Politik

Gas-Tausch trotz Krieg: Wie Europa weiter Putins Energiequellen anzapft

Lesezeit: 4 min
10.08.2024 16:01  Aktualisiert: 11.08.2024 11:01
Droht eine neue Energiekrise 2025? Der Transitvertrag mit der Ukraine steht vor dem Ende und Aserbaidschan bietet sich als zweifelhafter Retter an. Kann Europa ohne russisches Gas den Winter überleben? Wo gibt es überhaupt Alternativen?

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Es ist eine bittere Ironie: Während Russland und die Ukraine seit Februar 2022 einen brutalen Krieg führen, strömt weiterhin Gas ungehindert nach Europa. Vor dem Krieg lieferte Russland laut dem Deutschen Institut für Wirtschaft (DIW) über 40 Milliarden Kubikmeter Gas pro Quartal und selbst 2023 waren es noch 10,5 Milliarden.

Dies zeigt: Viele europäische Länder sind weiterhin auf russisches Gas angewiesen. Ende des Jahres 2023 bezog Österreich noch über 95-Prozent seines Erdgases aus Russland. Auch Ungarn, Serbien und Rumänien gehören zu den großen Abnehmern. Die Abhängigkeit von russischem Gas ist so stark, dass viele EU-Staaten bislang keine Sanktionen verhängt haben. Kohle- und Ölimporte wurden zwar sanktioniert, doch Gas bleibt verschont – ein Widerspruch zu Europas erklärtem Ziel, sich von Russland zu distanzieren.

Gazproms Milliarden-Route: Wie russisches Gas trotz Krieg durch die Ukraine fließt

Wie gelangt das Gas nach Europa? Neben dem türkischen Korridor über die Schwarzmeergasleitung Turkish Stream fließt es paradoxerweise hauptsächlich durch die Ukraine und Moldau. Ein zugrunde liegender Transitvertrag zwischen Gazprom und der Ukraine ermöglicht Russland, Gas durch ukrainische Pipelines nach Europa zu liefern.

Im Jahr 2021 erhielt Kiew etwa eine Milliarde US-Dollar an Transitgebühren für russisches Gas. Mit dem Ausbruch des Krieges und den verringerten Gasimporten sind die Einnahmen gesunken, betragen aber immer noch etwa 700 Millionen US-Dollar. Doch Ende 2024 ist Schluss mit dem Transitvertrag und die Ukraine will ihn nicht in der aktuellen Form verlängern. Stattdessen fordert Kiew neue Bedingungen und eine stärkere Beteiligung europäischer Firmen. Wie eine Lösung aussehen könnte, ist derzeit unklar.

Transitvertrag läuft aus: Kein Gas-Deal mehr ab 2025? Aserbaidschan als rettender Vermittler?

Jetzt betritt ein ungewöhnlicher Vermittler die Bühne: Aserbaidschan. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew erklärte: „Die Verlängerung des Vertrags ist möglich. Wir werden versuchen zu helfen.“ Natürlich nicht aus reiner Nächstenliebe. Aserbaidschan hat seine Rolle als Energielieferant für Europa ausgebaut und würde von einer Fortsetzung des russischen Transits profitieren. Bereits jetzt importiert das Land Gas aus Russland und Turkmenistan und spielt eine Schlüsselrolle in der europäischen Energieversorgung.

Mittlerweile führt die EU Verhandlungen mit Aserbaidschan, um noch mehr Gas zu importieren. Im ersten Kriegsjahr hat Aserbaidschan seine Gasexporte nach Europa um beeindruckende 56-Prozent erhöht und plant, sie bis 2027 sogar zu verdoppeln. Wenn die Exporte weiterhin so stark steigen wie im ersten Halbjahr 2024, könnten bis Ende des Jahres rund 12,8 Milliarden Kubikmeter geliefert werden.

Aserbaidschan als Europas Gas-Retter? Kritiker zweifeln an Versorgungsplänen

Der Berater des aserbaidschanischen Präsidenten, teilte Reuters mit, dass sowohl die EU als auch die Ukraine Aserbaidschan gebeten haben, bei den Gesprächen mit Russland zu vermitteln. Russland hat kürzlich signalisiert, den bestehenden Vertrag verlängern zu wollen. Staatliche russische Nachrichtenagenturen betonten: „Der Transit durch ihr Land hängt von der Ukraine ab. Die haben ihre eigenen etablierten Regeln.“ Sollte es zu einer Vertragsverlängerung kommen, würde das Gas weiterhin durch ukrainische Leitungen fließen.

Russisches Gas durch die Hintertür: Verlängerung des Gasdeals – Moskau ist gesprächsbereit

Moment mal, das Gas würde dann weiterhin über die Ukraine aus Russland kommen? Genau. Das ändert leider nichts an der grundlegenden Problematik: Es bleibt russisches Gas, das über Umwege nach Europa gelangt – nur der Zulieferer würde sich ändern. Europa betont ständig, die Abhängigkeit von Russland verringern zu wollen, doch eine Verlängerung des ukrainisch-russischen Transitvertrags würde genau das untergraben.

Darüber hinaus würde Europa durch diesen Deal indirekt weiterhin den russischen Krieg gegen die Ukraine finanzieren. Russland würde erhebliche Einnahmen aus Gasexporten erzielen, was Europas Abhängigkeit von russischem Gas festigen und die strategische Verwundbarkeit der EU gegenüber Russland verstärken könnte – ein klarer Widerspruch zu den Zielen der EU, sich von russischer Energie unabhängig zu machen.

Langfristig könnten die politischen Risiken und Sanktionen die kurzfristigen wirtschaftlichen Vorteile einer Vertragsverlängerung bei Weitem überwiegen. Außerdem bezweifeln Kritiker, ob das autoritär regierte Aserbaidschan überhaupt die benötigte Menge Erdgas liefern kann.

Europa ohne russisches Gas: Geht das überhaupt? Das DIW sagt Ja!

Ist es denkbar, dass Europa vollständig auf russisches Gas verzichtet? Das DIW hält dies für möglich. Mit einem verstärkten Fokus auf LNG-Importe (Liquefied Natural Gas, also verflüssigtes Erdgas), erneuerbare Energien und Energieeinsparungen könnte die Abhängigkeit von russischem Gas drastisch reduziert werden. Die DIW-Experten sind zuversichtlich, dass die EU auch dann ohne russisches Gas auskommen kann, wenn der Gasbedarf gleich bleibt. Selbst stark abhängige Länder könnten laut Modellrechnungen einen vollständigen Ausfall russischer Lieferungen bewältigen.

„Sollte russisches Gas sanktioniert werden, müsste kein EU-Mitgliedstaat um seine Gasversorgung fürchten. Dieser Ausfall lässt sich über Gas aus anderen Quellen und durch leichte Einsparungen kompensieren. Ein weiterer Ausbau der LNG-Kapazitäten ist überflüssig“, erklärt DIW-Expertin Franziska Holz.

Gas-Krise überstanden: Wie Deutschland den russischen Wegfall meisterte

Die europäischen Gasinfrastrukturen wurden seit dem ersten russisch-ukrainischen Gasstreit 2005/06 erheblich ausgebaut. Kurzfristig könnten Lieferungen aus Norwegen und der kaspischen Region (wie Aserbaidschan und Turkmenistan) sowie LNG-Importe aus den USA und Katar helfen. Für einige Länder, insbesondere Rumänien, bleibt die eigene Förderung wichtig. Langfristig ist der schnelle Umstieg auf erneuerbare Energien entscheidend. Je schneller dieser gelingt, desto schneller verringert sich die Abhängigkeit und Erpressbarkeit europäischer Staaten.Bislang hat Europa – zumindest im Erdgasbereich – den Wegfall russischer Pipeline-Exporte einigermaßen gut überstanden. In Deutschland konnten Einsparmaßnahmen, diversifizierte Bezugsquellen und eine flexible Netzbewirtschaftung mögliche Engpässe ausgleichen. Seit September 2022 sind die Erdgaspreise im Großhandel stark gefallen und Lieferengpässe sind nicht aufgetreten. Wie das DIW betont, ist die „Krise“ der Erdgaswirtschaft spätestens seit dem Frühling 2023 in Deutschland vorbei.


Mehr zum Thema:  

DWN
Finanzen
Finanzen Bundesbank: Konjunkturflaute, Handelskonflikte, leere Büroimmobilien - Banken stehen vor akuten Herausforderungen
21.11.2024

Eigentlich stehen Deutschlands Finanzinstitute in Summe noch ganz gut da – so das Fazit der Bundesbank. Doch der Blick nach vorn ist...

DWN
Finanzen
Finanzen Bitcoin-Prognose: Kryptowährung mit neuem Rekordhoch - geht es jetzt Richtung 100.000 US-Dollar?
21.11.2024

Neues Bitcoin-Rekordhoch am Mittwoch - und am Donnerstag legt die wichtigste Kryptowährung direkt nach. Seit dem Sieg von Donald Trump bei...

DWN
Panorama
Panorama Merkel-Buch „Freiheit“: Wie die Ex-Kanzlerin ihre politischen Memoiren schönschreibt
21.11.2024

Biden geht, Trump kommt! Wer auf Scholz folgt, ist zwar noch unklar. Dafür steht das Polit-Comeback des Jahres auf der Tagesordnung: Ab...

DWN
Politik
Politik Solidaritätszuschlag: Kippt das Bundesverfassungsgericht die „Reichensteuer“? Unternehmen könnten Milliarden sparen!
21.11.2024

Den umstrittenen Solidaritätszuschlag müssen seit 2021 immer noch Besserverdiener und Unternehmen zahlen. Ob das verfassungswidrig ist,...

DWN
Finanzen
Finanzen Von Dividenden leben? So erzielen Sie ein passives Einkommen an der Börse
21.11.2024

Dividenden-ETFs schütten jedes Jahr drei bis vier Prozent der angelegten Summe aus. Wäre das auch was für Ihre Anlagestrategie?...

DWN
Politik
Politik Weltstrafgericht erlässt auch Haftbefehle gegen Netanjahu und Galant - wegen Kriegsverbrechen im Gaza-Streifen
21.11.2024

Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, den früheren...

DWN
Politik
Politik US-Staatsapparat: Tech-Milliardär Elon Musk setzt auf Technologie statt Personal - Unterstützung bekommt er von Trump
21.11.2024

Elon Musk soll dem künftigen US-Präsidenten Trump dabei helfen, Behördenausgaben zu kürzen und Bürokratie abzubauen. Er gibt einen...

DWN
Politik
Politik Neue EU-Kommission: Nach heftigen Streit auf „umstrittenes“ Personal geeinigt
21.11.2024

Nach erbittertem Streit haben sich die Fraktionen im EU-Parlament auf die künftige Besetzung der Europäischen Kommission geeinigt. Warum...