Politik

Korruption und Oligarchen: Hürden auf dem Weg der Ukraine in die EU

Im Juni dieses Jahres hat die EU Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine (und Moldau) aufgenommen. Der Beitritt beider Länder scheint für eine Mehrheit in der EU beschlossene Sache, auch wenn es wahrscheinlich noch bis zum Ende des Jahrzehnts dauert, bis sie endgültig beitreten können. Doch erfüllt die Ukraine wirklich die Voraussetzungen für einen ernsthaften Kandidatenstatus oder wurden die Beitrittsverhandlungen zu schnell aufgenommen? Und welche Belastungen kommen auf Deutschland und die EU im Falle eines Beitritts der Ukraine zu?
29.07.2024 06:01
Lesezeit: 5 min
Korruption und Oligarchen: Hürden auf dem Weg der Ukraine in die EU
Die rasche Gewährung des Kandidatenstatus für die Ukraine ist in erster Linie ein politisches Zeichen der Unterstützung für das Land. (Foto: dpa) Foto: Geert Vanden Wijngaert

Die ukrainische Regierung hat schon am 28.2.2022, kurz nach dem russischen Angriff auf ihr Land, einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt. Im Dezember 2023 beschlossen die EU-Staaten, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine (und Moldau) aufzunehmen. Nur der ungarische Staatschef Viktor Orban sprach von „einer schlechten Entscheidung“. Bereits im Juni 2024 begannen mit einer ersten Regierungskonferenz die Beitrittsverhandlungen. Insgesamt sind aber 35 Kapitel zu verhandeln, sodass sich die Verhandlungen über einige Jahre hinziehen dürften.

Kriterium Marktwirtschaft

Für die Ukraine gelten ebenso wie für Moldau die sogenannten „Kopenhagener Kriterien“ wie Demokratie, Marktwirtschaft und Korruptionsbekämpfung. Das Kriterium einer Marktwirtschaft erfüllt die Ukraine nur zum Teil. So gibt es bei der Privatisierung von Staatsbetrieben nur begrenzte Fortschritte. Es befinden sich immer noch 3700 Unternehmen im Staatsbesitz. Die Bertelsmannstiftung hat auf ihrem Transformationsindex 2024 der Ukraine nur 5,7 von 10 möglichen Punkten im Bereich Marktwirtschaft gegeben.

Generell hatte die Ukraine bereits vor Beginn des Krieges erhebliche strukturelle Schwächen. Das BIP pro Kopf war schon damals das niedrigste aller europäischen Länder, und weite Regionen des Landes sind wirtschaftlich unterentwickelt. Auch eine seit 2016 bestehende gemeinsame Freihandelszone mit der EU hat nur für einzelne Sektoren positive Auswirkungen gehabt. Der russische Angriff hat zudem in verschiedenen Regionen zu erheblichen Zerstörungen von Infrastruktur und Produktionsbetrieben geführt.

Systemische Korruption

Die Ukraine hat schon seit ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1990 ein erhebliches Korruptionsproblem. Frühere Regierungen hatten wenig im Bereich Korruptionsbekämpfung unternommen. Der jetzige Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte 2019 die Wahlen mit dem Versprechen gewonnen, die Korruption im Interesse der Bevölkerung stärker zu bekämpfen. Bereits unter seinem Vorgänger Poroschenko wurde die Antikorruptionsbehörde NABU eingerichtet. Außerdem gibt es eine spezialisierte Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft.

Schlagzeilen machte im Januar 2023 ein mutmaßlicher Korruptionsskandal in Teilen der ukrainischen Regierung. Das Verteidigungsministerium hat Lebensmittel für Soldaten bei bestimmten Firmen zu stark überhöhten Preisen gekauft. Mehrere Vize-Minister, Gouverneure und hochrangige Beamte traten in der Folge zurück oder wurden entlassen. Einer der Hauptverantwortlichen, Verteidigungsminister Resnikow, wurde jedoch erst einmal im Amt belassen und erst im September 2023 abgelöst.

Transparency International bescheinigt der Ukraine gewisse Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung. Doch das Gesamtbild ist weiter nicht befriedigend. Von daher bräuchte die Ukraine noch einige Jahre, um wirklich die Voraussetzungen für den Kandidatenstatus beim Vorgehen gegen Korruption zu erfüllen.

Kampf gegen die Oligarchen

Und wie sieht es bei der von der EU geforderten Reduzierung des Einflusses der Oligarchen aus? Gegen einzelne Oligarchen wurde in den letzten Jahren vorgegangen. So wurde Ex-Präsident Poroschenko im Dezember 2021 wegen Hochverrats angeklagt, weil er angeblich an der Lieferung von Kohle aus den ostukrainischen Separatistengebieten geschäftlich beteiligt war. Poroschenko streitet die Vorwürfe ab. Trotzdem wurde sein Vermögen beschlagnahmt. Poroschenko, der nach dem Maidan-Aufstand 2014 Präsident wurde, ist einer der führenden Oligarchen des Landes und verfügte bis Ende 2021 über ein Milliardenvermögen.

Auch der Oligarch Ihor Kolomojskyj ist wegen Geldwäsche und Betrugs seit Ende 2023 in das Visier der ukrainischen Ermittlungsbehörden geraten. Kolomojskyj galt ursprünglich als ein Förderer von Selenskij und unterstützte dessen Präsidentschaftswahlkampf. Später kam es zum Bruch zwischen beiden. Damit sind mit Poroschenko und Kolomojskyj zwei Oligarchen, die ein eher schlechtes Verhältnis zu Selenskij haben, zum Ziel der Korruptionsermittlungen geworden. Die ukrainische Staatsbürgerschaft wurde Kolomojskyj bereits entzogen.

Offensichtlich will die ukrainische Regierung die durch den Krieg verursachte wirtschaftliche Schwächung vieler Oligarchen nutzen, um gegen diese stärker vorzugehen. So sagte der ukrainische Justizminister Denys Maliuska in einem Interview mit der New York Times Anfang 2024 über die Oligarchen: „Sie sind schwach, und es ist eine einmalige Gelegenheit, Gerechtigkeit in Bezug auf die Art und Weise, wie das Land geführt werden sollte, zu erreichen.“

Es gibt aber schon Warnungen vor einem „Staatskapitalismus“. Die frühere Leiterin der ukrainischen Nationalbank sagte vor Kurzem: „Jetzt sind nicht mehr die alten Oligarchen die Bedrohung, sondern die neuen“, also die staatlichen Eigentümer. Und das steht im Widerspruch zu dem EU-Kriterium der Marktwirtschaft.

Parteienverbote: Widerspruch zur Demokratie?

Auch gewisse demokratische Standards sollte ein Beitrittskandidat erfüllen. Ein Parteiverbot ist daher immer kritisch zu betrachten. Im Juni 2022 wurde die Partei „Oppositionsplattform-Für das Leben“ verboten. Diese war bis dahin die stärkste Kraft in der Opposition gewesen. Ihr wurde zum Vorwurf gemacht, enge Verbindungen zum Kreml zu haben. Das lässt sich in einzelnen Fällen durchaus nachweisen. Ob dies allerdings das Verbot einer ganzen Partei rechtfertigt, ist sehr umstritten, denn man hätte alternativ auch ein Betätigungsverbot für einzelne, besonders belastete Politiker aussprechen können. Zudem wurde außerdem noch eine weitere im ukrainischen Parlament vertretene Partei verboten sowie mehrere außerparlamentarische Vereinigungen und Parteien.

Natürlich ist die politische Situation in der Ukraine mehr als angespannt. Dass dabei Parteien mit Kontakten nach Russland automatisch in den Fokus geraten, ist erklärlich. Wichtig ist aber, dass nach dem Ende des Krieges die Verbote sehr eingehend auf ihre weitere Berechtigung geprüft werden. Andernfalls würde die Ukraine im Bereich Demokratie die EU-Standards deutlich verletzen.

Alternativen zum EU-Beitritt

Die wirtschaftlichen Perspektiven der Ukraine sind unsicher. Schon vor Beginn des Krieges war die ukrainische Wirtschaftsleistung pro Kopf die niedrigste Europas. Das Ausmaß der Kriegszerstörungen ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vollständig abzusehen. Ohne Zweifel muss der Ukraine beim Wiederaufbau geholfen werden. Ob damit eine EU-Mitgliedschaft des Landes notwendig verbunden ist, erscheint fraglich. Bevor der Ukraine der Kandidatenstatus verliehen wurde, hatte es auch alternative Vorschläge gegeben. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz hatten betont, dass eine Vollmitgliedschaft innerhalb weniger Jahre nicht realistisch sei. Macron hatte als Alternative vorgeschlagen, die Schaffung einer „europäischen politischen Gemeinschaft“ für die Ukraine und andere beitrittswillige Länder vorzusehen. Diese könne „einen neuen Raum für politische Zusammenarbeit, Sicherheit und Kooperation ermöglichen.“

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba hatte jedoch diesen Vorschlag recht brüsk zurückgewiesen: „Wir brauchen keine Ersatzmittel für den EU-Kandidatenstatus, welche die zweitklassige Behandlung der Ukraine zeigen und die Gefühle der Ukrainer verletzen.“ Die EU-Kommission unter der Führung von Ursula von der Leyen verfolgte schon früh das Konzept einer Mitgliedschaft der Ukraine und ging auf Macrons Initiative nicht ein.

Dabei hätte diese die Möglichkeit geboten, die Ukraine langsamer und besser vorbereitet an die EU anzubinden, ohne dabei ihre legitimen Sicherheitsinteressen zu vernachlässigen. Zudem hätte sich so die Möglichkeit ergeben, den Widerstand in einigen EU-Ländern gegen eine wirtschaftliche Integration der Ukraine abzuschwächen. Die Proteste von zahlreichen Bauern in osteuropäischen Ländern wie Polen, Rumänien, Ungarn und der Slowakei haben bereits einen Vorgeschmack auf zukünftige Widerstände gegen eine EU-Integration der Ukraine gegeben. Die Verhandlungen im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik dürften besonders schwierig werden.

Wirtschaftliche Folgen

Nach Schätzungen hätte die Ukraine aktuell Anrecht auf Agrarsubventionen zwischen etwa 70 bis 95 Milliarden Euro. Hinzu kommen Mittel aus dem EU-Fonds zur Förderung strukturschwacher Regionen mit ca. 50 bis 90 Milliarden Euro. Dies würde zu einer massiven Umverteilung zwischen den Empfängerländern der Subventionen führen, was politisch aber kaum durchzusetzen scheint. Es ist zu befürchten, dass eher die wenigen verbliebenen Nettozahler wie die Niederlande, Schweden und Deutschland die finanziellen Folgen durch eine Erhöhung ihrer EU-Zahlungen tragen müssten.

Insgesamt ist die schnelle Gewährung des Kandidatenstatus für die Ukraine vor allem ein politisches Signal des Beistands für das Land. Dies ist angesichts des russischen Angriffs sehr verständlich, doch es muss die Frage erlaubt sein, ob man durch einen zu schnellen Beitritt der Ukraine zur EU der wenig wettbewerbsfähigen Wirtschaft des Landes nicht eher schadet und zugleich den EU-Gegnern in vielen Mitgliedsländern weiteren Auftrieb verschafft.

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