Wirtschaft

Zentrale Gefahren für die Fed und China

Es ist verführerisch, der US Federal Reserve ihre jüngste Kehrtwende im Kampf gegen die Inflation zugutezuhalten. Es ist gleichermaßen verführerisch, dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping seine Rolle als Sachwalter eines aufstrebenden, starken Chinas zugutezuhalten. Doch beide verdienen das nicht – und zwar aus ähnlichem Grund.
02.10.2022 08:49
Lesezeit: 4 min

Dies gilt mit Sicherheit für die heutige Fed. Zwar hat die US-Notenbank die Federal Funds Rate (FFR) inzwischen drei Mal in Folge um jeweils 75 Basispunkte angehoben – die stärkste Erhöhung des maßgeblichen US-Leitzinses in einem Viermonatszeitraum seit Anfang 1982. Wie zu erwarten, protestieren viele Politiker und Kommentatoren lautstark und warnen vor den Gefahren, die drohen, wenn die Bank übers Ziel hinausschießen sollte. Ich bin anderer Meinung. Es war überfällig, dass die Fed begonnen hat, sich aus dem tiefsten Loch zu befreien, in dem sie je gesteckt hat.

Eingeständnis durch Powell

Meine Betonung liegt auf dem Wort „begonnen“. Die nominale FFR, die nun bei effektiv 3,1 % liegt, verharrt fünf Prozentpunkte unter dem Drei-Monats-Durchschnitt der Inflationsrate laut US-Verbraucherpreisindex (CPI) von 8 %. Ungeachtet der neuerlichen Entschlossenheit der Fed, einen ernsten Ausbruch der Inflation zu stoppen, ist es so gut wie unmöglich, dieses Ziel mit einer deutlich negativen realen FFR von rund -5 % zu erreichen.

US-Notenbankchef Jerome Powell hat inzwischen eingestanden, dass eine restriktive Geldpolitik erforderlich sein wird, um die Inflation zu zähmen. Lassen Sie uns übersetzen, was er damit meint. Basierend auf dem CPI liegt der neutrale Leitzins – im Wesentlichen ein Durchschnitt der realen FFR von 1960 bis 2021 – bei +1,1 %. Ein restriktiver Leitzins muss per definitionem höher ausfallen als ein neutraler; gehen wir also mal von einer realen FFR von 2 % aus. Mit einer realen FFR von -5 % liegt die Fed nicht mal in der Nähe einer neutralen Geldpolitik, von einer restriktiven ganz zu schweigen.

An dieser Stelle wird die Debatte problematisch: Powell hat auf seiner Pressekonferenz am 21. September geltend gemacht, dass die Fed-Politik nun das untere Ende der restriktiven Zone markiere. Er fasste diese Einschätzung durch die Brille der Kerninflation, gemessen anhand des sogenannten „Deflators des privaten Kernverbrauchs“, der Nahrungsmittel und Energie außenvorlässt. Die jährliche Kerninflation belief sich auf dieser Basis im Juli auf 4,6 %.

Idee geht in die 70er-Jahre zurück

Dies ist aus zwei Gründen eine enttäuschende Beobachtung: Die nominale FFR unterschreitet auch Powells bevorzugte Messgröße für die Inflation deutlich, und – schwerwiegender – die Fixierung der Fed auf die Kerninflation ist gefährlich. Dieser letztere Punkt traf Anfang der 1970er-Jahre zu, als ich zu den Fed-Mitarbeitern gehörte, die diesen Kernwert formulierten, und er tut es auch heute.

Die Idee des „Kerns“ beruht auf der Prämisse, dass bestimmte bedeutende Preisschocks vorübergehender Art seien und man sie daher unberücksichtigt lassen sollte – genau wie Powell das ursprünglich tat. Mich treibt noch immer die „Erbsünde“ meines ersten Chefs, des Fed-Vorsitzenden Arthur Burns, um, der vor rund 50 Jahren einen Schock nach dem anderen als vorübergehend verwarf, bis es viel zu spät war. Die schmerzliche Lehre daraus lautet: Eine Fed, die sich am Kern orientiert, kann daran scheitern.

Was China angeht, so geht es dort beim „Kern“ weniger um Inflation als um die persönliche Dimension der Führung. Chinas selbsternannter „zentraler Führer“ Xi Jinping spielt die zentrale Rolle bei den außergewöhnlichen Rückschritten bei der chinesischen Regierungsführung. Anders als bei der Politik der „Reform und Öffnung“, die vor über vier Jahrzehnten unter Deng Xiaoping begann, ist die schwere Hand der Xi-zentrischen Kommunistischen Partei inzwischen überall zu spüren. Dies gilt insbesondere für den Angriff der Regulierungsbehörden auf die Internetplattformen – die lange die vorderste Front von Chinas dynamischem privaten Sektor bildeten – sowie für das neuerliche Drängen auf eine Einkommens- und Vermögensumverteilung unter dem Deckmantel von Xis Kampagne des „gemeinsamen Wohlstands“.

Chinas Wirtschaftsaktivität wird gehemmt

Ich bleibe bei meiner ursprünglichen Einschätzung der gemeinsamen Auswirkungen dieser Entwicklungen: Sie bringen ein „Defizit bei der Privatinitiative“ hervor, das Chinas Wirtschaftsaktivität, Start-ups, originäre Innovation und Produktivität hemmen könnte. Da ein alterndes China nun früher als von den meisten Beobachtern (mich eingeschlossen) befürchtet an seine demografischen Grenzen stößt, ist der Mangel an einer Steigerung der Produktivität umso verstörender, insofern als er das Wachstumspotenzial des Landes begrenzt. Dasselbe lässt sich in Bezug auf Chinas Verbraucher sagen, deren Potenzial ungenutzt bleibt. Das Defizit bei der Privatinitiative wird deren Zukunftssorgen zwangsläufig verstärken und die angstgetriebenen Vorsorge-Ansparungen, die den Konsum in China schon seit langem hemmen, zum Dauerzustand machen.

Die Fixierung der Fed auf die Kerninflation und die Überhebung von Chinas zentralem Führer haben ein wichtiges Merkmal gemein: die Anfälligkeit für große politische Fehler. Soweit sich die Geldpolitiker durch ein Inflationsproblem, das sich als hartnäckiger erweist, als ein Fokus auf die Kerninflation nahelegt, in die Irre führen lassen, unterschätzen sie und die Finanzmärkte die Straffung der Geldpolitik, die letztlich erforderlich sein wird, um die Inflation wieder auf einen Zielwert von 2 % zu senken.

Ich vermute, dass die nominale FFR in den Bereich von 5-6 % steigen muss, um diese Aufgabe zu erfüllen, was bedeutet, dass die Fed ihre Kampagne zur Inflationssteuerung womöglich erst zur Hälfte umgesetzt hat. Dies legt für 2023 zusätzlich zu der sich in Europa abzeichnenden Konjunkturverlangsamung eine Rezession in den USA nahe. China, das mitten in einem ungewöhnlich steilen Abschwung steckt, dürfte als Wachstumsoase ausfallen. Eine globale Rezession im kommenden Jahr ist so gut wie unvermeidlich.

Fixierung auf Kerninflation kann Notenbank in die Irre führen

In dem Maße, in dem Chinas zentraler Führer durch eine Fixierung auf Ideologie und Kontrolle geblendet und auf das kommende harsche Wirtschaftsklima nicht vorbereitet ist, könnten seine Probleme gerade erst beginnen. Dies sind ironische Aussichten wenige Wochen vor dem 20. Parteikongress, von dem allgemein erwartet wird, dass er Xi eine beispiellose dritte fünfjährige Amtszeit als Staatschef Chinas übertragen wird.

Genau wie eine Fixierung auf die Kerninflation die Notenbanken in die Irre führen kann, ist die Machtkonzentration in den Händen eines zentralen Führers ein Rezept für eine fehlgeleitete und letztlich nicht durchzuhaltende Politik. Die Vorstellung eines „Kerns“ führt, was Lösungen für komplexe und schwierige Probleme angeht, leicht zu einem falschen Gefühl der Präzision. Das gilt für die Inflationssteuerung ebenso wie für die nationale Regierungsführung. Die Fixierung auf einen Kern ist für die USA genauso gefährlich wie für China – von der gemeinsamen Anfälligkeit beider, die einen besorgniserregenden und sich verstärkenden Konflikt zwischen ihnen befeuert, gar nicht zu reden.

Zur Person: Stephen S. Roach ist Professor an der Universität Yale und der Verfasser des in Kürze erscheinenden Buches Accidental Conflict: America, China, and the Clash of False Narratives (Yale University Press, November 2022).

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2022.

www.project-syndicate.org

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