Politik

75 Jahre Europarat: Ein Jubiläum in turbulenten Zeiten

Der einst stolze Europarat feiert sein 75-jähriges Bestehen, doch das Jubiläum findet inmitten von Krisen und Unsicherheit statt, während Mitgliedsländer mit dem Gedanken eines Austritts spielen. Dennoch sollte man die Bedeutung dieser Organisation, oft als große Schwester der EU bezeichnet, nicht unterschätzen.
19.05.2024 13:11
Lesezeit: 2 min

Gegründet 1949 als erste bedeutende europäische Nachkriegsorganisation, setzt sich der Europarat für den Schutz von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein. Unter seinen 46 Mitgliedern finden sich alle EU-Länder sowie Staaten wie Großbritannien und die Türkei.

Doch seit die EU immer wichtiger wird, schwindet die Bedeutung des Europarats. Zu leicht lässt er sich verwechseln mit dem Europäischen Rat, der aus den 27 Staats- und Regierungschefs der EU besteht, zumal sowohl EU als auch Europarat die gleiche Fahne und die gleiche Hymne nutzen.

Baerbock: Werte verteidigen

Außenministerin Annalena Baerbock rief am Donnerstag im Bundestag dazu auf, die unter Druck geratenen Werte des Europarats zu verteidigen. „Unsere europäische Art zu leben, die Werte unseres Europarats, sie werden herausgefordert wie nie zuvor seit dem Ende des Kalten Krieges“, sagte die Grünen-Politikerin.

Die Werte würden von „außen durch Autokraten wie (den russischen Präsidenten) Wladimir Putin, der den Eroberungskrieg zurück nach Europa gebracht hat, aber auch von innen mit Hass und einer Rückkehr des Völkischen“ bedroht. Journalisten würden eingesperrt, Gerichte sollten manipuliert werden, gegen sogenannte Fremde werde gehetzt. Immer wieder sehe man, „wie Hass in Gewalt umschlägt und wie sie jeden treffen kann“.

Viele Wackelkandidaten

Der Ukraine-Krieg hat auch für den Europarat eine Zeitenwende eingeläutet. Wegen seines Angriffskriegs wurde Russland aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Doch auch andere Mitgliedsländer gelten als Wackelkandidaten, es ist nicht ganz klar, wie unverbrüchlich sie tatsächlich zum Europarat stehen. Serbien etwa droht mit dem Austritt, falls das Kosovo wie geplant Mitglied wird.

Aserbaidschans Delegation wurde Anfang des Jahres für ein Jahr aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ausgeschlossen, weil das Land Wahlbeobachtern den Zutritt verweigert hatte. Die Türkei setzt seit Jahren wichtige Urteile des zum Europarat gehörenden Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht um und sperrt etwa den Kulturförderer Osman Kavala weiter ein.

Auch für Großbritannien sind die Urteile des Gerichtshofs ein Dorn im Auge, etwa weil die Richter 2022 die Regierung in London in letzter Minute gehindert hatten, Asylsuchende per Flieger nach Ruanda zu schicken. Premier Rishi Sunak kündigte bei der Verabschiedung eines Asylpakts mit Ruanda an, einstweilige Verfügungen des EGMR künftig zu ignorieren. Austrittsdrohungen sollte der Europarat schlichtweg nicht beachten, sagt der Leiter der Deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Frank Schwabe (SPD): „Wenn Sie in der Fußball-Bundesliga eine Mannschaft haben, die statt mit dem Fuß mit der Hand spielt, und, wenn der Schiri dann pfeift, mit dem Austritt droht - dann ist es nicht schön. Aber dann ist es ja deren Entscheidung. Niemand muss mit der Hand spielen.“ Wenn man sich davon beeindrucken ließe und die Regeln wegen eines Einzelfalls für alle anderen schwächen würde, ginge die Substanz der Organisation verloren.

Begrenzte Möglichkeiten

Das schärfste Schwert des Europarats bleibt der Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Er wacht über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die alle Mitglieder des Europarats unterzeichnet haben. Sie sichert wichtige Rechte zu, etwa das Recht auf Leben, das Verbot der Folter oder die Meinungsfreiheit. Wer sich in seinen Rechten verletzt fühlt, kann vor dem EGMR klagen - die Richtersprüche sind bindend. Das Gericht ist allerdings chronisch überlastet mit über 50.000 neuen Beschwerden pro Jahr.

Abgesehen davon sind die Möglichkeiten begrenzt. Oft wird die Organisation deswegen als Papiertiger verspottet. Schwabe sieht das anders: „Die EU hat ökonomische Möglichkeiten, ja klar, die hat der Europarat nicht. Aber der Europarat hat verbriefte Rechte.“ Dazu zählten etwa das Recht, Wahlbeobachtungsmissionen zu schicken oder unangemeldet in Gefängnisse zu gehen.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Finanzen
Finanzen So profitiert Trumps Familie im Kryptosektor: CZ-Deals bringen Milliarden
14.11.2025

Der Fall um Čangpeng Žao und die Trump Familie wirft ein Schlaglicht auf die Verknüpfung von Kryptowährungen, Finanzströmen und...

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Brauanlagen-Hersteller Kaspar Schulz: „Made in Germany ist Teil unserer Markenidentität“
14.11.2025

Kaspar Schulz ist der älteste Braumaschinen-Hersteller der Welt. Seit 1677 produziert der Traditionsbetrieb in Bamberg. Johannes...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Google investiert: 6,41 Milliarden Dollar für Deutschlands Cloud-Infrastruktur
14.11.2025

Google plant eine milliardenschwere Expansion seiner Cloud-Infrastruktur in Deutschland, um seine Rechenzentren auszubauen und die Präsenz...

DWN
Finanzen
Finanzen Krypto-Crash erschüttert Anleger: Bitcoin-Kurs und andere Kryptowährungen stürzen ab – die Gründe
14.11.2025

Der Kryptomarkt wankt: Der Bitcoin-Kurs ist am Freitag unter die psychologisch wichtige Marke von 100.000 US-Dollar gerutscht und...

DWN
Finanzen
Finanzen Siemens Energy-Aktie: Rekordzahlen befeuern das Vertrauen in Siemens Energy
14.11.2025

Siemens Energy hat Anleger mit Rekordzahlen und einem starken Auftragseingang überrascht, die Siemens Energy-Aktie kletterte am Freitag...

DWN
Technologie
Technologie Streit um Verbrenner-Aus spitzt sich zu: Koalition sucht dringend nach gemeinsamer Linie
14.11.2025

Der ausbleibende E-Auto-Boom und zunehmender Druck aus der Industrie bringen das geplante EU-Verbrenner-Aus ab 2035 erneut ins Wanken....

DWN
Politik
Politik Alle 75 Minuten eine rassistische Straftat: Bundesregierung startet neuen Aktionsplan
14.11.2025

Die Bundesregierung will den Kampf gegen Rassismus neu aufstellen und modernisieren. Mit einer Auftaktsitzung von Ministeriumsvertretern...

DWN
Finanzen
Finanzen Klingbeil verteidigt Aktivrente: Steuerfreie Zusatzverdienste im Alter sollen Arbeitsmarkt stärken
14.11.2025

Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) hat die geplante Aktivrente im Bundestag energisch verteidigt. Sie soll es älteren...