Knapp sieben Monate nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine hat Russland eine Teilmobilmachung der eigenen Streitkräfte angeordnet. Er habe diese Entscheidung nach einem Vorschlag des Verteidigungsministeriums getroffen und das Dekret unterschrieben, sagte Russlands Präsident Wladimir Putin in einer Fernsehansprache. Die Teilmobilisierung beginne noch an diesem Mittwoch.
Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu zufolge sollen 300 000 Reservisten gegen die Ukraine mobilisiert werden. Eingesetzt werden sollten bei der angeordneten Teilmobilisierung Reservisten mit Kampferfahrung, sagte Schoigu am Mittwoch im russischen Fernsehen. Insgesamt gebe es 25 Millionen Reservisten in Russland.
Was bedeutet die Teil-Mobilisierung konkret?
- Das Verteidigungsministerium spricht davon, dass es ein riesiges Potenzial an Reservekräften von 25 Millionen Menschen habe. Nach russischem Recht können theoretisch Männer und Frauen im Alter von 18 bis 60 Jahren als Reservisten einberufen werden, je nach ihrem Dienstgrad.
- Einberufen werden sollen jetzt zunächst 300.000 Militärreservisten, die bereits in der Armee gedient haben und über Kampferfahrung oder spezielle militärische Fähigkeiten verfügen. Studenten oder Wehrpflichtige - junge Männer, die einen zwölfmonatigen Pflichtdienst in den Streitkräften ableisten - werden nicht eingezogen.
- Der Mobilisierungserlass ist offenbar absichtlich vage gehalten, um den Behörden bei der Umsetzung einen großen Spielraum zu geben. Die Zahl 300.000 wird in der veröffentlichten Fassung des Dekrets gar nicht erwähnt. Sie stammt von Verteidigungsminister Sergej Schoigu.
- Hauptaufgabe der Reservisten wird laut Schoigu darin bestehen, die Frontlinie in der Ukraine zu verstärken, die derzeit über 1000 Kilometer lang ist.
- Die Reservisten können nicht sofort in der Ukraine eingesetzt werden, da sie zunächst eine Auffrischung ihrer Ausbildung absolvieren müssen. Westliche Militäranalysten gehen daher davon aus, dass es mehrere Monate dauern wird, bis sie zum Einsatz kommen. Berufssoldaten wird es erschwert, die Armee zu verlassen. Personen, die in der Rüstungsindustrie arbeiten, können den Dienst aufschieben.
- Erst am Dienstag hatte das russische Parlament einen Gesetzentwurf verabschiedet, der die Strafen etwa für Fahnenflucht, Beschädigung von militärischem Eigentum und Ungehorsam verschärft. Die freiwillige Kapitulation wird für russische Militärangehörige zu einem Verbrechen, das mit zehn Jahren Gefängnis bestraft wird.
- Reservisten erhalten finanzielle Anreize und werden wie vollzeitbeschäftigte Berufssoldaten bezahlt, die wesentlich mehr verdienen als den russischen Durchschnittslohn. Das könnte für einige Männer in der Provinz interessant sein, wo die Löhne traditionell niedriger sind als in den Großstädten.
- Die Ankündigung der Mobilisierung scheint bei einigen potenziellen Reservisten Panik ausgelöst zu haben. Laut Ticketverkaufsdaten waren One-Way-Flüge aus Russland am Mittwoch schnell ausverkauft. Es gab unbestätigte Medienberichte, wonach einige Männer bei der versuchten Ausreise von russischen Grenzsoldaten zurückgewiesen wurden.
Anzeichen deuteten auf Mobilisierung hin
Zuvor hatte das russische Parlament in Eilverfahren Gesetzesänderungen vorgenommen, die auf eine mögliche Vorbereitung für die Verhängung des Kriegsrechts im Land hindeuten könnten. So legte die Duma am Dienstag fest, dass Zeiten der "Mobilmachung" und des "Kriegszustandes" besonders anfällig seien für Verbrechen. Verschärft wurde unter anderem in zweiter und in letzter Lesung das Strafrecht, wonach etwa die Haftstrafen für das freiwillige Eintreten in Kriegsgefangenschaft und für Plünderungen deutlich erhöht werden.
Unabhängige und kremlnahe Beobachter sahen darin eine mögliche Vorbereitung des Kreml auf die Verhängung des Kriegszustandes und eine Mobilmachung. Putin hatte angesichts des Krieges in der Ukraine gesagt, dass Moskau dort noch nicht einmal richtig angefangen habe. Die Staatsduma verabschiedete ebenfalls ein Gesetz, wonach Ausländer, die sich zum Militärdienst verpflichten, schneller russische Staatsbürger werden können.
Der Kreml hatte nach der Niederlage in der Region Charkiw kürzlich noch erklärt, dass "im Moment" keine Mobilmachung anstehe. Allerdings wird seit Monaten darüber spekuliert, dass Putin zu diesem bisher beispiellosen Mittel greifen könnte, um Personalprobleme an der Front zu lösen. Er hatte erst am Freitag wieder betont, dass derzeit nur auf Vertragsbasis - also mit Freiwilligen - gekämpft werde.
Prominente russische Politiker, aber auch die Staatsmedien hatten gefordert, deutlich mehr Personal zu mobilisieren für einen schnelleren Vormarsch. Auch in den Separatistenregionen hatten die Kommandeure mehr Einsatz der russischen Führung gefordert angesichts des ukrainischen Vormarsches und des Risikos neuer Niederlagen durch schwere Waffen, die von Nato-Staaten geliefert worden waren.
Putin fordert Steigerung der Rüstungsproduktion wegen des Kriegs
Präsident Putin forderte auch eine deutliche Steigerung der Rüstungsproduktion. "Die Organisationen der Rüstungsindustrie müssen in kürzester Zeit die Lieferung der nötigen Waffen, Technik und Bekämpfungsmittel an die Streitkräfte gewährleisten", forderte er auf einer Sitzung mit den Chefs der russischen Rüstungsunternehmen. Gleichzeitig sei es nötig, bei der Waffenproduktion völlig auf Importe zu verzichten.
Die Separatisten in Donezk und Luhansk hatten angesichts des jüngsten ukrainischen Vormarsches von Moskau gefordert, sich deutlich stärker zu engagieren. Russland hatte seinen Einmarsch in der Ukraine am 24. Februar unter anderem mit der "Befreiung" der Gebiete Donezk und Luhansk begründet. Zunächst konnte das russische Militär große Teile der Ost- und Südukraine erobern.
Zuletzt allerdings musste der Kreml eine empfindliche Niederlage hinnehmen, die russischen Truppen zogen sich nach ukrainischen Angriffen fast völlig aus dem Gebiet Charkiw zurück. Die Staatspropaganda warnte danach vor einer möglichen verheerenden Niederlage in dem Krieg. Dagegen betont die russische Militärführung immer wieder, dass alles nach Plan laufe und alle Ziele erreicht würden.
Vier Regionen halten Referenden zu Beitritt ab
Die von Moskau besetzten Gebiete in der Ukraine wollen in umstrittenen Verfahren noch in dieser Woche über einen Beitritt zur Atommacht Russland abstimmen lassen. Die von Moskau anerkannten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine sowie das Gebiet Cherson im Süden und Militärmachthaber in der Region Saporischschja setzten die "Referenden" vom 23. bis 27. September an. Das teilten die Regionen am Dienstag mit.
Es handelt sich um Scheinreferenden, weil sie ohne Zustimmung der Ukraine, unter Kriegsrecht und nicht nach demokratischen Prinzipien ablaufen. Auch eine freie Arbeit internationaler unabhängiger Beobachter ist nicht möglich.
Russland signalisierte trotz Sanktionen und internationalen Widerstands Bereitschaft, die völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Territorien in sein Staatsgebiet aufzunehmen. Damit stünden sie unter dem Schutz der Atommacht, die seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar für den Fall einer Nato-Einmischung mit dem Einsatz der nuklearen Massenvernichtungswaffen droht.
Die Scheinreferenden, die weder von der Ukraine noch von der internationalen Gemeinschaft anerkannt werden, gelten als Reaktion auf die aktuelle ukrainische Gegenoffensive im Osten des Landes. Auf ähnliche Weise annektierte Russland 2014 die ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Der Westen reagierte damals mit Sanktionen, um Russland zu bremsen. Allerdings hat die russische Führung stets betont, sich durch die Strafmaßnahmen der EU und der USA nicht von ihren Zielen in der Ukraine abbringen zu lassen.
Russlands Ex-Präsident Medwedew bereit zur Aufnahme der Gebiete
Zuvor hatte der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew Beitrittsreferenden in den von Moskau besetzten Gebieten in der Ukraine gefordert, um diese unwiderruflich an Russland anzugliedern. "Nach ihrer Durchführung und der Aufnahme der neuen Territorien in den Bestand Russlands nimmt die geopolitische Transformation in der Welt unumkehrbaren Charakter an", schrieb er in seinem Blog im Nachrichtenkanal Telegram.
Russland könne nach dem Beitritt der Gebiete "alle Mittel des Selbstschutzes" anwenden. Russische Kommentatoren wiesen darauf hin, dass dies Kernwaffen einschließe. Die strategischen Atomstreitkräfte hatte Kremlchef Wladimir Putin zur Abschreckung für die Nato, sich in der Ukraine einzumischen, bereits in erhöhte Bereitschaft versetzen lassen.
Die russische Politologin Tatjana Stanowaja erklärte, dass Putin sich nach dem Scheitern seiner ursprünglichen Pläne, die Gebiete in der Ukraine rasch einzunehmen, zu den Beitrittsreferenden entschieden habe. Nach Aufnahme der Regionen habe er die Möglichkeit, die Territorien unter Androhung des Einsatzes von Atomwaffen zu verteidigen. Damit habe er seinen Einsatz in dem Krieg nun deutlich erhöht.
Die Ukraine reagierte auf die von Russland und den russischen Besatzungsbehörden angekündigten "Referenden" in den besetzten Gebieten im Osten und Süden des Landes gelassen. "Weder die Pseudoreferenden noch die hybride Mobilmachung werden etwas ändern", schrieb Außenminister Dmytro Kuleba am Dienstag beim Kurznachrichtendienst Twitter. Die Ukraine werde weiter ihr Gebiet befreien, egal, was in Russland gesagt werde.