Gegen die deutsche Politikerin Ursula von der Leyen (CDU), aktuell Vorsitzende der EU-Kommission, ist vor einem belgischen Strafgericht Klage eingereicht worden. Es geht um die angeblich nicht sauber abgelaufene Impfstoff-Beschaffung durch die EU. Der zuständige Richter muss nun ermitteln und kann die Klage nicht für unzulässig erklären. Zuerst davon berichtet hatte die Wochenzeitung „Le Vif“.
Strafanzeige gegen Von der Leyen erlassen hat der EU-China-Lobbyist Frédéric Baldan. Es sei ihr in ihrer Funktion nicht erlaubt gewesen, einen Milliarden-Deal mit Pfizer-Chef Albert Bourla per SMS-Nachrichten einzufädeln. Die Klage spricht von „Amtsanmaßung und Titelmissbrauch“ und „illegaler Interessenvertretung“.
Der Ankläger hofft darauf, dass die Textnachrichten per Gerichtsanweisung jetzt offengelegt werden müssen. Im Falle, dass die Nachrichten nicht mehr auffindbar sind, könnte von der Leyen wegen der Zerstörung von Verwaltungsdokumenten belangt werden.
Von der Leyen habe ihre Kompetenzen klar überschritten, so der Vorwurf. Der Kommissionspräsidentin wird vorgeworfen, sich „ohne jegliches Mandat“ an die Stelle der EU-Mitgliedstaaten - einschließlich der belgischen Regierung - gesetzt zu haben, indem sie während der Covid-19-Pandemie „direkt und geheim“ (unter anderem per SMS) mit dem Pfizer-Vorsitzenden Albert Bourla Verträge über den Kauf von Impfstoffen ausgehandelt habe.
Die Anklage wirft von der Leyen auch vor, diese Textnachrichten gelöscht zu haben. Und wenn von der Leyen sich weigere, die Nachrichten offenzulegen, weil sie privat seien, dann würde das eine enge Beziehung zwischen Von der Leyen und Bourla aufzeigen, was einem ernsthaften Interessenkonflikt bei den Vertragsverhandlungen gleichkäme.
Der Beschwerdeführer Baldan ist als Lobbyist auf die Handelsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und China spezialisiert. In Begleitung seiner Anwältin reichte er die Klage am 5. April beim erstinstanzlichen Gericht in Lüttich ein. Der China-Lobbyist tritt als Zivilkläger auf. Das Verhalten der Präsidentin habe den „öffentlichen Finanzen Belgiens“ und dem „öffentlichen Vertrauen“ erheblich geschadet und bei Baldan selbst einen moralischen Schaden von 50.000 Euro verursacht.
Fragwürdiger Vertrag im Wert von 35 Milliarden Euro
Die fragliche Impfstoff-Vereinbarung der EU mit Biontech/Pfizer vom 19. Mai 2021, die laut Klage nicht rechtens zustande gekommen ist, hat einen Gesamtwert von schätzungsweise 35 Milliarden Euro, wenn der Vertrag vollständig erfüllt wird. Es ist der mit Abstand größte unter allen Verträgen, welche die EU-Kommission mit Pharmakonzernen unterzeichnet hat. 1,8 Milliarden Dosen mit dem Biontech-Impfstoff wurden bestellt. Die ersten beiden Verträge mit Pfizer waren jeweils nur rund 300 Millionen Chargen schwer.
Wie der Europäische Rechnungshof feststellte, „unterzeichnete die Kommission zwischen August 2020 und November 2021 elf Verträge mit acht Impfstoffherstellern, durch die bis zu 4,6 Milliarden Impfstoffdosen zu geschätzten Gesamtkosten von fast 71 Milliarden Euro beschafft werden konnten.“ Alleine dieser eine große Deal mit Pfizer machte also grob die Hälfte des gesamten Impfstoff-Budgets der EU aus. Sollte sich herausstellen, dass ausgerechnet dieser Deal – wie von der Anklage behauptet – nicht sauber verhandelt wurde, dann wäre das ein riesiger Korruptionsskandal.
Im Sommer 2020 unterzeichnete die EU-Kommission eine Vereinbarung mit den 27 Mitgliedstaaten. Diese Vereinbarung ermächtigt die Kommission, in deren Namen „Advance Purchase Agreements“ (APAs) mit Impfstoffherstellern abzuschließen. In der Strafanzeige heißt es: „Der Präsidentin der Kommission, Frau Ursula von der Leyen, werden in diesem Abkommen keine besonderen Befugnisse übertragen, da sie weder dem Lenkungsausschuss noch den Verhandlungsteams angehört. Die Kommissionspräsidentin konnte daher nicht behaupten, mit der Verhandlungsführung betraut zu sein.“
Im Juni 2022 forderte eine Koalition aus zehn osteuropäischen Mitgliedstaaten eine Neuverhandlung all dieser mit den Herstellern geschlossenen Verträgen, darunter zwangsläufig auch den größten mit Pfizer. Die gelieferten Impfstoffmengen wären viel zu hoch und würden den Bedarf der Vertragsländer weit übersteigen. Dadurch wären die nationalen Finanzen der zehn osteuropäischen EU-Mitglieder unnötig belastet worden. Auch Deutschland dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach auf zig Millionen Impfstoff-Dosen sitzenbleiben.
Kompetenzüberschreitung und Intransparenz
Es bleibt nun abzuwarten, was das belgische Gericht beschließen wird. Einige Indizien sprechen eher gegen die Kommissions-Vorsitzende.
Der Europäische Rechnungshof hat die „Alleinverhandlungen“ von der Leyens in einem Ende 2022 veröffentlichten Sonderbericht über die Beschaffung der Impfstoffe bereits an den Pranger gestellt. „Wir haben keine Informationen über die Vorverhandlungen für den größten Vertrag der EU erhalten“, heißt es auf Seite 29. Der Rechnungshof hatte die Kommission aufgefordert, für den Megavertrag eine Liste der konsultierten wissenschaftlichen Experten und der erhaltenen Ratschläge, den Zeitplan für die Verhandlungen, die Gesprächsprotokolle und Einzelheiten zu den vereinbarten Modalitäten vorzulegen. Man erhielt nichts davon.
Der Rechnungshof bestätigt außerdem, dass die von der Kommission festgelegten Verhandlungsregeln von Ursula von der Leyen missachtet wurden. Im Bericht steht dazu: „Im Laufe des Monats März 2021 führte die Präsidentin der Kommission die Vorverhandlungen, die einen Vertrag mit Pfizer/BioNTech zum Gegenstand hatten. Dies ist der einzige Vertrag, bei dem das gemeinsame Verhandlungsteam entgegen dem Beschluss der Kommission über die Beschaffung von Impfstoffen gegen COVID-19 nicht an dieser Phase der Verhandlungen teilgenommen hat.“
Zudem sprach der CEO von Pfizer gegenüber der New York Times noch kurz vor der Unterzeichnung des Megavertrags davon, dass er ein „tiefes Vertrauen“ zu von der Leyen aufgebaut habe.
Stichwort New York Times. Schon Ende Januar hat das US-Magazins die EU-Kommission in scheinbar genau dieser Sache vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt, wie ein Eintrag in dessen öffentlichen Register zeigt. Der Gegenstand der Klage ist dort nicht sichtbar. Das US-Politmagazin „Politico“ berichtete aber mit Bezug auf zwei anonyme Quellen, dass es um die Herausgabe der brisanten Textnachrichten zwischen der Kommissionspräsidentin von der Leyen und dem Pfizer-Geschäftsführer Bourla geht. Demnach argumentiere die New York Times, dass die EU-Kommission diese Nachrichten hätte veröffentlichen müssen.
Der Journalist Alexanter Fanta von Netzpolitik hatte schon lange vor der NY-Times-Klage unter Berufung auf das EU-Informationstransparenzgesetz Zugang zu den brisanten Textnachrichten beantragt. Die Kommission antwortete ihm auf seine Anfrage, dass keine solchen Dokumente existieren würden, die in diesem Kontext offenzulegen wären. Die Begründung: Textnachrichten seien kurzlebig und würden daher nicht als zu sichernde Dokumente gelten – folglich würden sie auch nicht dem Transparenzgesetz unterliegen. Es lägen sonst nur eine Email Bourlas an die Kommissionspräsidentin vom 28. März 2021 und die Niederschrift einer Videokonferenz vom 31. Januar 2021 vor.
Ermittlungen laufen bereits seit Herbst letzten Jahres
Am Rande bemerkt: Schon vor der Klage der New York Times wurden Ermittlungen gegen die EU-Kommission aufgenommen. Im Herbst 2022 bestätigte die Europäische Staatsanwaltschaft (EPPO), dass sie eine Untersuchung des gesamten Impfstoff-Beschaffungsprozessess eingeleitet hat. Details sind bisher nicht nach außen gedrungen. Der SMS-Austausch zwischen von der Leyen und Bourla sollte jedoch logischerweise einen Teil dieser Untersuchung bilden.
Die beiden bisherigen Untersuchungen haben aber keine strafrechtliche Relevanz und richten sich gegen die EU-Kommission als solches. Mit der Strafanzeige gegen von der Leyen ändert sich das. Es ist nicht mehr die Kommission, die wegen mangelnder Transparenz angeklagt wird. Vielmehr ist es die Präsidentin der Kommission, die persönlich für Handlungen verantwortlich gemacht wird, die nach belgischem Recht strafbar sind.
Wenn die Nachrichten tatsächlich vom Smartphone der Kommissionspräsidentin gelöscht wurden, müsste sich eine Version immer noch auf dem Smartphone des Pfizer-Chefs befinden. Dieses könnte von der Europäischen Staatsanwaltschaft beschlagnahmt werden. Oder nun durch den Belgischen Untersuchungsrichter, der womöglich „die Aufhebung der Immunität von der Leyens beantragen muss, um die Ermittlungen durchführen zu können“, schreibt Euractiv.
Die Corona-Pandemie scheint eigentlich größtenteils bewältigt zu sein. Die umstrittenen politischen Entscheidungen, die im Zuge dessen getroffen worden sind, werden uns hingegen noch viele Jahre beschäftigen. Die Pfizer-SMS-Affäre ist nur die Spitze des Eisbergs.