die Euro-Staaten sie aber auch erfüllen, liegt allein im Ermessen des EZB-Rats. Lagarde kokettierte lieber mit einem ordentlichen Maß an Geheimniskrämerei, statt auf berechtigte Zweifel einzugehen. Wer da Willkür wittert, liegt nicht falsch.“


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