Das Chaos auf dem britischen Anleihemarkt seit Ende September brachte die größten Pensionsfonds des Landes kurzzeitig an den Rand des Bankrotts. Dies stellte eine Bedrohung für das gesamte britische Finanzsystem dar, sodass sich die Bank of England zum Eingreifen gezwungen sah. In der Folge fiel das Pfund auf ein Rekordtief gegenüber dem Dollar. Zudem war das Chaos ein Warnschuss für das globale Finanzsystem insgesamt.
Auslöser war, dass die neue britische Regierung die größten Steuersenkungen seit den 1970er Jahren und zusätzliche Ausgaben ankündigte, was durch den Verkauf von noch mehr neuen Anleihen finanziert werden hätte müssen. Doch der Anleihemarkt ächzt bereits unter der Inflation von 10 Prozent in Verbindung mit viel zu niedrigen Zinssätzen. Zudem ist Großbritannien bereits überschuldet und die Wirtschaft steht vor einer Rezession.
Der Beinahe-Crash des globalen Finanzsystems ausgehend von Großbritannien war letztlich eine Revolte der großen institutionellen Investoren, die in Staatsanleihen investieren. Dabei handelt es sich um Versicherungsgesellschaften, Pensionsfonds, Rentenfonds, Hedgefonds und sogar um große Einzelanleger. Für ihre Investitionen nutzen sie manchmal eine große Hebelwirkung und komplizierte Derivate.
Wer sind die „Bond Vigilantes“?
Die Entscheidungen dieser großen Investoren können wie aus dem Nichts ein massives Chaos an den Anleihemärkten nach sich ziehen. Die Kurse der Papiere stürzen ab, die Renditen schießen in die Höhe, und die Liquidität verschwindet. Wenn aber der Anleihenmarkt nicht mehr funktioniert, dann ist auch das Funktionieren der Realwirtschaft gefährdet, die ja zu einem großen Teil auf Schulden basiert.
Im englischsprachigen Raum werden die großen skeptischen Anleiheinvestoren auch als „Bond Vigilantes“ bezeichnet, was auf Deutsch so etwas wie „Anleihewächter“ bedeutet. Der Begriff entstand, nachdem die Inhaber von Anleihen in den 1970er und 1980er Jahren durch die hohe Inflation in den USA massive Verluste erlitten hatten und in den Folgejahren nur sehr langsam wieder begannen, auf den Wert der Anleihen zu vertrauen.
„Als die Inflation 1983 endlich begann, sich zu legen, blieben die Anleihegläubiger misstrauisch und wollten nicht glauben, dass die Inflation nach all dem Elend, das sie durchgemacht hatten, nicht zurückkehren würde“, wie Wolf Richter berichtet. Die Anleger blieben skeptisch, weil die Staatsdefizite stark anstiegen. Daher gingen die Renditen der US-Staatsanleihen nur langsam zurück, bevor sie plötzlich wieder in die Höhe schnellten.
Doch diese Zeiten gerieten lange in Vergessenheit. Denn nach der Weltfinanzkrise im Jahr 2007 begannen die Zentralbanken, massiv Mengen Geld zu drucken und die Zinsen extrem zu senken. So wurden die „Bond Vigilantes“, also jene Anleger, die immer noch Zweifel am Wert von Anleihen hatten, von den Zentralbanken praktisch aus dem Markt beseitigt, auch weil die Inflationsraten relativ niedrig blieben.
Hohe Inflation ruft die „Bond Vigilantes“ auf den Plan
Doch all dies hat sich nun entscheidend geändert. Weltweit tobt die Inflation, zugleich straffen die Zentralbanken ihre Geldpolitik und erhöhen die Zinssätze. In der Folge stockt das Wirtschaftswachstum. Dadurch haben Anleiheinvestoren bereits riesige Verluste erlitten. Und als Großbritannien dann auch noch eine rücksichtslose Finanzpolitik ankündigte, führte dies nach mehreren Jahrzehnten zur Rückkehr der „Bond Vigilantes“.
Die Rückkehr der „Bond Vigilantes“ in Großbritannien kam schnell und mit Macht. Dies hat Schockwellen in die gesamte Welt geschickt. Überall sind die Anleiherenditen seitdem in die Höhe geschnellt. Zehnjährige US-Staatsanleihen werfen aktuell mit knapp 4,3 Prozent so viel ab wie seit über 14 Jahren nicht mehr. Bei deutschen Bundesanleihen erreichte die Rendite am Freitag mit rund 2,5 Prozent den höchsten Stand seit elf Jahren.
Wolf Richter erwartet, dass die „Bond Vigilantes“ nicht so schnell wieder weggehen werden. „Wenn sie es leid sind, von der rasenden Inflation, der rücksichtslosen Finanzpolitik und den künstlich niedrigen Zinssätzen verprügelt zu werden, weigern sie sich, Anleihen zu kaufen, und einige verkaufen Anleihen, sodass die Käufer verschwinden und neue Käufer mit höheren Renditen und niedrigeren Preisen auf den Markt gelockt werden müssen.“
Was in Großbritannien wirklich passiert ist
Vor ein paar Wochen, als die Inflation in Großbritannien längst bei 10 Prozent lag, versuchte die neue Regierung von Liz Tuss, der Wirtschaft ihren Stempel aufzudrücken. Sie schlug ein Konjunkturprogramm vor, das massive Steuersenkungen und Subventionen enthielt. Es stand zu erwarten, dass die Inflation noch weiter steigt und dass die Regierung höhere Schulden machen muss.
Die Steuersenkungen sollten im Wesentlichen den Vermögenden zugutekommen. Der Spitzensteuersatz sollte abgeschafft werden und eine Erhöhung der Unternehmenssteuern sollte rückgängig gemacht werden. Zugleich sollten die Energiesubventionen für Unternehmen und Haushalte angehoben werden. In der Folge drohte die Inflation außer Kontrolle zu geraten.
Die Entwicklung war ein Schock für den britischen Anleihemarkt. Denn für Anleihegläubiger bedeutet Inflation einen massiven Schaden, da die höheren Preise die Kaufkraft der Anleihen schwächen. Denn der Zinssatz dieser Anleihen reicht nun nicht mehr aus, um die Anleihegläubiger für den Kaufkraftverlust zu entschädigen.
Mitte August lag die Rendite zehnjähriger britischer Staatsanleihen, der sogenannten Gilts, noch bei rund 2 Prozent. Am 26. September, also nur sechs Wochen später, war die Rendite auf 4,5 Prozent gestiegen. Dies geschah zunächst, weil sich die „Bond Vigilantes“ vom Markt zurückzogen, also keine zusätzlichen Anleihen mehr kauften oder ihre Bestände sogar an den Markt verkauften.
Die steigenden Renditen führten dazu, dass eine Gruppe großer Pensionsfonds mit einem gehebelten System von Derivaten in Schwierigkeiten geriet, bei dem langfristige Staatsanleihen als Sicherheit verwendet wurden. Als die Renditen dieser Staatsanleihen in die Höhe schnellten, erhielten diese Pensionsfonds Nachschussforderungen von genau den Investmentbanken, die ihnen diese Strategien verkauft hatten.
Die Pensionsfonds mussten also die betroffenen Anleihen und andere Vermögenswerte abstoßen, um diesen Nachschussforderungen der Investmentbanken nachkommen zu können. Doch sie verkauften diese Anleihen genau zu dem Augenblick, als sich die „Bond Vigilantes“ bereits vom Markt zurückgezogen hatten. In der Folge geriet der gesamte britische Markt für Staatsanleihen in Panik.
Geldpolitik in der Zwickmühle
Um die Wogen zu glätten, griff die Bank of England mit einem befristeten Anleihekaufprogramm ein, kaufte aber weitaus geringere Mengen als angekündigt. Denn sie befindet sich in der Zwickmühle zwischen dieser Krise am Anleihemarkt und der hohen Inflation. Daher hat sie ihre Marktinterventionen wesentlich geringer gehalten als angekündigt, und die Maßnahmen endeten letzte Woche Freitag.
Die Gouverneure der Bank of England erklärten, dass sie auf ihrer nächsten Sitzung im November die Zinssätze anheben und die quantitative Straffung, die sie wegen der Krise aufgeschoben hatten, wieder in Gang setzen würden. Um die Wogen weiter zu glätten, kündigte Finanzminister Kwasi Kwarteng an, dass er den Plan zur Senkung des Spitzensteuersatzes auf Eis legt.
Doch der Aufruhr und die Gegenreaktionen hielten an. Letzte Woche Freitag entließ Premierministerin Liz Tuss ihren Finanzminister und ersetzte ihn durch Jeremy Hunt, einen ehemaligen Außenminister, der als ruhig und beruhigend für die Märkte gilt. Hunt verwarf am letzten Samstag umgehend den problematischen Steuersenkungsplan und sagte, dass einige Steuern sogar erhöht werden müssten.
Hunt sagte zudem, dass er die Staatsausgaben begrenzen werde und dass Liz Truss mit ihrem Plan, die Steuern zu senken und dazu die Kreditaufnahme zu erhöhen, einen Fehler gemacht habe. Am Donnerstag eskalierte die Regierungskrise in London weiter und Premierministerin Truss musste nach nur gut sechs Wochen im Amt zurücktreten. Wer ihre Nachfolge antreten wird, war zunächst unklar.
Die Macht der „Bond Vigilantes“
Die Kehrtwende der britischen Finanzpolitik kam zustande, weil der Anleihemarkt dagegen revoltierte, dass auf Kosten der Anleihegläubiger noch mehr Schulden gemacht und eine immer höhere Inflation herbeigeführt wird. Dies war die erste wirkliche Schlacht der „Bond Vigilantes“ seit vielen Jahren. Und sie haben diese Schlacht gewonnen. Das hat die Weltmärkte erschüttert und ist ein Weckruf auch für andere Staaten.
Der Anleihemarkt ist für überschuldete Länder und Unternehmen von enormer Bedeutung. Und die Renditen auf Staatsanleihen sind auch in den USA oder in Deutschland viel niedriger als die offiziellen Inflationsraten. Investoren verlieren derzeit also real massiv Geld. Die Zeiten, in denen die Zentralbanken mit Anleihekäufen die Anleihepreise nach oben trieben, scheinen vorbei zu sein. Und zugleich fällt die Kaufkraft.
Und die Ereignisse im Vereinigten Königreich zeigen, wie mächtig der Anleihemarkt sein kann, wenn er durch eine rasende Inflation, niedrige Zinssätze und eine verantwortungslose Finanzpolitik missbraucht wird. Die „Bond Vigilantes“ schauen sicherlich auch auf Deutschland. Denn auch hier schießt die Inflation nach oben, auch hier sind die Staatsausgaben aus dem Ruder gelaufen.