Weltwirtschaft

Die Verwalter des Wohlstands sind mit ihrem Latein am Ende angekommen

Lesezeit: 5 min
02.12.2023 10:30  Aktualisiert: 02.12.2023 10:30
In Deutschland und Österreich sinkt die Wirtschaftsleistung. Was ist passiert? Welche geheimnisvollen, bösen Mächte sind da am Werk, drehen gar im Hintergrund?
Die Verwalter des Wohlstands sind mit ihrem Latein am Ende angekommen
Halbfertige Nussknacke. Politiker und Manager sind verantwortlich für die Rezession, schreibt Ronald Barazon. (Foto: dpa)
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In den beiden Wirtschaftswunderländern Deutschland und Österreich sinkt derzeit die Wirtschaftsleistung. Was ist passiert? Welche geheimnisvollen, bösen Mächte sind da am Werk, drehen gar im Hintergrund an entscheidenden Schrauben und schütten Staub und Steine in das doch bisher wunderbar funktionierende Getriebe?

Keine dunklen Gestalten treiben ein böses Spiel. Die Lösung des Rätsels ist geradezu banal. Die beiden Länder praktizieren mit der sozialen Marktwirtschaft ein Wirtschaftssystem, das ausgezeichnete Ergebnisse in Form eines lange ungebrochen anhaltenden Wohlstands gebracht hat. In der Folge entstand der Eindruck, dass man für alle Zeiten die ideale Wirtschaftspolitik gefunden hätte. Die Führungskräfte wurden gleichsam zu Verwaltern des immerwährenden Wohlstands. In dieser Stimmung wurde man träge und begann, die erforderlichen Anpassungen zu vernachlässigen. Dieser Schlendrian rächt sich jetzt, da geänderte Bedingungen zu bewältigen sind.

Die soziale Marktwirtschaft ist noch nicht in den neuen Zeiten angekommen

Der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft beruht in erster Linie auf der Bereitschaft der drei entscheidenden Träger der Gesellschaft und der Wirtschaft ihre jeweiligen Aufgaben bestens zu erfüllen. Es müssen also die Unternehmensleiter die Firmen optimal führen, die Arbeitnehmer sind gefordert, sich kompetent und engagiert einzusetzen, müssen aber bei ihren Lohnforderungen auf die Ertragskraft der Betriebe Rücksicht nehmen. Der Staat als dritte Säule hat für beste gesetzliche Rahmenbedingungen zu liefern und hat über das Steuer- und Sozialsystem für einen fairen Ausgleich zu sorgen. Die Finanzwirtschaft muss alle drei Bereiche mit den erforderlichen Mitteln zu verkraftbaren Konditionen ausstatten.

Die Unternehmensleiter können nicht mehr frei entscheiden, welche Investition den besten Nutzen für den Betrieb bringt. Es müssen vielmehr Maßnahmen für den Klimaschutz getroffen und die Abläufe nachhaltig gestaltet werden, ohne dass diese Auflagen wie traditionelle Investitionen einen erkennbaren Ertrag bringen. Die Arbeitnehmer erkämpfen unter dem Druck der hohen Inflation Lohnsteigerungen um 10 Prozent, die die Firmen nicht erwirtschaften. Der Staat sieht sich gezwungen, die Folgen der Corona-Krise, der Energiekrise und nun der Inflation durch Subventionen zu mildern, wodurch das Budget aus dem Ruder läuft. Die Finanzwirtschaft kann ihre Aufgaben nur schwer erfüllen, weil die Währungspolitik sprunghaft zwischen Null- und Höchstzinsen wechselt und die Finanzmarktaufsicht praxisferne Regeln durchsetzt.

In einem Satz: Die soziale Marktwirtschaft ist derzeit durch die geänderten Rahmenbedingungen überfordert und die Träger der Gesellschaft und der Wirtschaft haben sich noch nicht ausreichend auf die neuen Umstände eingestellt.

Nicht nur die Wirtschaftspolitik ist noch nicht in den neuen Zeiten angekommen. Auch das Management ist noch in überlieferten Vorstellungen gefangen, die zum Teil hundert Jahre alt sind und vor Jahrzehnten gut gepasst haben.

Auch die besten Management-Lehren sind in die Jahre gekommen

Lange konnten die Damen und Herren Manager einfach in ihren klugen Büchern nachlesen, um die Betriebe weiter auf dem Pfad des Erfolgs und des Wohlstands zu halten. Schließlich hatten sie doch alles Notwendige studiert und die Lehrbücher standen in Reichweite im Regal hinter dem Schreibtisch. Bei Alfred P. Sloan hatten sie gelernt, wie er in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts den Konzern General Motors gebaut und das Unternehmen zum erfolgreichsten Betrieb seiner Zeit gemacht hat. Manchen ist der Name Sloan vielleicht nicht präsent, aber er wirkt überall nach, wo es um Management geht. Davon kann man sich am Besten in Harvard überzeugen, wo man dem Namen Sloan auf Schritt und Tritt begegnet, wenn von Business die Rede ist. Selbstverständlich haben die Unternehmensleiter die Lehren von Frederick Winslow Taylor und Henry Ford intus, die in den Fabriken für wissenschaftliche Ordnung gesorgt haben. In Erinnerung sind auch die achtziger Jahre, als die Japaner die amerikanischen und europäischen Unternehmen das Fürchten lehrten, weil sie viel rationeller und effizienter produzierten. Daraufhin boomten die Bücher über Kaizen, die japanische Philosophie von der kontinuierlichen und umfassenden Verbesserung aller Prozesse.

Die Schlachtenlenker der Wirtschaft sind nicht nur bei Amerikanern und Japanern in die Schule gegangen. Eine entscheidende Rolle spielte auch Peter Drucker, der aus Wien, der Heimat der Psychoanalyse, stammte, in den USA das moderne Marketing erfand und Manager dringend davor warnte, sich an überlieferte Patentrezepte zu halten. Seit den vierziger Jahren zeigte Drucker in 35 Büchern und zahllosen Vorträgen und Beratungen den Managern den Weg zu den Kunden. Der leider 2005 verstorbene Meister des Marketings fehlt heute, da die Kunden in den vielen sozialen Netzwerken im Internet schwer zu erreichen sind und auf traditionelle Botschaften nicht mehr ansprechen.

Nun stehen sie da wie Goethes Faust: “Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie durchaus studiert mit heißem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor! und bin so klug als wie zuvor. Und sehe, dass wir nichts wissen können!“ Man mag die traditionellen Fachgebiete der humanistischen Bildung bei den Managern durch Sloan, Taylorismus, Kaizen und Drucker ersetzen. Auch an die IBM ist zu erinnern, die das Unternehmen als eine Art religiöser Sekte darstellte und jeden Mitarbeiter überzeugte, sich als Teil der Corporate Identity zu fühlen. Die Kollegen in der Wirtschaftspolitik haben es leichter. Es gilt auch: Schlag’ nach bei Rockefeller, wie man alle Konkurrenten aus dem Markt treibt und beim wichtigen Rohstoff Öl zum Monopolisten wird.

Eine Portion Kreativität mit originellen, eigenen Einfällen könnte helfen

Es sind keine geheimnisvollen, bösen Mächte, die den Konjunkturmotor bremsen. Es sind die altvertrauten Rezepte, die nicht mehr wirken. Mit neuen Ideen, mit frischem Wind gilt es, zu neuen Ufern aufzubrechen. Man könnte wieder eine Anleihe bei Faust nehmen: „Drum hab’ ich mich der Magie ergeben, ob mir, durch Geistes Kraft und Mund nicht manch Geheimnis würde kund“- . Es muss vielleicht nicht die Magie sein, aber eine Portion Kreativität mit originellen, eigenen Einfällen könnte helfen. Das Interesse an Abwechslung ist besonders bei erfolgreichen männlichen Führungskräften ausgeprägt, die die Anerkennung und die hohen Bezüge wie eine Droge erleben. Sie fühlen sich in Mephistos Hexenküche, wo Faust verwöhnt wird. Mephisto: „Mit diesem Trunk im Leibe siehst Helenen Du bald in jedem Weibe“. Mephisto widmet sich der reizvollen Witwe Marthe Schwertlein und Faust verführt mit Geschenken, die der Teufel auftreibt, das naive Gretchen. Aktuelle Manager werden von eifrigen Investoren wie Jeffrey Epstein und korrupten Politikern wie Silvio Berlusconi auf entlegene Inseln. Jachten oder in antike Schlösser zu Orgien eingeladen. Manche Ereignisse finden ein großes Medienecho, doch nicht alle Feste, bei denen unbekleidete Frauen aus riesigen Torten springen und die geladene Männlichkeit beglücken, erreichen die Öffentlichkeit

Zurückgekehrt aus den Ferien vom Ich, wieder am Schreibtisch der Macht, zeigt der von Freunden und Gönnern verwöhnte Frauenheld kaum Anzeichen einer Erneuerung, die aufregende Initiativen für das Unternehmen erwarten lassen. Zu merken ist allerdings, dass der Ausflug nicht nur für Glück sorgt, die Angst vor Folgen durch eine Me-too-Attacke trübt die Stimmung.

Von der „midlife crisis“ zurück in die Realität des lebendigen Marktes?

Vielleicht sollte man die Eskapaden der Manager mittleren Alters nicht nur als späte Pubertät und Midlife Crisis abtun. Bei positiver Betrachtung könnte man sogar anerkennen, dass sie nicht mehr unbeirrt den bisherigen Trott fortsetzen, sondern ausbrechen. Warum sollte es nicht möglich sein, die überschüssige Energie in konstruktive Bahnen zu lenken. Ein hochdotierter Spitzenmanager könnte Befriedigung finden, wenn er seine geschützte Werkstätte verlässt und eines der vielen tausenden Kleinunternehmen übernimmt, deren alt gewordene Eigentümer keine Nachfolger finden. Da könnte der unruhige Manager täglich beweisen, wie jugendlich kraftvoll er ist und ohne eine Heerschar von Sekretärinnen und ohne Dienstwagen mit Chauffeur Erfolgserlebnisse auf dem Markt erzielen und einen Beitrag gegen die Konjunkturschwäche leisten. Persönlich wird er sich vermutlich besser fühlen als nach einer dubiosen Party eines Interessenten, der ihn nur bestechen wollte und ihn angreif- und erpressbar macht.

Die zu Kleinunternehmern mutierten Spitzenmanager wäre n wieder an der Front des Marktes und würden rasch kapieren, dass der zur Epidemie gewordene Wahn, dass Sparen ein Wert an sich sei und den Unternehmen auf jeden Fall nützen würde, unsinnig ist. In den Großunternehmen geistern durch Planungssitzungen detaillierte Rechnungen, die zeigen, dass man nur einige tausend Mitarbeiter kündigen müsse und schon würde im Betrieb der Reichtum ausbrechen. Als ob die Kündigungskandidaten bisher nur untätig herumgesessen wären und nichts zur Leistung des Unternehmens beigetragen hätten. An der Front des Marktes lernt man rasch, dass Geld in die Hand nehmen und investieren, das einzige Rezept ist, mit dem man die Zukunft gewinnen kann.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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