Über die historische Glienicker Brücke geht es die Berliner Straße in die Potsdamer Innenstadt. Gut möglich, dass hier dieser Tage an der Grenze wieder Gefangene ausgetauscht zwischen Ost und West – wie damals im Kalten Krieg. Es ist knalle heiß, und doch weht hier dieser Tage ein eisiger Wind zwischen der Bundeshauptstadt und der Provinz. Es herrscht wieder Wahlkampf! Das Russland-freundliche Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) steht bei 16 bis 17 Prozent in den Umfragen. Die AfD könnte den Osten umkrempeln. Es ist Krieg in der Ukraine.
Plakate gibt es hier in der sogenannten Berliner Vorstadt, wo die wohlhabenden Berliner Unternehmer idyllisch am Heiligen See wohnen, bislang nur von CDU und Grünen. Dann wenigstens ein zwei gelbe Farbkleckse der FDP, die am Lampenmast einerseits zum Wahlkampfauftakt mit Christian Lindner vor das Brandenburger Tor in die Potsdamer Stadt einladen, andererseits auf „ZYON“ aufmerksam machen. Dessen Vorname ist in Lettern größer als die Versalien seiner Partei. Die Rede ist von Zyon Braun, dem Spitzenkandidaten der Liberalen im Land Brandenburg. Wie die sonnigen Sonnenblumen und der giftige Raps in seiner Heimat ein gelbes Eigengewächs aus der Uckermark. Mitten im bevorstehenden Wahlkampf wird der junge Bankfachwirt mit der markanten Hornbrille demnächst 30 Jahre alt. Ein Neuanfang?
„Er ist ein politisches Naturtalent“, sagt Christian Renatus, der Wahlkampfmanager der FDP. „Ein sehr guter Redner, Zyon Braun erinnert mich an den jungen Guido Westerwelle.“ Renatus muss es wissen, hat er doch so ziemlich alles erlebt, in seiner Zeit als liberale Wunderwaffe. Aufstieg und „Absturz“ des Jürgen W. Möllemann in NRW. Den Höhenrausch Westerwelles, nachdem dieser mit dem „Projekt 18“ das beste FDP-Wahlergebnis aller Zeiten feiern konnte - stolze 14,6 Prozent. Das führte Westerwelle prompt als Außenminister mehrfach rund um die Welt – und zugleich ins politische Abseits. 2015 flog die FDP aus dem Bundestag. Seither schwingt bei der FDP bei Wahlen immer ein bisschen die Angst mit
Urgestein aus dem Erzgebirge und letzter Mohikaner der LDPD
Christian Renatus aus dem sächsischen Erzgebirge war als Wahlkampfmanager auch damals mit von der Partie, als die Ziele noch an den Sohlen von Westerwelles Turnschuhen abgesteckt wurden. Und als die Achterbahnfahrt in den Bundesländern begann – der Jo-Jo-Effekt. Mal drin, meistens draußen! Zwischendurch immer wieder Achtungserfolge und sogar Triumphe. Meistens hat dann Renatus hinter den Kulissen gewirkt und an den Strippen gezogen. Als ihn 1987 zu DDR-Zeiten Parteichef Manfred Gerlach aus der sächsischen Provinz nach Karl-Marx-Stadt beorderte, dem heutigen Chemnitz, war der Weg in die Spitzen der Partei-Hierarchie zwar in gewisser Weise vorgezeichnet, jedoch alles andere als selbstverständlich. Renatus ist einer der letzten politischen Urgesteine der DDR-Blockpartei LDPD, der noch heute aktiv mitmischt in der FDP, trotz seiner mittlerweile 77 Jahre.
Jetzt muss er wieder ran! Der Osten schwankt. In seiner Heimat Sachsen hätte sie gut gebrauchen können. Doch Renatus betont, dass „nicht nur die Ziele stimmen müssen, sondern auch die Sympathie“. So hat er sich für Brandenburg entschieden, für die dort junge, völlig neu aufgestellte FDP, die es bei der letzten Wahl knapp nicht geschafft hat, trotz seiner Hilfe. „Eine bittere Erfahrung“, gesteht Renatus. „Und auch diesmal wird es wieder sehr schwer.“ Rückenwind aus Berlin sieht anders aus, als derzeit von der gelben Partei, die inmitten der rot-grünen Ampel gefangen zu sein scheint. Dennoch ist Renatus zuversichtlich. Er habe „noch ein paar Asse im Ärmel, für die Schlussphase des Wahlkampfes“, sagt der drahtige Dauerläufer, der „zwei- oder sogar dreimal die Woche sechs Kilometer in Potsdam abreißt“, um fit zu bleiben.
Wahlkampf ist nicht nur Strategie und Witz, sondern vor allen Kärrnerarbeit an der Basis
„Wenn einer der drei Landesverbände es bei den bevorstehenden Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg schafft, dann wir hier!“ Dafür werden „heute Abend Plakate gehängt und auch in der Fußgängerzone mit den Wählern diskutiert“. „Dann kommen auch endlich die Wesselmänner.“ Renatus spricht von den großflächigen Wahlkampfplakaten der Bochumer Firma Wesselmann, die niemand im Stadtbild übersehen könne.
Wahlkampf ist für ihn „Kärrnerarbeit“. „800 Plakate in Potsdam“ sind es erst bisher, „3000 im ganzen Bundesland“. Bis zu 20.000 Plakate sollen es noch werden. „Nicht mit der Gießkanne verteilt“, sondern strategisch platziert – vor allem im sogenannten Speckgürtel der Hauptstadt. Ohne die von Berlin ins Umland gezogenen „Leihstimmen“ wird es wohl nicht klappen.
Ohne inhaltliches Profil freilich auch nicht. Die FDP glaubt, durch die regionalen Wurzeln ihres Kandidaten und durch dessen unbedingten Siegeswillen und seine für die FDP typische Leistungsbereitschaft, den Wählern endlich jemanden präsentieren zu können, der die Werte der Partei auch tatsächlich verkörpert. Ganz anders als jener Mann, der die FDP vor zehn Jahren mit dem Slogan „Keine Sau braucht die FDP“ die eigene Partei versenkte und aus dem Landtag geradezu heraus katapultierte. „Das war nicht witzig“, doziert Renatus, der 1998 mit der Werbeagentur Heimat die damals noch unbekannten Sprücheklopfer für den Möllemann-Wahlkampf („NRW braucht Tempo“) an Bord holte und damit ein Stück weit die Werbung für Parteien und Walen ganz grundlegend verändert hat. „Möllemann holte damals fast neun Prozent aus dem Nichts.“ Die Meriten von Christian Renatus sind also ganz klar in Prozentpunkten messbar.
Und das sogar an Orten, wo man den Liberalen eigentlich keine Chancen mehr eingeräumt hatte. In Sachsen-Anhalt etwa anno 2021, wo die FDP gleichfalls zehn Jahre lang im Nirgendwo rund um Magdeburg in der Börde und auf der Elbe vor sich dümpelte. Katja Sudings Wahlkampf in der Hansestadt Hamburg gehört genauso zu den Highlights wie die Siege mit Wolfgang Kubicki hoch oben zwischen den Küsten in Schleswig-Holstein. Das verbindet natürlich. „Mit dem bin ich mittlerweile befreundet.“
Unsere Klientel will weder eine neue Mauer noch die Diktatur zurück
Und warum tut sich die FDP so schwer im Osten? Aufschluss könnte Renatus demnächst n einem Buch über seine Kindheit und Jugend im Erzgebirge geben, an dem er arbeitet, wenn mal niemand von der Partei nach Hilfe ruft. „Die Menschen haben vergessen, dass es zwischen 1950 und 1970 auch im Osten einen sehr leistungsbereiten bürgerlichen Mittelstand gab.“ Sein Vater etwa war selbständig und hatte zwei Firmen, bis das Benzin für die Lkw immer knapper wurde und schließlich die SED 1972 zur Verstaatlichung der Betriebe überging. „Viele sind damals bewusst nicht in den Westen gegangen, nicht alle wollten weg.“ Als Steuerberater noch Revisoren waren und dann zum Anachronismus geworden sind.
„Viele wollten einfach nur in ihrer Heimat bleiben und haben sich arrangiert mit den Verhältnissen.“ Insofern ist Renatus überzeugt, dass seine FDP einfach weiter sehr konsequent um die Unternehmer und Freiberufler kämpfen müsse. Die FDP sei nun mal keine Volkspartei, die über 20 Prozent der Stimmen holt und deshalb thematisch in aller Breite aufgestellt sein muss.
Bis zu 18 Prozent sind FDP-Klientel - sie müssen nur abgeholt werden
„Unsere Klientel umfasst bestimmt 16 bis 18 Prozent der Wählerschaft. Diese Menschen wollen keine Mauern bauen oder sicher nicht die Diktatur zurück.“ Aus der Sicht von Christian Renatus hätte die FDP gerade im Osten „gezielt die Leistungsträger ansprechen sollen - das sind wir: die FDP“. „Das ist immer noch hochaktuell“, glaubt Renatus, der sich mehr Respekt und Rückbesinnung für das untergegangene Bürgertum der DDR gewünscht hätte. „Da wurden leider Fehler gemacht. Da sind auch Narben geblieben.“ Die Sache mit der Treuhand.
Im Wahlkampf in den kommenden Wochen will Renatus sich vor allem nicht verzetteln. „Wir kämpfen im Umland und der Lausitz - wir müssen für diese Regionen gezielt unsere Themen setzen.“ Rund um Berlin wollen sie weiter ihr Auto nutzen - das stehe nicht im Widerspruch zur Klimadebatte. Einweiteres Thema: die Ordnungspolitik. Für FDP-Wähler in Brandenburg ist das keine Zumutung, da werden die Bruchstellen zur den Grünen erkennbar und zu den „Avocados“ - wie Renatus im Bremer Wahlkampf die CDU bezeichnete.
Vokale Unterstützung kommt von Parteichef Christian Lindner, der mindestens zwölf Mal in Brandenburg auf Kundgebungen zu erleben sein wird - so auch am 2. August vor dem Brandenburger Tor der Potsdamer Altstadt. Sich in Opposition zur Bundespolitik zu begeben, macht für Renatus keinen Sinn. Renatus weiß, dass das in Thüringen und Sachsen anders gesehen wird. Er nimmt bereits Wetten an, wie weit die Parteifreunde in Mitteldeutschland kommen.
Jeder Spitzenpolitiker aus Berlin sei willkommen, „Fraktionschef Christian Dürr kommt“ eigens aus dem niedersächsischen Delmenhorst. Selbst die „Freiheitlichen“ sind mit Justizminister Marco Buschmann vertreten, auch wenn deren Ansichten nicht geteilt werden in der Mark Brandenburg. Vor allem im punkto Sicherheitspolitik und in Sachen Wehrpflicht gibt es offenkundig so manche Meinungsverschiedenheiten, die Renatus mit den Ost-West-Widersprüchen zu erklären versucht.
Selbst der Parteichef wird da nicht von Kritik ausgenommen. Bei Sicherheitsfragen und Bundeswehr scheint Lindner „eine Beißhemmung“ zu haben“, bekennt Renatus ganz offen. Man kann sich vorstellen, dass die Gespräche mit den Wählern in der Brandenburger Straße spannend werden. Und die Frage, ob Renatus erneut ein Wunder bei der Wahl bewirken kann auch.