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Kein Erdgas mehr durch die Ukraine? Westeuropa droht erneute Energiekrise

Eines der größten Risiken für die europäische Erdgasversorgung im nächsten Winter ist die Frage, ob Gaslieferungen weiterhin durch die Ukraine fließen werden. Ende 2024 läuft ein Fünfjahresabkommen aus, das den Transit von russischem Erdgas durch das Nachbarland regelt.
10.05.2024 18:43
Lesezeit: 4 min
Kein Erdgas mehr durch die Ukraine? Westeuropa droht erneute Energiekrise
Druckanzeige im Erdgasspeicher in Mecklenburg-Vorpommern: Damit diese Gasspeicher weiterhin gefüllt bleiben, muss eine Lösung für die Gaslieferung gefunden werden. (Foto: dpa) Foto: Jens Büttner

Die Verwerfungen, die der russische Angriff auf die Ukraine vor nun bereits mehr als zwei Jahren an den Agrar- und insbesondere den Energiemärkten auslösten, schürten vor allem in Europa die berechtigte Sorge vor einer ausgewachsenen Energiekrise im folgenden Winter. Auf Grund des Ausfalls des für Westeuropa wichtigsten Erdgaslieferanten Russland explodierten die Preise des für Industrie und Haushalte wichtigsten Energieträgers geradezu. Bis zum August 2022 verfünffachte sich der Index, welcher die deutschen Erdgaspreise am Spotmarkt der European Energy Exchange (EEX) abbildet, im Vergleich zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres. Der an der niederländischen TTF gehandelte europäische Benchmark-Kontrakt war mehr als achtmal so teuer als noch im Jahr zuvor. Dabei war es vor allem dem Glück zu verdanken, welches in Form eines sehr milden Winters den Krisenmodus ausfallen ließ. Mittlerweile haben sich die Preise für Erdgas an den Großhandelsmärkten vollständig zurückentwickelt und liegen so tief, wie seit gut drei Jahren nicht mehr.

Weiterer Lieferausfall steht bevor

Zum jetzigen Zeitpunkt, ganz zu Beginn der hiesigen Einspeichersaison, sind die europäischen Gasspeicher bereits komfortabel gefüllt. Abermals dank des unkritischen Winterwetters und zudem schwacher Industrienachfrage liegen die Füllstände europaweit bereits jetzt mit 63,8 % deutlich über ihrem langjährigen Mittel zu dieser Zeit, in Deutschland sieht die Bevorratungssituation mit mehr als 68 % Füllstand sehr entspannt aus. Diese zügige Speicherbefüllung in Europa gelingt auch deshalb, da Russland trotz der gegebenen Umstände weiterhin Erdgas per Pipeline in die EU liefert, und zwar als Transit durch die Ukraine. Das dafür im Jahr 2019 geschlossene Fünfjahresabkommen läuft jedoch Ende dieses Jahres aus.

Während der Krieg zwischen den beiden Nationen ein diplomatisches Abkommen über dessen Verlängerung ohnehin schon außer Reichweite gebracht hat, gab es jedoch einige Hoffnungen, dass kommerzielle Vereinbarungen möglich sein könnten. Diese Erwartungen wurden auf der Flame-Konferenz, einem wichtigen Branchentreffen in Amsterdam, Ende des vergangenen Monats enttäuscht, als ein Vertreter des ukrainischen Fernleitungsnetzbetreibers ausschloss, dass über die an der Grenze ankommenden russischen Lieferungen verhandelt werden könnte. Demnach wird es keine Versteigerung von Kapazitäten geben. Dies sorgte für Aufsehen, denn bis dahin zeigten sich Händler durchaus optimistisch, dass die Region auch nach dem Auslaufen des derzeitigen Transitabkommens weiterhin russische Lieferungen über die Ukraine erhalten wird.

Im vergangenen Jahr fanden gut 15 Milliarden Kubikmeter russisches Erdgas über diese Route ihren Weg nach Westeuropa, diese Menge dürfte nun ab 2025 fehlen. Das klingt zunächst einmal nicht allzu viel - zum Vergleich: durch die Unterseepipeline Nord Stream 1 flossen 2021 59,2 Milliarden Kubikmeter gen Westen. 15 Milliarden Kubikmeter reichen jedoch aus, um beispielsweise die Niederlande in den sechs kältesten Monaten des Jahres vollständig zu versorgen. Zwar vertritt die Europäische Kommission die Ansicht, dass selbst die Mitgliedstaaten, die am stärksten auf russisches Gas angewiesen sind, einen vollständigen Lieferstopp überstehen könnten, verweist jedoch gleichzeitig auf damit im Zusammenhang stehende „Herausforderungen“. Ein Hauptproblem ist die geringe Anzahl alternativer Lieferrouten, was vor allem für Binnenländer, wie Österreich und die Slowakei bedeutsam sind. Diese Länder beziehen immer noch einen Großteil ihres Erdgases über die ukrainische Transitroute, die Variante über die Turkstream-Verbindung von Russland über die Türkei ist mit einer Kapazität von lediglich vier Milliarden Kubikmetern pro Jahr nicht ausreichend. Allein Österreich nahm im vergangenen Jahr fast sieben Milliarden Kubikmeter aus der Ukraine ab.

Ukrainische Erdgasspeicher in Gefahr

Darüber hinaus geht es nicht nur um die Beschaffung des Brennstoffs. So befinden sich die europäischen Vorräte schon jetzt auf einem für diese Jahreszeit rekordverdächtigen Niveau, werden im Laufe des Sommers ihre Höchststände und damit die Grenze der Speicherkapazität erreichen. Für weitere Speicher stand bislang die Ukraine zur Verfügung, schließlich verfügt das Land über die größten Lagerkapazitäten Europas. Im vergangenen Jahr speicherten internationale Unternehmen rund 2,5 Milliarden Kubikmeter Gas in der Ukraine, das entspricht einem Viertel der gesamten angebotenen Kapazität. Die Ukraine ist bestrebt, diese Mengen in diesem Jahr zu erhöhen, und setzt alles daran, ihren Partnern zu versichern, dass es trotz der jüngsten russischen Angriffe auf die Infrastruktur des Landes weiterhin sinnvoll ist, dort Gas zu speichern. Auch die deutsche Securing Energy for Europe GmbH (SEFE), eine vormalige Gazprom-Einheit, die auf dem Höhepunkt der europäischen Energiekrise verstaatlicht wurde, erwägt, erneut Erdgas in der Ukraine zu lagern, konkretisiert dieses Vorhaben bezüglich Mengen und Zeitplan jedoch bislang nicht. Allerdings besteht auf Grund der fortlaufenden russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur des Landes die große Gefahr, dass das Erdgas aus den Speichern gar nicht abtransportiert werden kann. Zudem weisen einige Lagerstellen selbst bereits Beschädigungen durch Luftangriffe auf.

Terminmärkte spiegeln die brenzlige Situation wider

Unter der Oberfläche braut sich also etwas zusammen. Erdgashändler zeigen sich bereits alarmiert und sondieren die Lage auf die kleinsten Anzeichen von Störungen. Diese Besorgnis zeigt sich vor allem an den Futures- und Optionsmärkten, wo extreme Preisschwankungen mittlerweile zur Norm geworden sind. Als Krisenverstärker kommt zum auslaufenden Transitvertrag zwischen Russland und der Ukraine der weiterhin brodelnde Konflikt im Nahen Osten hinzu, welcher für den Erdgasmarkt ebenfalls das Risiko schwieriger – und teurer – werdender Transporte birgt. Nach einer Phase relativer Ruhe in den letzten Monaten nimmt die Volatilität an den Märkten wieder zu. Seit Ende Februar hat sich der europäische Erdgas-Benchmarkkontrakt an der niederländischen Title Transfer Facility (TTF) in der Spitze um gut 49 % verteuert und handelt aktuell nur knapp tiefer. Den Daten der Londoner Rohstoffbörse ICE zufolge ist das Volumen der Erdgasoptionen im Jahresvergleich im vergangenen Monat um 84 % gestiegen, während das Open Interest, das ist die Summe aller ausstehenden Optionspositionen, im gleichen Zeitraum um 117 % zugenommen hat. Der Handel mit den für das europäische Festland vielbeachteten niederländischen Gasterminprodukten erreichte am 16. April mit fast 700.000 gehandelten Kontrakten einen neuen Tagesrekord.

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Markus Grüne (49) ist langjähriger professioneller Börsenhändler in den Bereichen Aktien, Derivate und Rohstoffe. Seit 2019 arbeitet er als freier Finanzmarkt-Journalist, wobei er unter anderem eigene Börsenbriefe und Marktanalysen mit Fokus auf Rohstoffe publiziert. 

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