Der Begriff der Resilienz ist in den vergangenen Jahren – spätestens seit Beginn der Corona-Krise – nahezu inflationär verwendet worden. Doch derzeit fristet die Frage nach resilienten oder widerstandsfähigen Lieferketten im Mittelstand wieder eher ein Schattendasein in der wirtschaftspolitischen Diskussion. Spätestens seitdem sich die Lieferketten der großen Konzerne und Industrien mehr oder minder auf Vor-Corona-Niveau stabilisiert haben, ist das Problembewusstsein stark abgeebbt. Ein schwerer Fehler, wie ich finde.
Vor Corona habe ich immer wieder zu hören bekommen: Der deutsche Mittelstand „kann“ Krise. Unbeeindruckt von Finanz- und Wirtschaftskrisen, von kurzfristigen Trends und globalen Zusammenhängen wurde die Widerstandsfähigkeit der mittelständisch geprägten deutschen Wirtschaft hierzulande gefeiert und häufig sogar international bewundert. Was den Mittelstand schließlich von jeher auszeichnet, ist seine Anpassungsfähigkeit und sein Innovationsgeist, beides ungemein wichtige Tugenden, um als Unternehmen widerstandsfähig zu sein. Deutschland hat dies als Profiteur der Globalisierung, als Profiteur des europäischen Binnenmarktes, eindrucksvoll in der Vergangenheit unter Beweis gestellt – auch dank funktionierender Lieferketten, die uns trotz unseres Rohstoffmangels zum Exportweltmeistertitel gebracht haben.
Krisen gehören zum Unternehmertum dazu. Und es ist mehr als eine Floskel, dass sich der wahre Charakter von Unternehmerinnen und Unternehmern erst in der Krise zeigt. Der Mittelstand muss in diesem Sinne derzeit den wohl größten Charaktertest in der Nachkriegsgeschichte bestehen. Die gegenwärtige „Multikrise“ belastet den Mittelstand und kleine und mittlere Unternehmen (KMU) in besonderem Maße. Denn die “Qualität” der heutigen Krisen ist in einer ganz anderen, vernetzten Dimension zu betrachten.
Daher mussten viele Unternehmen den Umgang mit Krisen in den vergangenen Jahren neu erlernen. Verständlich, denn gerade in ruhigeren Zeiten mit vollen Auftragsbüchern wurden so wichtige Themen wie IT-Sicherheit, Innovationskraft und Zukunftsfähigkeit zu oft vernachlässigt. Zu guter Letzt wirkt sich jetzt schon der lange vorhergesagte Fachkräftemangel nachhaltig auf alle Unternehmen aus – und wir befinden uns erst in den Anfängen dieses immer größer werdenden Schlüsselproblems.
Die Corona-Krise, der fortschreitende Klimawandel, ein akuter Fachkräftemangel, ein zu niedriges Digitalisierungsniveau sowie politische Vorgaben haben tiefe Spuren in den Lieferketten der mittelständischen Wirtschaft und insbesondere bei kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) hinterlassen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Ist der Mittelstand heute resilient genug aufgestellt, um weiteren externen Schocks standzuhalten?
Resilienz ist ein Wettbewerbsfaktor
Resilienz, also die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen, ist in der heutigen volatilen Weltwirtschaft essenziell für den langfristigen Erfolg von Unternehmen.
Doch was bedeutet Resilienz in Bezug auf Lieferketten? Es geht darum, Systeme und Prozesse so zu gestalten, dass sie auf externe Schocks flexibel reagieren können. Dazu gehört etwa, Risiken zu identifizieren, Abhängigkeiten zu minimieren und alternative Versorgungswege zu etablieren. In der Praxis bedeutet dies beispielsweise, die Lieferantenvielfalt zu erhöhen, Lagerbestände kritisch zu bewerten und digitale Technologien zur Effizienzsteigerung – etwa in der Logistik – einzusetzen. In der Theorie klingt das recht einfach, praktisch ist dies aber eine riesengroße Herausforderung für KMU und den Mittelstand.
Warum? Weil kleine und mittelständische Unternehmen weniger Möglichkeiten als Konzerne haben, um ihre Lieferketten zu justieren, Zulieferer auszutauschen oder Preise zu diktieren. Zumal spezialisierte Mittelständler häufig in Nischen wirtschaften, in denen es kaum alternative Zulieferer oder Auftraggeber gibt.
Die Corona-Krise hat diesen Unternehmen schmerzlich gezeigt, wie schnell Lieferketten unterbrochen werden können und welche weitreichenden Konsequenzen dies für KMU haben kann. Unternehmen, die in resiliente Lieferketten oder zumindest in alternative Lieferanten investiert haben, waren besser in der Lage, die Auswirkungen abzufedern und schneller zum regulären Betrieb zurückzukehren. Doch ein Großteil der Unternehmen war nicht ausreichend darauf vorbereitet, was die Notwendigkeit unterstreicht, Resilienz als integralen Bestandteil der Unternehmensstrategie zu betrachten.
Nur jeder fünfte Mittelständler würde sich laut ETL Mittelstandskompass 2023 aktuell selbst als “resilient” beschreiben. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Unternehmen, die Maßnahmen für mehr Resilienz treffen, wirtschaftlich erfolgreicher sind. Dies deckt sich mit den Eindrücken, die ich aus Gesprächen mit DMB-Mitgliedsunternehmen gewonnen habe.
Widerstandsfähigkeit als Chefsache verstehen
Um resiliente Lieferketten zu schaffen, braucht es natürlich ein tiefgreifendes Verständnis über die eigenen Lieferstrukturen. So kann eine optimale Überwachung, Vorhersage und Echtzeitanpassung erfolgen und risikoanfällige Glieder in der Kette identifiziert werden. Mindestens genauso wichtig ist es allerdings zu verstehen, dass das Thema Resilienz nicht eine isolierte Aufgabe für die Logistikabteilung oder den Einkauf darstellt.
Der Aufbau von Widerstandsfähigkeit ist immer zentrale Managementaufgabe – gerade in kleinen und mittelständischen Unternehmen. Denn es geht im Kern darum, Strategien zu entwickeln, wie Veränderungen im Umfeld des Unternehmens frühzeitig erkannt und zielorientierte Lösungsmaßnahmen effektiv eingesetzt werden können. Und zwar nicht erst, wenn Schaden am Unternehmen entstanden ist.
Helfen können hierbei technologische Lösungen – besonders aus den Bereichen Künstliche Intelligenz (KI), maschinelles Lernen und Internet der Dinge (IoT, Internet of Things). Stark an Bedeutung gewinnt zudem das Thema Compliance, denn soziale und umweltbezogene Komponenten und Pflichten rücken bei den Lieferketten immer mehr in den Fokus. Auch dies lässt sich strategisch im Unternehmen verankern.
Auf deutsche Unternehmen werden in den kommenden Jahren weitere Herausforderungen zukommen. Aus meiner Sicht ist es wichtig, sich vorausschauend-strategisch und individuell mit diesen Herausforderungen zu befassen.
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Der Klimawandel stellt eine bedeutende Herausforderung dar. Extremwetterereignisse wie Überschwemmungen, Dürren und Stürme können die Produktion und Logistik erheblich beeinträchtigen, wie wir in den vergangenen Jahren bereits beobachten mussten. Um resilient zu sein, müssen KMU klimabedingte Risiken in ihre Planung einbeziehen und nachhaltige Praktiken fördern, die nicht nur ihre eigene Widerstandsfähigkeit erhöhen, sondern auch zum globalen Umweltschutz beitragen.
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Der Fachkräftemangel ist eine weitere Hürde, die es zu überwinden gilt. Qualifizierte Mitarbeiter sind das Rückgrat jedes Unternehmens. Ohne sie ist es schwierig, Innovationen voranzutreiben, die Effizienz zu steigern und auf Marktanforderungen zu reagieren. KMU müssen in Aus- und Weiterbildung investieren, attraktive Arbeitsbedingungen schaffen und sich als bevorzugte Arbeitgeber positionieren, um Talente zu gewinnen und zu halten.
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Geopolitische Konflikte können zu Handelsbeschränkungen, erhöhten Zöllen und Sanktionen führen. Für mittelständische Unternehmen, die auf Importe und Exporte angewiesen sind, können solche Maßnahmen erhebliche Kostensteigerungen und Verzögerungen verursachen. Hinzukommen Punkte wie mögliche Unterbrechungen von Transportwegen, zunehmende Währungsvolatilität sowie stark schwankende Rohstoffpreise. Ich möchte hier nicht den Teufel an die Wand malen, aber unsere Welt wird momentan unberechenbarer für Unternehmen.
Auch die Rahmenbedingungen müssen stimmen
Gerade aufgrund dieser Herausforderungen ist es wichtig, dass die für deutsche Unternehmen wesentlichen politischen Ebenen – im Bereich Lieferketten ist dies neben dem Bund auch insbesondere die Europäische Ebene – für wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen sorgen. Doch gerade hier sehe ich derzeit ein gestörtes Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft.
Bei dem vor rund einem Jahr in Kraft getretenen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) ist es auf Betreiben von Wirtschaftsverbänden wie dem DMB zwar noch gelungen, eine überbordende Regulierung zumindest abzuschwächen. So wurde eine zivilrechtliche Haftung verhindert ebenso wie eine direkte Überprüfung von mittelbaren Lieferanten. Aber obwohl das Gesetz nur für größere Unternehmen gelten soll, sieht die Sorgfaltspflicht auch für KMU erweiterte Reporting- und Trackinganforderungen vor, insbesondere wenn diese Unternehmen als Zulieferer fungieren, was derzeit zu einem erheblichen bürokratischen Mehraufwand für den Mittelstand führt.
Kritisch sehe ich vor allem die EU-Pläne einer erweiterten Sorgfaltspflicht. Zwar ist die Einführung gleicher Spielregeln für alle Unternehmen in der EU zu begrüßen, weil dadurch ein deutscher Wettbewerbsnachteil vermieden werden kann. Auch die Achtung der Menschen- und Arbeitsrechte ist für deutsche Mittelständler grundsätzlich eine Selbstverständlichkeit. Zu kritisieren ist jedoch die im Vergleich zum deutschen Lieferkettengesetz vorgesehene Verschärfung durch eine zivilrechtliche Haftung, einen erweiterten Einbezug der Aktivitäts- bzw. Wertschöpfungskette und eine Vertiefung der zu kontrollierenden Umweltaspekte. Inmitten einer der schwersten Wirtschaftskrisen seit Bestehen der Bundesrepublik stellen das deutsche Lieferkettengesetz und die EU-Lieferkettenrichtline eine erhebliche zusätzliche bürokratische Belastung dar.
Statt immer mehr Regulierung braucht der Wirtschaftsstandort Deutschland schnellstmöglich Entlastung. Die Bundesregierung ist jetzt aufgefordert, verlässliche Rechts- und Planungssicherheit für Betriebe zu gewährleisten und Investitionsanreize zu ermöglichen. Auch dadurch stärkt man die Resilienz von Unternehmen.
Vor diesem Hintergrund fällt dem im Koalitionsvertrag vereinbarten Wachstumschancengesetz eine besondere Bedeutung zu. Es ist das derzeit einzige Gesetz der Ampel, das den Mittelstand in Zeiten multipler Krisen entlastet. Daher sollten nun Regierung und die Länderchefs, die sich bislang quer stellten, ihre Differenzen beilegen und das Wachstumschancengesetz zügig verabschieden. Dies wäre ein wichtiger erster Schritt mit Signalwirkung für 2024, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Mittelstand in der Tat vor großen Herausforderungen steht, aber auch über das Potenzial verfügt, diese zu meistern. Was mich verhalten optimistisch stimmt: Wir haben rund 500 DMB-Mitglieder zu Erwartungen und Herausforderungen für 2024 befragt. Das Thema resiliente Lieferketten wurde nur sehr randständig als Herausforderung benannt (7,7 Prozent sehen Lieferengpässe und/oder Materialmangel als Herausforderung im laufenden Geschäftsjahr). Positiv kann man das Ergebnis so interpretieren, dass unsere Mitglieder resiliente Lieferketten aufgebaut haben. In pessimistischer Leseart könnte man unterstellen, dass sich die Befragten nicht ausreichend mit der Problematik auseinandersetzen. Ich behalte mir vor, optimistisch zu bleiben! Durch strategische Planung, Investitionen in Technologie und Mitarbeiter sowie eine nachhaltige Ausrichtung können KMU nicht nur Krisen überstehen, sondern gestärkt aus ihnen hervorgehen.