In seinem Buch Lonely Ideas: Can Russia Compete? zeigt der MIT-Wissenschaftshistoriker Loren Graham, dass viele Technologien, für die die Sowjetunion und das postsowjetische Russland Pionierarbeit geleistet haben – darunter verschiedene Waffen, verbesserte Eisenbahnen und Laser – dennoch keinen nennenswerten Nutzen für die Volkswirtschaft hatten. Er gelangt zu dem Schluss, dass der Grund für diesen totalen Misserfolg Russlands mangelnder Unternehmergeist ist.
Dieselbe Erkenntnis lässt sich auf das kaiserliche China anwenden. Viele Ideen, die dort ihren Ursprung hatten, wurden stiefmütterlich behandelt und brachten der chinesischen Wirtschaft wenig bis gar keinen Nutzen. Im Gegensatz dazu entwickelte sich das China der Reformära nach 1978 in eine ganz andere Richtung, als es sowohl in Russland als auch in China selbst zuvor der Fall gewesen war. Als die Reformen Wurzeln schlugen und aufblühten, begann China, einen großen, dynamischen Privatsektor mit vielen Unternehmern aufzubauen, die hoch motiviert und in der Lage waren, Technologien in großem Maßstab einzuführen.
Chinesische Ideen und Innovationen fristeten kein stiefmütterliches Dasein mehr, sondern erfuhren eine Menge Aufmerksamkeit. Noch wichtiger für die chinesische Wirtschaft war, dass sie regelmäßig eingesetzt wurden, um Wachstum, Beschäftigung und Steuereinnahmen zu generieren, die der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) halfen, an der Macht zu bleiben.
Das kaiserliche China war erfinderisch, aber es war nicht innovativ. Wie der verstorbene Wirtschaftswissenschaftler William Baumol gezeigt hat, ist diese Unterscheidung ausschlaggebend. Erfindungen allein tragen nicht zum Wirtschaftswachstum bei. Vielmehr wird Wachstum durch Innovation angetrieben – durch Unternehmergeist und Aktivitäten zur Geschäftsentwicklung, die Erfindungen durch Kommerzialisierung auf den Markt bringen. Der Kapitalismus ist eine Innovationsmaschine, weil er die Mechanismen bereitstellt, die erforderlich sind, um Erfindungen in wirtschaftsfördernde Innovationen zu verwandeln.
Unter der reformorientierten KPCh wurde China zu einer solchen Innovationsmaschine. Und doch bleibt Chinas dynamischer Hightech-Sektor für viele ein Rätsel.
In ihrem Bestseller aus dem Jahr 2009, Start-up Nation: The Story of Israel’s Economic Miracle, zeigen die Journalisten Dan Senor und Saul Singer, wie eine Kultur der Informalität, in der gefahrlos nachgefragt werden kann und in Unternehmen flache Hierarchien gepflegt werden – alles unterstützt durch staatliche Maßnahmen und Programme – dazu beigetragen hat, Israel zu einer weltweiten unternehmerischen Erfolgsgeschichte werden zu lassen. In Anekdoten schildern die Autoren, wie Untergebene sich gegen ihre Vorgesetzten behaupten, selbst beim Militär – einer Institution, die gleichbedeutend mit Hierarchie ist.
China hingegen folgt dem Top-down-Ansatz, ist hierarchisch, repressiv und dämpft Eigeninitiative. Die israelische Kultur der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes der Eigentumsrechte scheint dem Reich der Mitte abzugehen. Chinesische Gesetze legen der chinesischen Führung keine nennenswerten Beschränkungen auf, und das chinesische Finanzwesen wird vom staatlich gelenkten Bankensystem beherrscht. Während das Risikokapital in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts exponentiell anstieg, wurden große Technologieunternehmen wie Alibaba, Huawei und Lenovo in ihrer Start-up-Phase nicht von chinesischen Risikokapitalgebern finanziert.
China stellt somit das genaue Gegenteil von Israel dar. Dennoch wurde auch dieses Land zu einer Startup-Nation. Das chinesische Unternehmertum floriert auch ohne Rechtsstaatlichkeit und ohne ein marktbasiertes Finanzwesen, und trotz der Tatsache, dass Autokratie weithin als innovationsfeindlich gilt. Wie lässt sich das erklären?
Das Rätsel China
Unter Kommentatoren und Wissenschaftlern ist die Auffassung tief verwurzelt, dass China einen „dritten Weg“ entdeckt und ausgearbeitet hat, um dynamische Innovation zu fördern: Ein Entwicklungsmodell, das die Effizienz der Marktwirtschaft und die Macht des Staates nutzt, ohne auf die institutionellen Voraussetzungen des Kapitalismus wie Rechtsstaatlichkeit und Marktfinanzierung angewiesen zu sein. Ich bin da anderer Meinung. In meinem neuen Buch The Rise and Fall of the EAST: How Exams, Autocracy, Stability, and Technology Brought China Success, and Why They Might Lead to Its Decline, zeige ich, dass Hongkong, zumindest bis vor kurzem, für viele Hightech-Unternehmer in China als vor aller Augen versteckte Quelle von Rechtsstaatlichkeit und Marktfinanzierung fungierte.
Obwohl es auf dem chinesischen Festland keine Rechtsstaatlichkeit und keine Marktfinanzierung gibt, hat es diese Funktionen quasi nach Hongkong ausgelagert, nachdem Deng Xiaoping Mao Zedong ablöste und die Reformära Chinas einleitete. Betrachten wir die Geschichte des globalen Computerriesen Lenovo. Das Unternehmen wurde 1984 unter der Schirmherrschaft der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (CAS) gegründet und hatte ab 1993 seinen Sitz in Hongkong, was für die frühe Entwicklung des Unternehmens von entscheidender Bedeutung war.
Der Zugang zu den Finanzmärkten Hongkongs war ein wichtiger Meilenstein für den Aufstieg von Lenovo. Nach der Anschubfinanzierung durch die CAS nahm das Unternehmen einen Großteil seiner anfänglichen Finanzierung auf dem konventionellen westlichen Kapitalmarkt in Hongkong auf, sowohl während seiner Start-up-Phase als auch in späteren Kapitalisierungsrunden, als es größer wurde.
1988 erhielt Lenovo 900.000 Hongkong-Dollar (115.000 US-Dollar) von China Technology, einem in Hongkong ansässigen Unternehmen, um in ein Joint Venture in Hongkong zu investieren. 1994 ging Lenovo in Hongkong an die Börse und beschaffte sich so die nötigen Mittel für die Investitionen des Unternehmens in China. Von staatlicher chinesischer Finanzierung war weit und breit nichts zu sehen.
Hongkong war 1994 noch eine britische Kolonie und wurde zwischen 1997 und 2019 nach der Formel „ein Land, zwei Systeme“ verwaltet. Obwohl das Gebiet unter chinesischer Souveränität stand, behielt es seine rechtliche und operative Autonomie als eine historisch gewachsene Laissez-faire-Wirtschaft mit einem marktorientierten Finanzsystem, Rechtsstaatlichkeit und gesicherten Eigentumsrechten. China stellte zwar keine dieser Kernfunktionen zur Verfügung, aber seine reformorientierte Regierung machte sie einigen Unternehmern zugänglich.
Dieser neue Zugang zu wachstumsfördernden Institutionen war eine unangekündigte und höchstwahrscheinlich unbeabsichtigte Auswirkung der Politik der offenen Tür, die Deng initiiert hatte. Der große Beitrag dieser Politik bestand nicht nur darin, dass ausländische Unternehmen Fabriken in China errichten durften, sondern vor allem darin, dass sie eine Verbindung zwischen chinesischen Unternehmern und globalem Risikokapital schuf und einigen chinesischen Bürgern und Unternehmen eine Hintertür bot. Chinas eigenen fähigen Unternehmern wurde ein Ausweg aus einem sehr schlechten System geboten. Chinas Erfolg hat also weniger mit der Schaffung effizienter Institutionen zu tun, sondern vielmehr damit, dass es den Zugang zu effizienten Institutionen in anderen Ländern ermöglicht hat.
Rechtsstaatlichkeit outgesourct
Wer glaubt, dass das chinesische Unternehmertum irgendwie unter einer Zauberformel des Etatismus gediehen ist, ignoriert somit die Rolle, die Hongkong – und eine Reihe anderer Domizile in Übersee – bei der Bereitstellung der konventionellen Säulen des innovationsgetriebenen Wirtschaftswachstums gespielt haben. Um diese Perspektive zu verstehen, muss man sich einfach ein Szenario vorstellen, in dem China über das gleiche staatliche Bankensystem und das gleiche technische und unternehmerische Humankapital verfügt, nur ohne Hongkong vor der Haustür. Eine Entwicklungsgeschichte wie die von Lenovo wäre undenkbar.
Aus diesem Grund ist es unter chinesischen Hightech-Firmen durchaus üblich, ihre Vermögenswerte außerhalb des chinesischen Rechtssystems zu registrieren. Innerhalb des sogenannten „BAT-Trios“ der Internetgiganten (Baidu, Alibaba, Tencent) ist nur Tencent in China (in Shenzhen) registriert. (Übrigens wurde Tencent schon früh von Naspers, einem südafrikanischen Medienunternehmen, unterstützt). Einem Register zufolge ist die Alibaba Holding auf den Cayman-Inseln angesiedelt, obwohl aus einem anderen Register hervorgeht, dass ihre chinesische Betriebseinheit 1999 als Joint Venture zwischen einem Konzern aus Hongkong und einem chinesischen Unternehmen gegründet wurde. Höchstwahrscheinlich hat die Gesellschaft auf den Cayman-Inseln ihre chinesische Betriebseinheit über eine Holdinggesellschaft in Hongkong gegründet.
Die Baidu Holding ist auf den Britischen Jungferninseln eingetragen, und ihre im Jahr 2000 gegründete chinesische Betriebseinheit ist ein hundertprozentiges ausländisches Unternehmen mit demselben Rechtsstatus wie Lenovo Beijing und Lenovo Shanghai. Das größte Unternehmen in China im Bereich Gesichtserkennung, SenseTime (das von der US-Regierung auf die schwarze Liste gesetzt wurde), und ByteDance, die eigentliche Holdinggesellschaft von TikTok, sind in Hongkong registriert, während Chinas zweitgrößtes E-Commerce-Unternehmen, JD.com, auf den Cayman-Inseln eingetragen ist.
Wie die Journalistin Mara Hvistendahl Ende 2018 feststellte, befinden sich unter den 20 größten Technologieunternehmen der Welt neun chinesische Firmen, und nur drei von ihnen sind vollständig im Inland ansässig: Tencent, Xiaomi und die Ant Group (deren Muttergesellschaft im Ausland registriert ist). Die anderen sechs – Alibaba, ByteDance, Baidu, Didi Chuxing, Meituan und JD.com – haben alle Verbindungen zu in Hongkong oder anderen Überseegebieten eingetragenen Domizilgesellschaften.
Erneut auf sich gestellt
Natürlich haben chinesische Hightech-Unternehmer auch von anderen Faktoren profitiert, wie etwa dem Größenvorteil durch Millionen von gut ausgebildeten Fachkräften und von den Wachstumschancen, die mit einem rasch wachsenden BIP verbunden sind. Aber der Zugang zur Rechtsstaatlichkeit und zu marktbasierten sicheren Häfen wie Hongkong und ausländischen Standorten war entscheidend. Ein unterschätzter Aspekt der Globalisierung ist, dass sie nicht nur ausländische Märkte nach China brachte, sondern auch günstige institutionelle Bedingungen und globales Risikokapital. Wir müssen diesen institutionellen Effekt anerkennen, um Chinas Erfolgsgeschichte richtig zu verstehen.
Diese Erkenntnis entlarvt den Irrglauben, dass China ohne effiziente marktwirtschaftliche Institutionen auskommen kann. Die Geschichte von Lenovo zeigt genau, wie wichtig diese sind. Das Unternehmen war in der Lage, diese Institutionen zu nutzen, weil China zufällig das Glück hatte, an eines der liberalsten Wirtschaftssysteme der Welt zu grenzen. China ist nicht deshalb etwas Besonderes, weil es die harte Nuss des Staatskapitalismus geknackt hat, sondern weil sein System ein Sicherheitsventil hatte.
Dies ist ein weiterer Grund, warum wir Chinas Erfolgsgeschichte richtig verstehen müssen. Andere Länder, die Unternehmertum fördern wollen, würden einen großen Fehler begehen, wenn sie versuchen, die Finanz- und Rechtsinstitutionen und die Praktiken nachzuahmen, die China im eigenen Land pflegt. So erfolgreich Lenovo und andere chinesische Hightech-Unternehmen auch sind, die besonderen Gegebenheiten im Zusammenhang mit dem Finanzplatz Hongkong legen nahe, dass sich ihr Modell nicht einfach übertragen lässt.
Leider scheinen viele Kommentatoren und die chinesischen Entscheidungsträger selbst diesen Punkt nicht zu begreifen. In ihrem neuen Buch behauptet Keyu Jin von der London School of Economics, dass Chinas einzigartiges Entwicklungsmodell – „jenseits von Sozialismus und Kapitalismus“ – sein Wachstumswunder ermöglichte, ohne dass westliche Errungenschaften wie Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft nötig gewesen wären. Sie verwechselt die echte Aufklärung während der Reformära, die es chinesischen Unternehmern ermöglichte, ein staatliches System zu umgehen, mit den Tugenden dieses Systems. Bemerkenswerterweise erscheint ihr Buch zu einer Zeit, in der massive Kapitalflucht aus China eingesetzt hat, und vor allem chinesische Unternehmer, die um die Sicherheit ihrer Person und ihres Eigentums fürchten, Geld ins Ausland schaffen. Die Inkongruenz ist augenfällig.
Ebenso behauptet Eswar Prasad von der Cornell University in einem Kommentar aus dem Jahr 2019 für die New York Times, Hongkong sei für China nicht mehr so wichtig, weil die chinesische Wirtschaft diejenige von Hongkong inzwischen in den Schatten stellt. Während Hongkongs Wirtschaft 1997 einem Fünftel der Größe der chinesischen entsprach, war es 2018 nur noch ein Dreißigstel davon.
Erlauben Sie mir, andere Statistiken anzuführen. In meinem Buch stelle ich drei führende Biotech-Unternehmen in China vor: BeiGene, WuXi AppTec und Zai Lab. Nicht umsonst sind sie allesamt in Hongkong eingetragen, wie so viele andere chinesische Hightech-Firmen. Es ist als würde man behaupten, die US-Verfassung sei nutzlos, weil sich ihr Bruttoinlandsprodukt auf null beläuft. Doch auch wenn Prasads Behauptung fehlerhaft ist, bietet sie Aufschluss, denn sie spiegelt genau wider, wie die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit und der Marktwirtschaft von den meisten China-Beobachtern unterschätzt wird.
Denken die politischen Entscheidungsträger in Peking auch so über Hongkong? Wahrscheinlich schon. Nun, da das Gesetz zur nationalen Sicherheit in Hongkong aus dem Jahr 2020 das Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ bedeutungslos gemacht hat, das chinesischen Unternehmern einen Anflug von rechtlichem Schutz bot, könnte es ein böses Erwachen für sie geben.
Hongkong wurde von der rule of law (ein Rechtstaatsbegriff, der eine kontrollierte Exekutive impliziert) unter Chinas rule by law (eine möglichst schlagkräftige Exekutive) gezerrt – und das in einer Zeit geopolitischer Spannungen, der Deglobalisierung und zunehmender wirtschaftlicher Abschottung. Es sind neue sichere Häfen entstanden, wie etwa Singapur, aber diesmal beherbergen sie eher Wirtschaftsflüchtlinge aus China, als dass sie die institutionellen Funktionen wahrnehmen, die früher Chinas Hightech-Unternehmertum beflügelt haben. Schon bald wird China die Auswirkungen der Tatsache zu spüren bekommen, dass es nicht mehr in der Lage ist, die Rechtsstaatlichkeit und die anderen Grundvoraussetzungen für innovationsgetriebenes Wachstum auszulagern, und es wird einen hohen Preis dafür zahlen, dass es sich bei den wirtschaftlichen Grundlagen derart verkalkuliert hat.
Aus dem Englischen von Sandra Pontow
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