Die petrochemische Industrie in Europa steckt in einer schweren Krise, welche schon bald drastische und weitreichende Entscheidungen erfordern wird. Die mit Abstand wichtigste Ursache für die Probleme sind die im internationalen Vergleich viel zu hohen Energiepreise als Folge der Abkehr von fossilen Energieträgern und als Folge der Sanktionen gegen russisches Erdöl und Erdgas, welche durch teurere Alternativen ersetzt werden müssen.
In petrochemischen Prozessen werden Kunststoffe aller Art hergestellt – beispielsweise Plastik, Kunstharze, Kosmetika, Textilien oder Baumaterialien.
Energiepreise sind zu hoch
Die hohen Preise für Elektrizität, Gas und Ölprodukten führen unter anderem dazu, dass petrochemische Unternehmen immer mehr Vor- und Zwischenprodukte aus Übersee importieren müssen, weil sich deren Produktion im Inland nicht mehr rechnet.
Bloomberg berichtete unlängst, dass dies insbesondere auf die Plastikherstellung zutreffe. Derzeit sei es beispielsweise günstiger, das Vorprodukt Ethylen in den USA zu erwerben und es nach Europa zu bringen und dort weiterzuverarbeiten, als es hier herzustellen.
„Und genau das machen petrochemische Unternehmen. Das führt zu einem Verlust wirtschaftlicher Aktivität in Europa. Es hat auch zur Folge, dass die Handelsbilanz der EU im Bereich der Chemieprodukte erodiert. Schließlich führt dies zu Arbeitsplatzverlusten und gefährdet die Energieversorgungssicherheit“, schreibt der auf Energiethemen spezialisierte Blog Blackout News dazu.
Vor der Pandemie erwirtschafteten europäische Chemie-Unternehmen im Schnitt jährliche Überschüsse von 40 Milliarden Euro mit dem Rest der Welt. 2022 – zum Höhepunkt der Energiekrise – schrumpfte das Plus auf nur noch 2,5 Milliarden Euro zusammen.
Auch wenn mit Blick auf das laufende Jahr wieder mit etwas höheren Überschüssen gerechnet wird, bleibt der langfristige Ausblick düster. Zu schwer wiegen die strukturellen Nachteile der europäischen Wirtschaftsstandorte bei den zu hohen Energiepreisen und der mangelhaften Versorgungssicherheit.
Naphta-Verbrauch bricht ein
Ein eindeutiges Anzeichen für wirtschaftliche Probleme stellt der Einbruch bei der Naphta-Nutzung in Europa dar. Naphta ist ein Beiprodukt, das in Öl-Raffinerien anfällt, und gilt neben Erdgas als eines der wichtigsten Grundprodukte für die Petrochemie.
Die Internationale Energieagentur prognostiziert, dass der Naphtha-Verbrauch im laufenden Jahr auf 34,2 Millionen metrische Tonnen und damit den niedrigsten Stand seit 48 Jahren sinken wird.
Der Verbrauch liegt damit fast 20 Prozent unter den Werten der Jahre vor der Corona-Pandemie und etwa 40 Prozent unter dem Spitzenverbrauch, der Anfang des Jahrtausends registriert wurde.
Steamcracker werden heruntergefahren
Die Schwierigkeiten, mit denen die europäische – und insbesondere auch die deutsche – Petrochemie-Branche konfrontiert ist, äußern sich darüber hinaus im Herunterfahren der Anlagen zur Dampfspaltung.
In diesen sogenannten „Steamcrackern“ werden Grundstoffe wie Erdgas mithilfe einer Mitteltemperaturpyrolyse auf molekularer Ebene aufgespalten, um sekundäre Grundprodukte wie Ethen oder Propen zu erhalten, die anschließend weiterverarbeitet werden können und gewissermaßen Grundbausteine für petrochemische Produkte darstellen.
Da dieser Prozess sehr energieintensiv und kompliziert ist und hohe Fixkosten voraussetzt, werden Steamcracker nahe an ihrer Vollauslastung gefahren und nicht etwa regelmäßig hoch- und runtergefahren.
Bloomberg zufolge gilt eine Auslastung der Anlagen unter 90 Prozent als Grund zur Sorge. Sinkt der Wert unter die Marke von 80 Prozent, kommt es zu beträchtlichen Verlusten. In den vergangenen Quartalen, so die Zeitung, sollen Steamcracker in Europa durchschnittlich aber nur zwischen 65 und 75 Prozent ausgelastet gewesen sein.
Abwanderung nach Asien und Amerika
Große Konzerne aus der Branche reagieren inzwischen mit der Verlagerung von Produktionskapazitäten nach Übersee auf die sich verschlechternden Standortbedingungen.
Der größte Chemiekonzern der Welt, BASF, hatte im Sommer beträchtliche Investitionen in China angekündigt. Bis zu 10 Milliarden Euro will das Unternehmen mit Sitz in Ludwigshafen am südchinesischen Standort Zhanjiang investieren, dabei handelt es sich um die größte Investition in der Firmengeschichte.
Offizieller Start für das Bauprojekt war Ende 2019. Eine erste Produktionsanlage für technische Kunststoffe, die von der Automobil- und Elektronikindustrie benötigt werden, ist im September 2022 in Betrieb genommen worden.
Zhanjiang wird nach der kompletten Fertigstellung - geplant für das Jahr 2030 - die weltweit drittgrößte Produktionsstätte der BASF nach Ludwigshafen und Antwerpen sein.
Zusammen mit einem chinesischen Partner soll zudem ein Offshore-Windpark gebaut werden der den Standort Zhanjiang künftig komplett mit Strom versorgen soll. Der Windpark soll nach der Fertigstellung im Jahr 2025 eine Leistung von 500 Megawatt haben. Die BASF ist mit 10 Prozent an dem Joint Venture beteiligt, der chinesische Partner Mingyang hält 90 Prozent der Anteile.
BASF-Chef Brudermüller: Europa wird überholt
Mehrfach hatte der Vorstandsvorsitzende des Konzerns, Martin Brudermüller, die Energiepolitik der Bundesregierung in den vergangenen Monaten scharf kritisiert. „Europa verliert in vieler Hinsicht an Wettbewerbsfähigkeit. Bereits seit einer Dekade gibt es nur noch schwaches Wachstum. Jetzt geht es noch weiter bergab“, sagte Brudermüller im November 2022 in einem Interview mit dem Handelsblatt.
Aus Sicht Brudermüllers wird gegenwärtig völlig vernachlässigt, wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie signifikant verbessert werden könnte. Die Chemieindustrie etwa müsse sich in Europa auf Energiekosten einstellen, die langfristig gut dreimal so hoch sein werden wie in den USA. Hinzu komme eine „überbordende Regulierung“ im Rahmen des Green Deals der EU. „Mir macht daher Sorge, dass sich in diesem schwierigen, weil überregulierten Europa Investitionen längerfristig verlagern könnten, beispielsweise in die USA. Was spricht eigentlich noch für Investitionen in Europa?“
Der Vorstand bewertet die in China liegenden Chancen für BASF deutlich höher als die (geopolitischen) Risiken. China stehe für rund die Hälfte der weltweiten Umsätze in der Chemie, bei BASF bisher aber nur für weniger als 15 Prozent des Gesamtumsatzes. „Wir sind das größte Chemieunternehmen der Welt, wir können uns doch nicht aus 50 Prozent des Chemiemarktes verabschieden“, sagte Brudermüller zu den Aktionären auf der Hauptversammlung im April. „Wir sind hochprofitabel in China. Insofern ist es auch in ihrem Interesse, dass das hochprofitable China-Geschäft weiter wächst.“
BASF-Österreich Chef Harald Pflanzl hatte Investitionen in China zuletzt als „alternativlos“ bezeichnet. Er verteidigte die dortigen Milliardeninvestitionen des Konzerns und warnte vor der drohenden Deindustrialisierung Europas. Demnach würden 96 Prozent aller produzierenden Betriebe in der EU ihre Vormaterialien aus der chemischen Industrie erhalten: Die hohen Gaspreise seien aber gerade für die chemische Industrie in Europa eine Bedrohung, zitiert ihn das Industriemagazin.
BASF musste wegen der hohen Energiepreise Anfang des Jahres mehrere energieintensive Anlagen am Stammwerk Ludwigshafen stilllegen.
Auch andere deutsche Chemiekonzerne sind in Bedrängnis geraten. So plant der Leverkusener Pharma- und Agrarchemiekonzern Bayer einen tiefgreidenden Umstrukturierungsprozess. Bis zum Jahresende will der Konzern mehrere Führungsebenen abbauen, was zu einer deutlichen Verringerung der Belegschaft führen wird, berichtet die Rheinische Post.
Begründet werden die Maßnahmen unter anderem mit einem Verlust von 4,6 Milliarden Euro im dritten Quartal. Der Vorstandsvorsitzende Bill Anderson betonte, dass die Leistung des Unternehmens in diesem Jahr nicht zufriedenstellend sei, da trotz eines Umsatzes von fast 50 Milliarden Euro kein positiver Cashflow erzielt wurde.
Ausblick ungewiss
Der mittel- bis langfristige Ausblick für die gesamte Branche ist ungewiss. Da die Wettbewerbsnachteile struktureller Natur sind (hohe Energiepreise, negative demografische Entwicklung, ungesicherte Energieversorgung im Zuge der ökonomischen Abkopplung von russischem Öl und Gas) ist zumindest kurzfristig kein Ende der Krise in Sicht.
Verschärft wird der Abschwung indirekt auch durch die Regierung der Vereinigten Staaten und ihres milliardenschweren Subventionsprogramms IRA, welches ausländische Industrien mit hohen Steuernachlässen zur Ansiedlung in den USA ermuntert.
In einem Beitrag für das Branchenmedium CHE Manager schreibt Analyst Martin Bastian: „Insbesondere in Europa setzt der inflationäre Einfluss der zeitweise rekordhohen Energiepreise in Verbindung mit sinkender Nachfrage viele Unternehmen und deren Gewinnmargen in einer Weise unter Druck, die niemand absehen konnte. Die Inflation mag ihren Höhepunkt bereits erreicht haben, aber wird weiterhin auf historisch hohem Niveau verharren. Eine gewisse Stabilität wird frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2023 zurückkehren. Doch wird eine solche „neue Normalität“ nicht mit den günstigen Energiepreisen und der Wettbewerbsfähigkeit einhergehen, von der die Unternehmen in der EU bzw. Deutschland vor 2022 profitiert haben. Ein tiefgreifender Strukturwandel erscheint unvermeidbar.“
Die deutsche Chemieindustrie konnte im dritten Quartal ihre Talfahrt bei der Produktion indes stoppen. Erstmals seit sechs Quartalen habe die Chemie- und Pharmabranche ein kleines Produktionsplus von 0,1 Prozent gegenüber dem Vorquartal verzeichnet, teilte der Verband der Chemischen Industrie (VCI) Mitte November in Frankfurt mit. Ohne das Pharmageschäft gab es sogar ein Wachstum um 1,7 Prozent.
„Die deutsche Chemieindustrie tritt auf der Stelle und die Hoffnungen auf eine Besserung zum Jahresende schwinden“, erklärte VCI-Präsident Markus Steilemann. „Hohe Energie- und Rohstoffpreise und der Auftragsmangel werden die Geschäfte weiterhin belasten.“ Die Branchenunternehmen seien deshalb gezwungen, Kosten zu senken.
Das Strompreispaket der Bundesregierung werde nicht ausreichen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auf ein neues Level zu heben, kritisierte Steilemann. Der VCI hatte sich in den vergangenen Monaten vehement für einen breiten staatlich subventionierten Industriestrompreis für energieintensive Unternehmen eingesetzt, wie ihn Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) gefordert hatte.
Stattdessen hat sich die Bundesregierung jüngst auf einen verbilligten Strompreis für die Wirtschaft verständigt, der auch dem Mittelstand zugute kommt. Geplant ist unter anderem eine deutliche Senkung der Stromsteuer für die Jahre 2024 und 2025 für das produzierende Gewerbe und eine Ausweitung der Strompreiskompensation für Konzerne, die besonders unter hohen Strompreisen leiden. Allein im nächsten Jahr soll es Entlastungen von bis zu zwölf Milliarden Euro geben.
Derweil lagen die Umsätze der Chemie- und Pharmaindustrie im dritten Quartal 13,8 Prozent unter Vorjahresniveau. Die Preise sanken um 5,5 Prozent. Für das laufende Gesamtjahr rechnet der VCI weiter mit einem Produktionsrückgang von 8 Prozent. Bei rückläufigen Preisen werde der Branchenumsatz voraussichtlich um 14 Prozent sinken. Die Geschäfte dürften auch im Winter schwierig bleiben, so der Verband. „Die Unternehmen hoffen nun auf eine Besserung im kommenden Jahr.“