Einem an der Universität im belgischen Gent tätigen Experten für elektrische Energie zufolge könnte die französische Regierung im anstehenden Winter gezwungen sein, ganze Regionen zeitweise vom Stromnetz zu trennen, um noch größere Verwerfungen zu verhindern.
Der Energie-Wissenschaftler Joannes Laveyne verweist dabei insbesondere auf den Umstand, dass große Teile des nuklearen französischen Kraftwerkparks derzeit vom Netz getrennt sind und unklar ist, wie viele der Atomkraftwerke im Herbst und Winter wieder aktiv sein können.
Frankreichs Meiler stehen still
Frankreich generiert rund 70 Prozent seines Strombedarfs mithilfe der Nukleartechnologie. Doch mehr als die Hälfte der 56 Kernkraftwerke des Landes sind derzeit inaktiv – und das aus drei Gründen: Einige werden regelmäßigen Wartungsarbeiten unterzogen, andere werden repariert oder es werden drohende Mängel am Material vorsorglich behoben und die dritte Gruppe wurde angesichts der niedrigen Pegelstände in den Flüssen als Vorsorge vor Überhitzung vom Netz genommen oder in ihrer Leistung gedrosselt.
Frankreichs Energieministerin Agnès Pannier-Runacher sagte dem Sender LCI Ende Juli, dass 18 Meiler in den „kommenden Wochen“ wieder hochgefahren werden sollten. Ob diese Prognose eintrifft, ist aber umstritten.
„EDF (Frankreichs staatlicher Energieriese – die Red.) tut alles, um so viele Kraftwerke wie möglich bis zum Winter wieder in Betrieb zu nehmen, aber im Moment herrscht noch große Unsicherheit. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Stromknappheit kommt“, zitiert The Brussels Times den Wissenschaftler.
Aus diesem Grund seien Stilllegungen von Fabriken und Unternehmensproduktionen „so gut wie sicher“, sagte Laveyne. „Die Unternehmen werden vorübergehend schließen, weil der Strom einfach unbezahlbar wird. Die Regierung wird auf kontrollierte Stromabschaltungen zurückgreifen müssen: Regionen werden zum Beispiel für eine Stunde im Dunkeln sitzen, um Strom zu sparen.“
Gezielte Abschaltungen (im Jargon „Brownout“ genannt) sind erforderlich, um unkontrollierten Stromausfällen (sogenannten „Blackouts“) vorzubeugen. Diese sind in ihrer Wirkung auf die Bürger und die Wirtschaft eines Landes meist viel dramatischer, weil Netzbetreiber und Energieerzeuger die Kontrolle über die Situation verlieren und das Problem durch das europäische Verbundnetz in andere Staaten fortgesetzt wird.
EDF hatte zu Jahresbeginn angesichts der zusätzlichen zeitweisen Schließungen seine Leistungsprognose gesenkt und rechnet seitdem mit 295 bis 315 Terawattstunden produzierten Stroms statt mit 300 bis 330.
Bereits jetzt macht sich der stilliegende Betrieb einiger Reaktoren bemerkbar. Laut einer Veröffentlichung des französischen Energieministeriums wurde im ersten Trimester dieses Jahres 7,5 Prozent weniger Atomstrom produziert - weil so wenige Meiler verfügbar waren. Auch die Stromimporte nach Frankreich seien „beachtlicher“ geworden, hieß es vom Ministerium.
Deutschland liefert Strom
Bemerkenswert ist, das Deutschland von den Schwierigkeiten Frankreichs direkt betroffen sein könnte. Beide Länder sind enge Partner im Stromhandel und haben sich in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich mit Lieferungen von Strom während Netzfrequenzschwankungen und Engpässen ausgeholfen.
Wie aus Daten der Übertragungsnetzbetreiber hervorgeht, importierte Deutschland zwischen April und Juni circa 1,7 Terawattstunden Strom aus Frankreich. Das entspricht etwa 1,5 Prozent des Stromverbrauchs in diesen Monaten. Im Vergleich zum zweiten Quartal 2021 war der Nettoexport nach Frankreich, also die exportierte Menge abzüglich des Imports, in diesem Jahr mehr als fünf Mal höher, hieß es in einer Veröffentlichung der Bundesnetzagentur.
Den Daten zufolge gab Deutschland im Juni mehr Strom nach Frankreich ab als es aus dem Nachbarland holte. In den beiden vergangenen Jahren war es im Juni den Daten zufolge jeweils andersherum. Damals hatte Frankreich mehr Strom nach Deutschland exportiert als Deutschland nach Frankreich. Für die Wintermonate fällt auf, dass Frankreich zuletzt mehr Strom aus Deutschland eingeführt hat als im Vorjahr.
Bedeutsam ist der angeschwollene Strom-Export Deutschlands nach Frankreich vor allem, weil derzeit rund zehn Prozent der hierzulande erzeugten Elektrizität durch Erdgas gewonnen wird. Der Blog Blackout News schreibt dazu: „Der französische Energiekonzern EDF musste aufgrund der ausgefallenen Atomkraftwerke Strom für 24 Milliarden Euro im Ausland einkaufen. Allein Deutschland hat seit Jahresbeginn 12,7 Terawattstunden (TWh) Strom nach Frankreich exportiert, um das französische Netz zu stützen. Dafür müssen in Deutschland Gaskraftwerke einspringen, um den Bedarf zu decken. Die nach Frankreich exportierten Mengen erhöhen dadurch auch in Deutschland die Preise und gehen damit auch auf Kosten deutscher Verbraucher. Die Kosten für den teuren Importstrom darf der französische Energiekonzern aufgrund der Preis-Deckelung nicht an die Verbraucher weitergeben. Mittlerweile ist bei EDF ein Defizit von 8 Milliarden Euro aufgelaufen. Deshalb will Macron den Konzern jetzt vollständig verstaatlichen. Die Kosten dafür trägt dann der französische Steuerzahler.“
Ein Stromausfall „könnte eine Bedrohung für Belgien und Deutschland darstellen, da wir über eine Hochspannungsleitung miteinander verbunden sind“, sagte Laveyne. „Im schlimmsten Fall würden wir und andere europäische Länder ebenfalls im Dunkeln sitzen. Ich sage nicht, dass das in diesem Winter passieren wird – die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering -, aber was Frankreich betrifft, waren wir noch nie näher an einem Stromausfall.“