Politik

Streit um Mini-Jobs: Sozialrichter fordern Abschaffung, FDP will sie unbedingt erhalten

Die Haushaltsprobleme der Bundesregierung lenken immer mehr den Augenmerk auf unser Sozialsystem. Die einen möchten das Bürgergeld kürzen. Von anderer Seite werden die Mini-Jobs als Problem ins Gespräch gebracht. Der Präsident des Bundessozialgerichts, Prof. Rainer Schlegel, fordert sogar deren Abschaffung - die FDP opponiert prompt und lauthals.
14.02.2024 11:28
Aktualisiert: 14.02.2024 11:28
Lesezeit: 4 min

Wie kaum ein anderer kann sich Prof. Rainer Schlegel ein Urteil über die sozialen Missstände in Deutschland erlauben. Als Präsident das Bundessozialgerichts in Kassel hat er den ungetrübten Einblick in die täglichen Probleme unseres Sozialwesens, seien es die Krankenhäuser, die Altersvorsorge und Rente oder Hilfen wie das Bürgergeld. Ende des Monats übergibt der Richter sein Amt an Nachfolgerin Christine Fuchsloch. Am Dienstag wurde er von Hubertus Heil (SPD) verabschiedet. Die Probleme bleiben virulent.

Lob für Krankenversicherung, jedoch Kritik an Höhe des Bürgergeldes

Richter Schlegel hat zum Ende seiner Tätigkeit in Kassel ein Fazit gezogen, bei dem er thematisch nur wenig ausgelassen hat. Für viele Errungenschaften findet er lobende Worte. Insbesondere die gesetzliche Krankenversicherung, selbst bei nur geringen Beitragszahlungen, die keinen Menschen hängt lässt - und ganz anders aufgestellt ist als in benachbarten Ländern oder gar in den USA.

Beim Bürgergeld weist er den schwarzen Peter allein der Politik zu. Das Bundesverfassungsgericht habe nirgends eine dermaßen steile Anhebung gefordert, wie sie nun bei Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ins Kontor schlägt.

Ein Spektrum der Sozialleistungen hält er freilich für entbehrlich und einen Anachronismus: die Mini-Jobs. Schlegel hält sie für „sozial nicht gerecht, weil sie der Allgemeinheit Kosten aufbürdet - spätestens in der Alterssicherung". Er würde sie wenn überhaupt nur noch für Schüler und Studenten bestehen lassen. Eine Reform sei dringend erforderlich, könnte Sozialkassen und Arbeitsmarkt entlasten.

Der Widerspruch ließ nicht lange auf sich warten. Die FDP kündigte stante pede an, die Mini-Jobs zu verteidigen. Die deutsche Wirtschaft sei darauf schlicht angewiesen. Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Johannes Vogel gab zu Protokoll: „Diese abzuschaffen, wäre für viele Menschen faktisch eine Erhöhung von Steuern oder Abgaben.“

Perspektive Altersarmut - nur Studenten und Schüler finden heraus

Der Wirtschafts-Liberalismus schlägt wieder mal voll durch, ohne die Probleme in anderen Bereichen zur Kenntnis zu nehmen. In Zeiten, wo genug Geld für alle Interessen-Gruppen vorhanden war, ließen sich die Widersprüche noch zudecken. Dass Arbeitgeber nur geringe und zwar pauschalierte Steuern und Abgaben zahlen müssen, mag gut für manche Unternehmen insbesondere im Dienstleistungssektor sein. Doch die sozialen Probleme vor allem im Kreise der Geringverdiener lassen sich nicht mehr als Verantwortung in ein anderes Ressort verschieben. Vogel behauptet, Mini-Jobs seien „ein seit Jahrzehnten bewährter Weg, sich für ein paar Stunden in der Woche unkompliziert etwas dazu zu verdienen“.

Mag sein, dass das in Vogels Erinnerung so mal war. Doch mittlerweile handelt es sich um einen parallelen Arbeitsmarkt von Beschäftigten in prekären Verhältnissen, die den Sinn des Sozialstaats geradezu erschüttern. 7,1 Millionen Menschen üben bereits solche Tätigkeiten aus bundesweit. Das besagen die offiziellen Zahlen der Mini-Job-Zentrale für Mitte 2023. Wer genau hinschaut, ahnt, wo die Beschäftigten langfristig verbleiben und sich maßgeblich von Schülern und Studenten unterscheiden.

„Gerade für Frauen ist der Mini-Job oft das sichere Ticket in die Altersarmut“, heißt es kritisch beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Lange Zeit waren Mini-Jobs als sogenannte 450-Euro-Jobs am Arbeitsmarkt bekannt, da dies in den Jahren 2013 bis 2022 die Verdienst-Obergrenze war.

Die jüngsten Verabredungen der Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP muten da wie aus der Zeit gefallen an. Die FDP hat es in den Vertrag hinein geboxt, die SPD und Grüne haben es nolens volens akzeptiert. Sie trugen die Forderung der FDP mit, weil sie im Gegenzug so die Zustimmung zur Mindestlohn-Erhöhung auf 12 Euro erhielten. Dass dies nun argumentativ als gemeinsame Sicht der Regierung verkauft wird, verwundert die Wähler.

Teilzeitbeschäftigung zu subventionieren - ein Anachronismus

Es ist die Subventionierung von Teilzeitbeschäftigung und passt nicht mehr in die Zeit der Sparrunden. Prof. Schlegel erinnert daran, dass die Instrumente noch aus Zeiten der Massenarbeitslosigkeit stammen und als Antworten auf die aktuellen Probleme der Arbeitsmarktpolitik versagen. Der hohe Richter ahnt: „Einmal beschlossene Wohltaten werden von der Politik nicht wieder zurückgefahren, das lehrt die Erfahrung."

Vergessen wird dabei, was der Normalfall am Arbeitsmarkt sein müsste. Herkömmliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bedeutet für die Abzüge, dass normalerweise Arbeitgeber und Arbeitnehmer je die Hälfte des Gesamtbeitragssatzes von gut 40 Prozent des Bruttolohns zahlen. Stattdessen zahlen Unternehmer bei Mini-Jobs Abgaben von 31,4 Prozent. Den Beschäftigten werden nur 3,6 Prozent Rentenbeitrag abgezogen. Sie dürfen dem sogar explizit widersprechen, wenn sie sogar auf diese eher symbolische Mini-Altersvorsorge verzichten. Dass sich dieses Modell am Arbeitsmarkt verfestigt hat, wirkt auf den regulären Arbeitsmarkt zurück, wo es Vollzeit-Jobs gibt, die sich in Konkurrenz zu anderen Beschäftigungsverhältnissen oder gar das Bürgergeld nicht mehr behaupten können.

Weil der Mindestlohn angehoben wurde in 2022, steigt der Lohn bei Mini-Jobs dynamisch an und liegt nun zwischen 520 und 538 Euro - so viel wie Beschäftigte zehn Stunden lang je Woche zum Mindestlohn arbeiten dürfen.

Die Arbeitgeber argumentieren natürlich, dass 31,4 Prozent Abgaben viel mehr sei als unbedingt nötig. Normalerweise werden 20 Prozent Abgaben für reguläre Arbeitsplätze geleistet. Freilich hat die Flexibilität genau dieser geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer kein ehrliches Preisschild in der Debatte. Es gibt Branchen, die können mit Vollzeit-Angestellten bei ihrem Geschäftsmodell gar nichts anfangen. Dass sie die angebotenen Teilzeit-Jobs ernsthaft als Arbeitsplätze bezeichnen, spottet laut Kritikern jeder Beschreibung.

Freilich machen auch Arbeitnehmer munter mit bei dem Spielchen. Sie glauben, 538 Euro ohne Abzüge zu kassieren, sei ihr Anreiz und ehrlicher Gewinn. Dies lässt jegliche Konsequenzen in puncto sozialer Absicherung außer Acht. Wenn Flüchtlinge etwa in ihre Heimat zurückkehren, mag das für sie sogar vernünftig erscheinen. Ob die Rechnung tatsächlich aufgeht, wird freilich als Ungewissheit in die ferne Zukunft verlagert.

FDP-Vize Vogel denkt womöglich an seine eigene Studentenzeit zurück, um die Lage am Arbeitsmarkt zu verklären. „Das Jobben neben dem Studium in der Gastronomie, im Kino oder an der Universität selbst ist zum Beispiel für viele junge Menschen die Tür zur finanziellen Eigenständigkeit", sagt er. Die meisten Mini-Jobber wollten „gar keine andere Stelle". Normale sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze seien aus seiner Sicht unattraktiv wegen „unfairer Zuverdienst-Regeln, unflexibler Kinderbetreuung oder der Steuerklasse V“.

Mini-Jobs in Kombination mit dem Bürgergeld - der perfekte Sturm

Wer Bürgergeld bezieht, hat besonders mit den Zuverdienst-Regeln zu kämpfen. Nur 100 Euro bleiben anrechnungsfrei. Bürgergeld-Bezieher mit 300 Euro Lohn im Monat müssen deshalb mit Abzügen von 53 Prozent rechnen., bei 1200 Euro Verdienst sogar über 70 Prozent. Ganz klar, dass viele es da lieber beim kleinen Job belassen. Gut ein Drittel der Bürgergeld-Bezieher, die als sogenannte Aufstocker auch Arbeitslohn erzielen, haben einen Mini-Job.

Dass unter den Mini-Jobbern viele Rentner und Studenten sind, bestätigt die Statistik: Die Altersgruppen unter 25 Jahre und über 60 Jahre machen zusammen beinahe die Hälfte aller Mini-Jobber aus. Bürgern ihr Nebeneinkommen zu streichen, gilt indessen politisch als wenig opportun. Insofern kann Voge durchaus selbstbewusst auftrumpfen: „Der Mini-Job hat seine Daseinsberechtigung – und er bleibt!"

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Peter Schubert

Peter Schubert ist stellv. Chefredakteur und schreibt seit November 2023 bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Immobilienthemen. Er hat in Berlin Publizistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaften an der Freien Universität studiert, war lange Jahre im Axel-Springer-Verlag bei „Berliner Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „Welt Kompakt“ tätig. 

Als Autor mit dem Konrad-Adenauer-Journalistenpreis ausgezeichnet und von der Bundes-Architektenkammer für seine Berichterstattung über den Hauptstadtbau prämiert, ist er als Mitbegründer des Netzwerks Recherche und der Gesellschaft Hackesche Höfe (und Herausgeber von Architekturbüchern) hervorgetreten. In den zurückliegenden Jahren berichtete er als USA-Korrespondent aus Los Angeles in Kalifornien und war in der Schweiz als Projektentwickler tätig.

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