Politik

Wie der Wiederaufbau gelingt: Der Weg voran für die Wirtschaft der Ukraine

Lesezeit: 11 min
30.07.2024 16:08
Russlands Angriff auf die Ukraine hat die globale Ordnung erschüttert und stellt das Völkerrecht infrage. Zwei Jahre nach Beginn des Krieges kämpft die Ukraine nicht nur an der Front, sondern auch ums wirtschaftliche Überleben. Der Weg zum Wiederaufbau ist voller Herausforderungen. Der Ukraine droht eine „Re-Oligarchisierung“, wenn sie hastig privatisiert. Stattdessen ist ein ausgewogenes Modell aus staatlicher Führung, Marktwirtschaft und Zivilgesellschaft nötig.

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Russlands schändlicher Einmarsch in der Ukraine hat die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Weltordnung erschüttert und das Völkerrecht untergraben. Das hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Geopolitik und Wirtschaft, die sich erst jetzt bemerkbar machen. Während weltweit autoritäre Regime die demokratischen herausfordern, sind die verheerendsten Auswirkungen natürlich in der Ukraine zu spüren. Mehr als zwei Jahre nach Kriegsbeginn kämpft das Land nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich ums Überleben.

Mit der fortlaufenden Anpassung der ukrainischen Wirtschaft an den sich wandelnden Charakter des Krieges und dem beginnenden Wiederaufbau stellt die ukrainische Regierung die Weichen für alles, was nach dem Ende der Kämpfe folgen wird. Der Erfolg dabei ist eng mit dem Erfolg nach dem Krieg verknüpft. Doch angesichts konkurrierender wirtschaftlicher Visionen gibt es konkurrierende Ansichten darüber, was zu tun ist.

Einige drängen darauf, dass die Ukraine den Reihen jener Länder beitritt, die sich dem Neoliberalismus verschrieben haben, d. h. der Privatisierung und Liberalisierung nicht nur des Handels, Kapitalmarktes und Finanzsektors, sondern auch der Arbeitsmärkte (eine Politik, die einst unter dem Begriff „Washington Consensus“ bekannt war). Angesichts der hohen Verschuldung der Ukraine, so das Argument, müsse das Land den Gürtel enger schnallen, um seine Schulden zurückzuzahlen und das Vertrauen ausländischer Investoren, die der Schlüssel zu seinem künftigen Erfolg seien, nicht zu gefährden.

Es ist, als ob diese Diskussion vor 30 Jahren stattfinden würde. Damals glaubten viele Mainstream-Ökonomen noch, dass eine derartige Politik vernünftig sei, obwohl schon damals umfangreiche Arbeiten die Schwächen der theoretischen Argumente dafür aufzeigten. In Ostasien hatten sich Länder, die sich nicht an das neoliberale Rezept gehalten hatten, beeindruckend entwickelt, und zunehmende Belege aus Lateinamerika und Afrika zeigten, dass Länder, die sich dem Washington Consensus verschrieben, häufig eine Deindustrialisierung, ein schwaches Wachstum, episodische Krisen und wachsende Ungleichheit erlebten.

Wenn es damals nicht offensichtlich genug war, dann ist es das jetzt. Die aktuelle Theorie und eine überwältigende Fülle von Belegen aus der realen Welt zeigen, dass der Neoliberalismus ein kolossaler Fehlschlag war. Die Ukraine muss anderswo nach Lösungen suchen.

Die Beschaffenheit der Herausforderung

So schlecht der Neoliberalismus für Volkswirtschaften in normalen Zeiten auch ist: Noch viel schlimmer ist er für Länder im Krieg oder in jener Art von Übergangsphase, wie sie die Ukraine in den kommenden Jahren durchlaufen wird. Der herkömmliche Preismechanismus – der Informationen vermittelt, Anreize setzt und wirtschaftliche Aktivitäten koordiniert – funktioniert unter Kriegsbedingungen besonders schlecht. Von entscheidender Bedeutung ist hier der Zeitfaktor, und Zahlungsfähigkeit und Zahlungsbereitschaft können stark abweichen.

Tatsächlich hat keine Regierung je erfolgreich Krieg geführt, indem sie sich strikt an marktwirtschaftliche Prinzipien hielt. Sogar im jüngsten „Krieg“ der USA gegen COVID-19 griff die Regierung auf den Defense Production Act zurück. Dieses Gesetz aus der Zeit des Kalten Krieges verschafft der Regierung beträchtliche Befugnisse für Markteingriffe, um kritische Bedrohungen zu bekämpfen. Es wurde in der Vergangenheit u. a. genutzt, um während des Koreakriegs Preise festzulegen, die Versorgung mit wichtigen Rohstoffen zu sichern und die Schwerindustrie zu regulieren.

Natürlich funktioniert eine staatlich gelenkte Wirtschaft nicht. Aber wir haben zu oft den gegenteiligen Fehler gemacht und uns auf unregulierte, schlecht funktionierende Märkte verlassen, auch nachdem dies zu dramatischen wirtschaftlichen Misserfolgen geführt hat. Aufgabe der Ukraine wird es sein, das richtige Gleichgewicht zu finden. Zugleich wird, da die militärische Sicherheit eine Grundvoraussetzung für eine robuste wirtschaftliche Entwicklung ist, ein Großteil dieser Diskussion hinfällig, wenn der Ukraine die Mittel zu ihrer Verteidigung fehlen. Fortgesetzte westliche Militärhilfe ist daher unverzichtbar.

Auch von der Verteidigung abgesehen sind die Herausforderungen, vor denen die Ukraine steht, vielfältig und komplex und umfassen weit mehr als nur den Wiederaufbau der physischen Infrastruktur und des zerstörten Wohnraums. Zu Kriegsbeginn hatte die Ukraine noch nicht alle für eine gut funktionierende Marktwirtschaft erforderlichen institutionellen und rechtlichen Strukturen geschaffen. Eine Marktwirtschaft erfordert Vertrauen, aber das war schon zu Sowjetzeiten schwach ausgeprägt und wurde in den frühen Jahren der postkommunistischen Transformation weiter geschwächt. Dies führte zur Entstehung einer Oligarchie, die sich im Westen auf das Recht stützen konnte, es aber in der Ukraine mit Füßen trat.

Seither hat der Krieg nicht nur physisches Kapital, sondern auch Human- und Naturkapital zerstört. Während die Ukraine für ihren fruchtbaren Boden bekannt ist, sind große Teile des Landes vermint, und die Beseitigung dieser Minen dauert lange und ist teuer. Rund 18 % des ukrainischen Gebiets und Millionen von Menschen stehen unter russischer Besatzung. Die umfassenderen Kosten für die Menschen lassen sich kaum überschätzen.

Die Ukraine hat erhebliche vertreibungsbedingte Verluste an Arbeitskräften erlitten, da viele Frauen und Kinder (laut Schätzungen 6,5 Millionen) das Land verlassen haben und mindestens 700.000 Männer im dienstfähigen Alter im Krieg eingesetzt sind. Es besteht die Sorge, dass die Ukraine aus dem Krieg mit einem großen Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern hervorgehen wird, was langfristige soziale und wirtschaftliche Folgen haben könnte.

Gründe zur Hoffnung

Kriege können eine transformative Wirkung auf Gesellschaften haben, insbesondere wenn die Kriegsregierungen ein Auge auf die Nachkriegsgesellschaft haben, die sie erreichen möchten. Im Fall der USA führte jeder Weltkrieg zu dauerhaften systematischen Veränderungen und zwang die Regierung, die Folgen der sozialen Ungerechtigkeiten der jeweiligen Zeit anzugehen. Die Einführung von Schulmahlzeiten etwa war u. a. der Notwendigkeit geschuldet, sicherzustellen, dass die Bevölkerung physisch auf das vorbereitet war, was auf sie zukommen könnte. Der körperliche Zustand vieler Rekruten lieferte schockierende Beweise dafür, dass viele Amerikaner nicht die Ernährung erhielten, die sie für ein gesundes, produktives Leben benötigten.

Der Zweite Weltkrieg war entscheidend dafür, die Transformation der USA von einer überwiegend ländlich geprägten Agrargesellschaft zu einer urbanen, industriellen Wirtschaft voranzutreiben. Das zur Wiedereingliederung der Kriegsheimkehrer erlassene GI-Gesetz stellte sicher, dass (fast) jeder sich in dem für ihn nützlichen Umfang fortbilden konnte, und der kriegsbedingte Anstieg der Erwerbstätigkeit von Frauen veränderte die wirtschaftliche Balance zwischen den Geschlechtern. Die großen technologischen Fortschritte, die der Krieg in der Telekommunikation, der Luftfahrt und anderen Bereichen hervorbrachte, revolutionierten alle Volkswirtschaften und Gesellschaften.

Was nun die Ukraine angeht, so wird sie nach dem Krieg eine Reihe von Vorteilen haben, die sie bei ihrer Transformation nutzen kann. Die große Gruppe ukrainischer Bürger, die ausgedehnte Zeit im Ausland verbracht hat, wird nicht nur Geld zurückschicken können, sondern auch wertvolles Wissen und Know-how beisteuern können. Darüber hinaus wird der EU-Beitritt der Ukraine eine Umgestaltung ihrer rechtlichen und institutionellen Infrastruktur erzwingen. Obwohl diese Veränderungen keine Garantie für eine langfristige demokratische Konsolidierung sind (das Beispiel Ungarn zeigt es), deuten Studien darauf hin, dass der EU-Beitritt einer der wichtigsten Faktoren für die Entwicklung nach dem Kommunismus war.

Die Ukraine dürfte außerdem in vielen der Sektoren, die das zukünftige globale Wachstum vorantreiben werden, Wettbewerbsvorteile aufweisen. Ihre Arbeitskräfte sind gut ausgebildet, flexibel und sehr billig. Die Gehälter schwanken je nach Region und Branche, aber das durchschnittliche Monatsgehalt beträgt nur etwa 500 US-Dollar, wobei die höchsten Monatsgehälter (im IT-Sektor Kiews) zwischen 1.000 und 2.600 US-Dollar liegen.

Zu guter Letzt ist da ein wichtiges, (vielleicht einzigartig) ukrainisches Phänomen, das Gutes für die Zukunft verheißt. Nach den Euromaidan-Protesten 2013-14 und Russlands anschließender Invasion und illegaler Annexion der Krim erlebte die ukrainische Zivilgesellschaft eine Renaissance. Die Ukraine hat bisher dank zweier Gruppen von Menschen überlebt, umgangssprachlich bezeichnet als volontery (Freiwillige, die bereitwillig ihre Zeit, ihr Fachwissen oder ihr Geld zur Verfügung stellen) und als dobrovol’tsi („Menschen guten Willens“, die sich aus eigenem Antrieb für die uniformierten Dienste melden).

Die Netzwerke der volontery operieren auf Vertrauensbasis, was von Ökonomen als wichtiger Bestandteil von Entwicklung erkannt wird. Implizite Normen sind für das Wachstum ebenso notwendig wie explizite, durchsetzbare Gesetze, und die wissenschaftliche Literatur ist voll von Beispielen, wie Vertrauen historisch und in experimentellen Umgebungen wohlfahrtsfördernde Interaktionen unterstützt hat, die ansonsten nicht möglich gewesen wären. Wiederholte, transparente Interaktionen erleichtern das Überwinden von Barrieren für eine für alle Beteiligten vorteilhafte Zusammenarbeit. Die Ukrainer organisieren bereits heute Spendenaktionen in den sozialen Medien, leisten Sachspenden, transportieren Waren über hunderte von Kilometern und arbeiten an Wiederaufbauinitiativen.

Diese Netzwerke der volontery im In- und Ausland könnten entscheidend sein, um sicherzustellen, dass die von uns vorgeschlagenen Regierungsmaßnahmen letztlich erfolgreich sind. Die Solidarität und das Vertrauen, die im Kampf für die Demokratie im Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurden, trugen erheblich zu den folgenden 25 Jahren schnellen, gemeinsamen Wachstums in Europa und den USA bei. Gleiches könnte für die Ukraine gelten – vorausgesetzt, sie mobilisiert diese Ressourcen, stellt sicher, dass die Last des Krieges fair geteilt wird, und sorgt während des Wiederaufbauprozesses für Chancengerechtigkeit.

Finanzierung des Wiederaufbaus

Während die Kriegsausgaben der Ukraine dringend bleiben, sind ihre typischen Einnahmequellen versiegt. Trotz der beispiellosen Unterstützung, die die Ukraine von vielen in der internationalen Gemeinschaft erhalten hat, ist ihre Finanzierung eine langfristige Herausforderung, und die meisten der Elemente, die das Land für seinen Erfolg benötigt, müssen heute von den Ukrainern selbst geschaffen werden.

Die Ukraine sollte zur Finanzierung des Wiederaufbaus auf das in den USA und Europa eingefrorene russische Vermögen zurückgreifen können. Die aktuelle Haltung Europas in dieser Frage ist unsinnig. Es scheint zu glauben, dass Russland gegen internationales Recht verstoßen kann, indem es seinen Nachbarn überfällt, aber dennoch vollen Eigentumsschutz nach westlichen Gesetzen genießen sollte.

Doch obwohl das Völkerrecht es sehr wohl zulässt, russische Vermögenswerte für den Wiederaufbau der Ukraine zu verwenden, werden selbst die 300 Milliarden US-Dollar an eingefrorenen russischen Zentralbankreserven dafür nicht ausreichen. Auch der Westen muss zusätzlich großzügige finanzielle Unterstützung leisten. Die westliche Welt sollte sich bewusst machen, dass dies ein geringer Preis ist, um der vom russischen Krieg ausgehenden Bedrohung zu begegnen. Obwohl wir uns in einem großen Kampf befinden, mussten wir bisher keine Truppen entsenden. Damit das so bleibt, müssen wir der Ukraine weiterhin so viel Hilfe leisten, wie nötig ist, damit sie den Krieg gewinnt (was nicht dasselbe ist, wie ihn lediglich nicht zu verlieren).

Ein Teil dieser Hilfe muss in Form eines Schuldenerlasses erfolgen, da es für die Ukraine schlicht unmöglich ist, ihre Schulden komplett zurückzuzahlen. Wir wissen aus bitterer Erfahrung, dass man aus einem Stein kein Wasser pressen kann. Eine Austeritätspolitik, die darauf ausgerichtet ist, immer noch ein bisschen mehr für die Gläubiger herauszuholen, wird zwangsläufig scheitern und sorgt oft dafür, dass es sowohl dem Gläubiger als auch dem Schuldner hinterher schlechter geht. Die vom Internationalen Währungsfonds, offiziellen Gläubigern und privaten Kreditgebern erhobenen Zinssätze sollten erheblich reduziert werden, um eine finanziell nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten.

Da die Ukraine in der Lage sein muss, sich in erheblichem Maße selbst zu finanzieren (es wäre ein Fehler, sich zu sehr auf ausländische Investitionen zu verlassen), ist es außerdem wichtig, die inländische Sparquote zu erhöhen. Dazu jedoch bedarf es einer Regierung, die sich wirtschaftlicher Stabilität verpflichtet fühlt, und vieler sicherer, diversifizierter und kostengünstiger Möglichkeiten für die Menschen, ihr Geld anzulegen. Und das wiederum erfordert eine Mischung aus gut regulierten privaten, genossenschaftlichen und öffentlichen Finanzinstituten.

Das richtige Gleichgewicht

Eine Volkswirtschaft braucht im 21. Jahrhundert ein Gleichgewicht zwischen Regierung, Märkten und Zivilgesellschaft. Der Neoliberalismus irrte, als er den Privatsektor auf ein Podest erhob. Die aggressive Privatisierung war kein Allheilmittel und ging oft schief. Während viele der staatseigenen Unternehmen der Ukraine dysfunktional und korrupt sind, würde ein schlecht durchgeführter Privatisierungsprozess neue Risiken schaffen. Viele der postkommunistischen Privatisierungen waren von Korruption und Bestechung gekennzeichnet und machten letztlich nur die Oligarchen reicher. Eine ideologisch motivierte Politik der „Privatisierung um der Privatisierung willen“ führt oft dazu, dass Vermögenswerte weit unter Wert verkauft werden, was darauf hinausläuft, den Käufern Rentenerträge zu bescheren und wirtschaftliche (und womöglich auch politische) Macht abzugeben.

Im Fall der Ukraine könnte eine hastige, zu Kriegszeiten durchgeführte Privatisierung die schwindende Macht der bestehenden Oligarchen stärken (von denen einige erhebliche Teile ihres Vermögens verloren haben und begierig darauf sind, ihren verlorenen Status zurückzuerlangen); sie birgt die Gefahr einer „Re-Oligarchisierung“ des Landes, die nicht nur seine wirtschaftliche Effizienz und Dynamik, sondern auch seine Demokratie untergraben würde. Die Regierungspolitik sollte stattdessen darauf abzielen, den Wettbewerb zu fördern und die Marktmacht Einzelner zu begrenzen.

Das aktuelle ukrainische Beschaffungssystem Prozorro ist bewundernswert transparent, aber vor heimlichen Absprachen zwischen Bietern kann es nicht schützen. Zum Glück kann hier die moderne Wirtschaftstheorie helfen. Es gibt heute reichlich Literatur über absprachesichere Auktionen, und die Ökonomen haben eine Vielzahl von Werkzeugen ermittelt, die die Ergebnisse von Privatisierungen verbessern könnten, darunter bessere Ausschreibungen (um sicherzustellen, dass der Staat den vollen Wert der verkauften Vermögenswerte erhält) und Aufsichtsmechanismen. Die wichtigsten Werkzeuge könnten ein durchsetzbares Bekenntnis zur Beschlagnahme der Vermögenswerte und die Verhängung hoher Strafen sein, wenn diese nicht wie versprochen genutzt werden.

Zu guter Letzt könnte es eine potenzielle Rolle für öffentlich-private Partnerschaften geben – einen Mittelweg zwischen der Ineffizienz und Korruption staatseigener Unternehmen und der Ineffizienz und Korruption des Privatsektors. Doch müssen diese Partnerschaften sorgfältig konzipiert sein: Allzu oft haben derartige Vereinbarungen in der Vergangenheit dazu geführt, dass der Privatsektor die Gewinne einstrich und der öffentliche Sektor die Verluste trug.

Auf jeden Fall wird die ukrainische Regierung eine zentrale Rolle im Wiederaufbauprozess spielen müssen. Sie sollte die internationale Hilfe, die das Land erhält, nutzen, um das durch den Krieg zerstörte physische, Human- und Naturkapital wieder aufzubauen und wiederherzustellen, insbesondere die Verkehrs-, Gesundheits-, Bildungs- und Klimainfrastruktur.

Die Rolle der Regierung in anderen Bereichen ist weniger offensichtlich, aber nicht weniger wichtig. Zum Beispiel muss der Wohnungsbestand wieder aufgebaut werden, um sicherzustellen, dass Flüchtlinge sicher zurückkehren können. Hier können die ukrainischen Planer aus den Erfahrungen anderer lernen, und zwar aus Erfolgen wie Misserfolgen. Das reicht von Wiens erfolgreichem öffentlichen Wohnungsbauprogramm bis hin zu den Versäumnissen vieler US-Städte, Maßnahmen für ihre wohnungslosen Bevölkerungsteile zu treffen. Der beste Ansatz wird eine zweigleisige Strategie sein, die sowohl öffentliche als auch private Initiativen umfasst.

Ein grundlegendes Ziel staatlicher Politik sollte es sein, eine Wirtschaft zu schaffen, die langfristiges Wachstum und gemeinsamen Wohlstand bietet. Um hierbei Erfolg zu haben, muss die Regierung die Spielregeln so gestalten, dass Fairness und Effizienz gewährleistet sind und Ausbeutung verhindert wird. Das bedeutet, wettbewerbsfähige Märkte durch glaubwürdige Regulierung und geeignete politische Regelungen für die digitale Wirtschaft, die Innovation und das geistige Eigentum zu lenken und zu gestalten.

Viele dieser Bereiche werden durch den Besitzstand der EU abgedeckt – das umfangreiche Korpus europäischen Rechts, den die Ukraine im Laufe ihrer Beitrittsverhandlungen mit der EU übernehmen wird. Aber die Ukraine sollte sich sofort darauf konzentrieren, denn die Verhandlungen über den EU-Beitritt können Jahre dauern, und selbst innerhalb des EU-Regelwerks bieten sich den Regierungen erhebliche Ermessensspielräume. Die Ukrainer sollten dabei das Versagen des Neoliberalismus im Auge behalten. Nach ihrer Erfahrung mit dem überheblichen Versuch des Kommunismus, alle Aspekte des Lebens zu kontrollieren, werden viele versucht sein, ins andere Extrem zu verfallen und den Märkten freien Lauf zu lassen. Das wäre ein schwerer Fehler.

Die eigenen Stärken ausspielen

Dass sich die jungen Ukrainer inzwischen weltweit einen Ruf für ihre technischen Fähigkeiten erworben haben, ermöglicht die Einbindung der Ukraine in die globale digitale Wirtschaft, insbesondere, wenn die Regierung die Investitionen in die Infrastruktur, die hochwertige technische Bildung und die Forschung unterstützt. Die Verbreitung von Technologien (in Abgrenzung von ihrer Entwicklung) dürfte eine entscheidende Rolle für die wirtschaftliche Zukunft des Landes spielen. Die Ukraine mag in einigen Technologien voraus sein – insbesondere in solchen, die die Verteidigung betreffen –, aber in anderen Bereichen hinkt sie weiterhin hinterher. Politische Maßnahmen und Institutionen zur Förderung von Technologietransfers sollten daher in der Wiederaufbauphase hohe Priorität haben.

Mit Blick auf die weitere Zukunft wird der EU-Binnenmarkt – mit seiner Freizügigkeit von Menschen, Waren, Kapital und Ideen – eine wichtige Wachstumsquelle sein. Während die 2016 in Kraft getretene vertiefte und umfassende Freihandelszone (DCFTA) und das Assoziierungsabkommen von 2017 der Ukraine schon vor dem Beitritt einige Vorteile eröffnen, lässt sich noch mehr tun, um die wirtschaftliche Integration zwischen der EU und der Ukraine schon lange vor einem offiziellen Beitritt des Landes zu vertiefen.

Da die Industriepolitik weltweit wieder in Mode kommt, sollte die Ukraine einen „gelenkten Handel“ verfolgen, wie das viele der erfolgreichsten Entwicklungsländer getan haben.

So könnte die Regierung etwa anstelle der Versteigerung von Lizenzen für den Lithiumabbau, wie sie die Ukraine für 2021 und 2022 geplant hatte, auf einer lokalen Produktion von Lithium-Ionen-Akkus bestehen. Gleiches gilt für andere seltene Erden und sonstige wichtige Rohstoffe der Ukraine (Titan, Zirkon, Buntmetalle). Die Welt durchläuft nicht nur eine Energiewende, sondern die westlichen Demokratien versuchen derzeit auch, sicherzustellen, dass autoritäre Regime keine Monopolkontrolle über kritische Komponenten der Lieferkette erlangen. Das verschafft der Ukraine eine starke Verhandlungsposition.

Zusätzlich zum Export von Rohstoffen und Agrarprodukten sollte die Ukraine lokale Industrien entwickeln, die höherwertige Zwischen- und Endprodukte produzieren. Auch wenn die Ära des exportgestützten Wachstums vorbei sein mag, ist die Ukraine in einigen hochentwickelten Branchen (Informationstechnologie, Verteidigungstechnologie, Landwirtschaft, bestimmte medizinische und zahnmedizinische Dienstleistungen, Unterhaltung und Kultur, Design und Mode) durchaus konkurrenzfähig oder hat dort sogar komparative Kostenvorteile.

Eine ortsgestützte Industriepolitik – d. h. Strategien, die spezifische lokale Stärken und Möglichkeiten nutzen – kann eine wichtige Rolle sowohl für den Sieg der Ukraine im laufenden Krieg als auch bei der Schaffung der Voraussetzungen für ihre vollständige Erholung spielen. Lokale Institutionen und Erkenntnisse werden für den umfassenderen Wiederaufbauprozess zentral sein. Wenn und wann internationale Gelder eintreffen, werden es ukrainische Bürokraten sein, die das Geld ausgeben. Das ist, wie es sein sollte. Ein oft zitierter Grund für den Erfolg des Marshall-Plans war, dass er dezentralisiert umgesetzt wurde; eine wichtige Folgerung daraus ist, dass die Ukraine ihre lokale institutionelle Kapazität und Transparenz verbessern muss.

Die Notwendigkeit, Unterstützung zu leisten

Die Unsicherheiten im Zusammenhang mit der weiteren Entwicklung der Sicherheitslage stellen ein enormes Hindernis für den Wiederaufbau und die Sanierung des Landes dar, und die Märkte werden nicht die notwendigen Versicherungen dafür bieten. Das macht es zwingend erforderlich, dass die ukrainische und die westlichen Regierungen einspringen und Versicherungen gegen diese Sicherheitsrisiken und möglicherweise sogar gegen ihre makroökonomischen Folgen bereitstellen.

Obwohl wir hier einen Rahmen für die ukrainische Wirtschaft vorgeschlagen haben, sind die wirtschaftlichen Aussichten des Landes und seine Sicherheit eng miteinander verflochten. Die Reduzierung der militärischen Unsicherheit hätte offensichtlich enorme wirtschaftliche Vorteile, und nichts könnte diesbezüglich mehr bewirken als ein rascher Beitritt der Ukraine zur EU und zur NATO. Nichts würde den Werten der NATO angesichts der Feierlichkeiten zum 75-jährigen Bestehen des Bündnisses stärker Ausdruck verleihen als die Festlegung eines Weges zur Mitgliedschaft. (Natürlich fließen in diese Entscheidungen noch viele andere Faktoren ein.)

Mit ausreichender Unterstützung des Westens wird sich die Ukraine gegen ihren viel größeren und reicheren autoritären Nachbarn durchsetzen. Doch um diesen Sieg sicherzustellen und seine Früchte zu genießen, muss die Ukraine ihre Transformation von einer postkommunistischen Oligarchie schneller vorantreiben. Allerdings wird sie dabei nur Erfolg haben, wenn sie den gescheiterten neoliberalen Kapitalismus verwirft, der das letzte halbe Jahrhundert dominiert hat.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2024.

www.project-syndicate.org

                                                                            ***

Joseph E. Stiglitz war Chefökonom der Weltbank und Vorsitzender des Council of Economic Advisers des US-Präsidenten. Er ist Professor an der Columbia University, Wirtschaftsnobelpreisträger und der Verfasser zahlreicher Bücher, darunter zuletzt The Road to Freedom: Economics and the Good Society (W. W. Norton & Company, Allen Lane, 2024).

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Andrew Kosenko ist Assistenzprofessor für Volkswirtschaft an der School of Management des Marist College.


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