Der europäische Mittelstand ist in Kreditnot: In Frankreich, Irland, Italien, den Niederlanden, Portugal und Spanien ist die Neuvergabe von Krediten unter einer Millionen Euro an den Mittelstand seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 um durchschnittlich 47 Prozent gesunken. In Spanien (-66%) und Irland (-82%) ist der Rückgang am stärksten. Die wenigen Unternehmen, die dennoch einen Kredit erhalten, zahlen bis zu sechs Prozent höhere Zinsen als ihre deutschen Konkurrenten. Dieser Umstand verschafft deutschen Mittelständlern einen Wettbewerbsvorteil.
Den wenigen erfolgreichen europäischen Mittelständlern, die sich ihre eigene Nische geschaffen haben, stehen zahlreiche problembeladene und überschuldete Unternehmen gegenüber, insbesondere in den Branchen Bau, Immobilien und Gastronomie. „Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) in Europa benötigen dringend einen leichteren Kapitalzugang“, sagte John Ott, Partner bei Bain & Company und Co-Autor des Berichts „Restoring Financing and Growth to Europe's SMEs", den die internationale Managementberatung Bain & Company zusammen mit dem Institute of International Finance (IIF) erstellt hat.
Die Befragung von 140 Politikern, Bankern und Geschäftsführern in Frankreich, Irland, Italien, den Niederlanden, Portugal und Spanien bringe „die Notwendigkeit einer koordinierten, gesamteuropäischen Lösung zutage“, die den Betrieben helfen soll, auch in Zukunft Gewinne, Wachstum und Arbeitsplätze zu sichern. Dafür sollen nationale Kommissionen unter der Schirmherrschaft der Europäischen Kommission geschaffen werden, um die Finanzierung der Unternehmen zu verwalten, berichtet die österreichische Nachrichtenagentur APA.
Das klingt eher nach mehr Bürokratie als nach einer pragmatischen Chance, den Wirtschaftsmotor in Europa wieder auf Hochtouren zu bringen. „Kleine und mittlere Unternehmen stellen zwei von drei Arbeitsplätzen in Europa und 58 Prozent der Bruttowertschöpfung", sagte Ott. „Doch selbst gesunde, wachstumsstarke Mittelständler hungern in einigen Ländern nach Finanzierung, um weiter expandieren und neue Arbeitsplätze schaffen zu können."
Die Schere des deutschen und europäischen Mittelstands geht immer weiter auseinander. In Deutschland ist ein durchschnittliches mittelständisches Unternehmen doppelt so groß wie in Spanien. Das Management ist häufiger nicht Teil des Unternehmens. In vielen anderen Ländern gibt es kleinere Familienunternehmen, die in Eigenregie geführt werden.
„Darüber hinaus zahlen Mittelständler in Irland, Italien, Portugal und Spanien zwischen vier und sechs Prozentpunkte mehr Zinsen für ihre Bankkredite als vergleichbare Unternehmen in Deutschland. Das verzerrt die Wettbewerbsbedingungen weiter”, heißt es in dem Bericht.
Südeuropäische Banken müssen zuerst harte Regulierungen und höhere Eigenkapitaldecken berücksichtigen, bevor sie zu ihrem Kerngeschäft – der Kreditvergabe an Unternehmen und Privatpersonen – zurückkehren können. Viele Banken sitzen zudem auf faulen Krediten und giftigen Wertpapieren (hier). Sie scheuen neue Kredite, denn die Bonitätsbeurteilung von Unternehmen ist mit zusätzlichen Kosten verbunden. Zudem seien bürokratische Hürden für die Kreditvergabe noch immer zu hoch, so der Bericht.
Mittelstand muss Chancen im Ausland nutzen
Wissenschaftler Rudolf Hickel kritisierte die Banken auf einer Podiumsdiskussion der Commerzbank: „Mit ungeheurer Arroganz haben die Banken die Mittelständler jahrelang stehen gelassen, weil die Geldinstitute sich irgendwo mit spekulativem Investmentbanking rumgetrieben haben, statt die reale Produktion zu finanzieren“, so Hickel.
Was den europäischen Unternehmen schadet, ist eine Investitionschance für den deutschen Mittelstand. Der Wettbewerbsvorteil bei der Finanzierung wird von deutschen Unternehmen noch nicht intensiv genug genutzt. Einer Studie der Commerzbank zufolge sind nur noch neun Prozent der befragten mittelständischen Unternehmen bereit, ausländische Märkte zu betreten. Deutsche Mittelständler verschenken Wachstumspotenzial im Ausland. Die Commerzbank plant eine Offensive für den Mittelstand – das Kernsegment der Bank – um Gewinneinbußen der vergangenen Jahre zu kompensieren (mehr hier).
Jedes dritte international aktive mittelständische Unternehmen aus Bremen und Niedersachsen ist vertraglich an ausländische Partner gebunden, immerhin ein Anstieg von zwölf auf 34 Prozent seit 2007. Zwanzig Prozent unterhalten sogar einen eigenen Auslandsstandort. Viele Firmen schrecken jedoch vor Internationalisierung zurück. Die große Mehrheit der Befragten (89%) glaubt nicht an ein bald eintretendes Wirtschaftswachstum.