Homeoffice auf Rezept? Ärztliches Attest heißt nicht Homeoffice-Anspruch
Für viele Unternehmen gehört es zum Alltag: Kaum zwickt der Rücken oder steigt der Stresspegel, landet ein ärztliches Attest mit der dringenden Empfehlung für Homeoffice auf dem Schreibtisch.
Schnell kann daraus ein Dauerinstrument werden: Mitarbeitende reichen Woche um Woche neue Bescheinigungen ein, verschieben Meetings und weichen auf das heimische Büro aus, sobald es eng wird. So umgehen sie Präsenzkontrollen, Dienstreisen und dringende Einsatzanforderungen – und das Attest wandelt sich vom Gesundheitsinstrument zur Hintertür für unkontrollierte Abwesenheit. Doch Vorsicht: Wer glaubt, ein Attest begründet automatisch das Recht auf Homeoffice, irrt gewaltig.
Attest ja, Anspruch nein – der juristische Unterschied
„Homeoffice auf Rezept“ bleibt ein medizinischer Hinweis, kein gesetzlicher Anspruch. Fachanwältin Silke Gottschalk weist darauf hin, dass ein ärztliches Dokument die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers nach § 618 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in Gang setzt, das Weisungsrecht gemäß § 106 Gewerbeordnung (GewO) aber unangetastet bleibt.
„Selbst bei erheblichen Einschränkungen, sei es durch psychische Belastungen oder orthopädische Beschwerden, gilt: Wer nicht arbeitsunfähig ist, muss grundsätzlich am vereinbarten Arbeitsplatz erscheinen – es sei denn, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder individueller Vertrag regeln anderes.“ Wer sich ohne Genehmigung ins Homeoffice verabschiedet, riskiert eine Abmahnung und im Wiederholungsfall sogar die Kündigung.
Sorgfältige Prüfung statt Generalverdacht
Damit ein Attest nicht zum Schlupfloch für unkontrollierte Abwesenheit wird, gehört es auf den Prüfstand: Zunächst muss klar sein, ob aus der ärztlichen Beurteilung eindeutig hervorgeht, welche Tätigkeiten ausschließlich von zu Hause erledigt werden müssen und warum.
Arbeitgeber sollten hier „zunächst eine tiefergehende Information durch den Arbeitnehmer über die tatsächlich zugrunde gelegten Arbeitsbedingungen und gesundheitlichen Einschränkungen einfordern“, so Fachanwältin Dr. jur. Bianca Maiworm LL.M. Angaben wie „kein langes Sitzen“, „häufige Pausen“ oder „stressarme Umgebung“ sollten detailliert erläutert werden. Fehlen diese Informationen, ist eine vertiefende Rückfrage beim Mitarbeitenden oder im Zweifel beim Betriebsarzt unverzichtbar.
Strukturierter Prozess als Leitplanke
Parallel empfiehlt sich ein klarer, mehrstufiger Prüfprozess, um Homeoffice-Anträge ausgewogen und rechtssicher zu bearbeiten:
- Technik- und Prozess-Check: Zunächst prüfen Arbeitgeber, ob die betroffenen Aufgaben mithilfe der bestehenden VPN-Infrastruktur und Collaboration-Tools tatsächlich aus dem Homeoffice erledigt werden können.
- Gefährdungsbeurteilung: Parallel wird eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt, um neue Risiken in der Heimarbeit – von schlechter Ergonomie bis zu sozialer Isolation – zu identifizieren.
- Alternativen abwägen: Im nächsten Schritt gilt es abzuwägen, ob ein hybrides Modell, flexible Arbeitszeiten oder ergonomische Anpassungen im Büro den gleichen gesundheitlichen Nutzen liefern können.
- Gremien einbinden: Anschließend binden Unternehmen alle relevanten Gremien ein. Betriebsrat, Schwerbehindertenvertretung, Datenschutz, IT und Arbeitsschutz bewerten gemeinsam die vorgeschlagenen Maßnahmen.
- Entscheidung befristen & dokumentieren: Schließlich befristet und dokumentiert die Geschäftsleitung die Homeoffice-Freigabe. Dauer, Review-Termin und alle Zwischenschritte werden lückenlos festgehalten. Automatische Verlängerungen sind tabu, um unkontrollierte Dauerheimarbeit zu verhindern.
Praxisbeispiel: Wie der Prüfprozess wirkt
In einem Kölner Mittelstandsunternehmen legte eine Projektleiterin ein Attest wegen chronischer Bandscheibenprobleme vor. Statt pauschal grünes Licht zu geben, initiierte das Management den fünfstufigen Prüfprozess. Zunächst bestätigte der Technik-Check, dass VPN und Collaboration-Tools alle Kernaufgaben – von Projektplanung über Kundenkommunikation bis Reporting – reibungslos unterstützen. Parallel untersuchte die Arbeitssicherheit Müllers heimischen Arbeitsplatz auf Beleuchtung, Stuhlhöhe, Tischanordnung und Pausenroutine (z. B. Kurzpausen-Timer) und bewertete das Risiko sozialer Isolation in virtuellen Team-Calls.
Statt 100-Prozent Homeoffice testete das Management ein hybrides Modell: Drei Tage Büro mit höhenverstellbarem Schreibtisch und orthopädischer Sitzauflage, zwei Tage Homeoffice mit verpflichtenden Video-Briefings zur sozialen Einbindung. Die Probewoche lieferte vergleichbare Ergebnisse bei Schmerzlinderung und Produktivität. Bevor die Freigabe erteilt wurde, präsentierte die Personalabteilung den Vorschlag dem Betriebsrat, der Schwerbehindertenvertretung, dem Datenschutz und der Arbeitssicherheit. Alle Gremien bestätigten, dass Technik, Datenschutz und Ergonomie den Vorgaben entsprechen und das Modell rechtlich standhält.
Die Geschäftsleitung bewilligte das Pilotmodell für vier Wochen mit klar definierten drei Bürotagen und zwei Remote-Tagen. Nach drei Wochen folgte ein Review-Termin, um das Modell bei Bedarf anzupassen. Das Ergebnis: Müller litt deutlich seltener unter Schmerzen und die Teamproduktivität blieb stabil. Ein Beleg dafür, dass Gesundheitsfürsorge und betriebliche Effizienz Hand in Hand gehen können.
Risiko Ignoranz
Wer ein Attest ignoriert, handelt fahrlässig – und riskiert kostspielige Arbeitsrechtsklagen. Gerade bei chronischen Erkrankungen oder anerkannter Schwerbehinderung kann ein pauschales „Nein“ als Diskriminierung gelten (§ 7 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz). In Kündigungsstreitigkeiten werten Gerichte einen nachlässigen Umgang mit Attesten regelmäßig als Ermessensfehler – mit fünfstelligen Schadenersatzforderungen und Reputationsverlust für den Arbeitgeber.
Arbeitgeber, die stattdessen einen klaren Prüfprozess in ihre Personalstrategie integrieren und klare Homeoffice-Regeln kommunizieren, sichern rechtliche Klarheit. Damit behalten sie die Zügel in der Hand, vermeiden unnötige Kostenfallen und festigen ihren Ruf als verantwortungsbewusste, moderne Arbeitgeber.