Politik

„Sippenhaft“: Kommt ein EU-Einreiseverbot für russische Staatsbürger?

Sieben Sanktionspakete hat die EU bereits gegen Russland verhängt. Bislang mit überschaubaren Folgen für das Land. Nun steht eine neue Strafmaßnahme im Raum: Die EU könnte Russen weitgehend den Zutritt verwehren – obwohl es keine rechtliche Grundlage gibt. Kommt eine Art Sippenhaft für Staatsbürger?
18.08.2022 18:02
Aktualisiert: 18.08.2022 18:02
Lesezeit: 4 min
„Sippenhaft“: Kommt ein EU-Einreiseverbot für russische Staatsbürger?
Bereits jetzt dürfen russische Staatsbürger trotz Visum nicht mehr in ein bestimmtes EU-Land einreisen. (Foto: dpa) Foto: Pavel Byrkin

War es das für Russen mit dem Urlaub in Berlin, Paris oder Madrid? In der EU wird heftig über einen weitgehenden Vergabestopp für Visa an russische Staatsbürger diskutiert. Einige Länder sind längst vorgeprescht – noch bremst Kanzler Olaf Scholz (SPD) diese Pläne.

Ist es nun Putins Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, wie Scholz sagt? Oder trägt auch die russische Bevölkerung einen nicht unerheblichen Anteil daran? Sollten Russen also nicht mehr in die EU reisen dürfen?

Bislang war die Haltung der Europäischen Union eindeutig: Der russische Präsident Wladimir Putin und sein Umfeld sind verantwortlich für den Krieg. Viele von ihnen sind mit Sanktionen belegt worden. Wovor man sich in Brüssel bislang scheut, sind Strafen gegen die Bevölkerung – doch der Wind dreht sich, zumindest ein bisschen. Mehrere Regierungen sind mittlerweile der Ansicht, dass der russische Angriffskrieg auch für das Volk Konsequenzen haben sollte.

Befeuert hatte die Debatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang August mit einer Forderung nach einem Einreiseverbot für Russen. Innerhalb der EU machen Länder wie Estland, Lettland und Finnland Druck.

Sippenhaft für Staatsbürger?

„Ich finde es nicht richtig, dass russische Bürger als Touristen in die EU, den Schengen-Raum einreisen und Sightseeing machen können, während Russland Menschen in der Ukraine tötet“, sagte die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin Anfang der Woche. Ihre estnische Kollegin Kaja Kallas schrieb auf Twitter: „Europa zu besuchen ist ein Privileg, kein Menschenrecht.“ Beide argumentieren auch aus eigener Betroffenheit. Denn da der Flugverkehr zwischen Russland und der EU infolge des Kriegs eingestellt worden ist, sind die an Russland grenzenden Länder Estland, Lettland und Finnland für reisende Russen derzeit so etwas wie das Tor zur EU.

Immer mehr Länder setzen deren Reisefreiheit nun jedoch Grenzen und schränken die Vergabe von Schengen-Visa an Russen im Alleingang ein. Dazu gehören Estland, Lettland, Litauen und Tschechien. Finnland will ab September folgen, Polen erwägt eine ähnliche Regelung. Dänemark dringt auf eine EU-Lösung und will sonst ebenfalls selbst handeln.

Keine Einreise trotz Visum

Estland geht seit diesem Donnerstag noch einen Schritt weiter: Das Land lässt selbst einen Großteil jener Russen nicht mehr ins Land, die bereits ein estnisches Visum haben. „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, schrieb der estnischen Außenminister Urmas Reinsalu auf Twitter. Eine Sprecherin der EU-Kommission betonte am Donnerstag dennoch, man sei mit den EU-Staaten im Gespräch, um ein koordiniertes Vorgehen sicherzustellen.

Alleingänge bringen im Schengenraum nicht viel. Das Visum eines Landes gilt für alle 26 europäischen Länder im Schengen-Raum.

Bislang melden sich vor allem die Befürworter eines Einreiseverbots zu Wort. Kritische Stimmen aus den EU-Hauptstädten gibt es wenige – mit Ausnahme von Kanzler Scholz. „Es ist nicht der Krieg des russischen Volks, es ist Putins Krieg“, betont er. Zudem verweist er etwa auf russische Staatsbürger auf der Flucht. Ihnen dürfe man den Weg in die EU nicht erschweren. Unterstützung bekommt Scholz vom prominenten Kremlgegner Wladimir Milow, der vor einem „Visa-Krieg gegen Russen“ warnte.

Bürokratiemonster Einzelfallprüfungen

Ein grundsätzliches Verbot für alle russischen Bürger ist rechtlich ohnehin keine Option. Vielmehr müsse jeder Antrag einzeln geprüft werden, heißt es aus der EU-Kommission. Nach einer Einzelfallprüfung könnten Anträge dann abgelehnt werden – etwa, weil jemand eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die internationalen Beziehungen sei. Bestimmten Personen müsse immer ein Visum ausgestellt werden, etwa Journalisten oder Dissidenten.

In Russland selbst gehört ein Reiseverbot seit Tagen zu den meistdiskutierten Themen. Der Kreml warnte vor einer weiteren Verschlechterung der ohnehin bis zum Zerreißen gespannten Beziehungen mit dem Westen. Selenskyjs Vorschlag sei an „Irrationalität“ kaum noch zu übertreffen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Versuche, Russland zu isolieren, seien perspektivlos.

Sollte die Visa-Vergabe tatsächlich eingeschränkt werden, dürfte dies jedoch wie die vorangegangenen Sanktionen öffentlich weggelächelt werden. Schon jetzt haben andere und vor allem visafreie Ziele etwa in der Türkei und Ägypten mit Direktflügen Konjunktur.

Ohnehin verbringen Russen ihren Urlaub fast nur in der Heimat. Das staatliche russische Meinungsforschungsinstitut FOM veröffentlichte als Antwort auf die Diskussion in der EU eine Umfrage, nach der sich knapp 70 Prozent der Befragten noch nie im Ausland erholt haben. Ferienorte in Russland an der Schwarzmeerküste oder in der Region Krasnodar, an der Wolga oder auch im Altai-Gebirge erfreuen sich seit Jahren wachsender Besucherzahlen.

Dennoch ist Russland stets das Land, aus dem die meisten Anträge für ein Kurzzeit-Visum im Schengenraum kommen. 2021 waren es nach Daten der EU-Kommission coronabedingt zwar nur 536.241 Anträge, dies war jedoch immer noch knapp jedes fünfte Gesuch. Vor der Pandemie 2019 wurden sogar mehr als vier Millionen Anträge gestellt, was fast einem Viertel aller Ersuchen entsprach.

Wie weiter also? Tschechien, das derzeit den Vorsitz der EU-Staaten innehat, will die Frage bei einem Treffen der EU-Außenminister Ende August zur Sprache bringen. Außenminister Jan Lipavsky führt ein weiteres Argument für Visa-Einschränkungen ins Feld: Es handele sich auch um eine Frage der Sicherheit, betonte der Politiker unlängst. Es gehe darum, den Einfluss und die Tätigkeit der russischen Geheimdienste auf dem Gebiet der EU langfristig zurückzudrängen.

DWN
Finanzen
Finanzen USA Börsen: Überraschend deutlicher Rückgang der US-Inflation beflügelt die Aktienmärkte
18.12.2025

Die im letzten Monat überraschend stark abgekühlten US-Inflationsdaten befeuerten die Hoffnung, dass im Jahr 2026 weitere Zinssenkungen...

DWN
Politik
Politik Feuer und Tränengas: Tausende Bauern protestieren in Brüssel gegen Mercosur
18.12.2025

Feuer, Tränengas und Traktoren: Tausende Landwirte bringen Brüssels Europaviertel zum Chaos. Sie protestieren gegen das geplante...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Deutschlandfonds startet: Wie der Staat 130 Milliarden Euro private Investitionen lostreten will
18.12.2025

Deutschland braucht Wachstum, aber der Staat allein kann es nicht finanzieren. Die Bundesregierung setzt deshalb auf einen neuen Hebel: den...

DWN
Finanzen
Finanzen EZB-Zinsentscheidung: Leitzinsen der Eurozone bleiben erneut unverändert
18.12.2025

Die EZB-Zinsentscheidung ist gefallen: Wie erwartet lassen die Währungshüter der Europäischen Zentralbank den Leitzins für die Eurozone...

DWN
Immobilien
Immobilien Unser neues Magazin ist da: Urbane Zukunft – von Smart-Cities bis hin zu futuristischen Utopien
18.12.2025

Städte entscheiden, wie Freiheit, Wohlstand und Klimaschutz in der nahen Zukunft zusammengehen. Zwischen Sensoren, Sanierungswellen und...

DWN
Technologie
Technologie SMR in Schweden: Blykalla sichert fast 48 Mio Euro für KI-Energie
18.12.2025

Blykalla sammelt fast 48 Millionen Euro für kleine modulare Reaktoren (SMR) ein. Investoren aus Schweden, den USA und Japan setzen auf...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Steuersenkung in Restaurants: Warum Gäste kaum profitieren
18.12.2025

Die Politik senkt die Mehrwertsteuer in der Gastronomie - wird der Restaurantbesuch damit endlich wieder erschwinglicher? Wohl kaum....

DWN
Politik
Politik Trumps Rede an die Nation: Eigenlob und Schweigen im Walde
18.12.2025

Zwischen Weihnachtsbäumen und Selbstlob inszeniert Donald Trump seine Rede an die Nation als Erfolgsgeschichte. Er verspricht...