Es ist eine bittere Ironie: Während Russland und die Ukraine seit Februar 2022 einen brutalen Krieg führen, strömt weiterhin Gas ungehindert nach Europa. Vor dem Krieg lieferte Russland laut dem Deutschen Institut für Wirtschaft (DIW) über 40 Milliarden Kubikmeter Gas pro Quartal und selbst 2023 waren es noch 10,5 Milliarden.
Dies zeigt: Viele europäische Länder sind weiterhin auf russisches Gas angewiesen. Ende des Jahres 2023 bezog Österreich noch über 95-Prozent seines Erdgases aus Russland. Auch Ungarn, Serbien und Rumänien gehören zu den großen Abnehmern. Die Abhängigkeit von russischem Gas ist so stark, dass viele EU-Staaten bislang keine Sanktionen verhängt haben. Kohle- und Ölimporte wurden zwar sanktioniert, doch Gas bleibt verschont – ein Widerspruch zu Europas erklärtem Ziel, sich von Russland zu distanzieren.
Gazproms Milliarden-Route: Wie russisches Gas trotz Krieg durch die Ukraine fließt
Wie gelangt das Gas nach Europa? Neben dem türkischen Korridor über die Schwarzmeergasleitung Turkish Stream fließt es paradoxerweise hauptsächlich durch die Ukraine und Moldau. Ein zugrunde liegender Transitvertrag zwischen Gazprom und der Ukraine ermöglicht Russland, Gas durch ukrainische Pipelines nach Europa zu liefern.
Im Jahr 2021 erhielt Kiew etwa eine Milliarde US-Dollar an Transitgebühren für russisches Gas. Mit dem Ausbruch des Krieges und den verringerten Gasimporten sind die Einnahmen gesunken, betragen aber immer noch etwa 700 Millionen US-Dollar. Doch Ende 2024 ist Schluss mit dem Transitvertrag und die Ukraine will ihn nicht in der aktuellen Form verlängern. Stattdessen fordert Kiew neue Bedingungen und eine stärkere Beteiligung europäischer Firmen. Wie eine Lösung aussehen könnte, ist derzeit unklar.
Transitvertrag läuft aus: Kein Gas-Deal mehr ab 2025? Aserbaidschan als rettender Vermittler?
Jetzt betritt ein ungewöhnlicher Vermittler die Bühne: Aserbaidschan. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew erklärte: „Die Verlängerung des Vertrags ist möglich. Wir werden versuchen zu helfen.“ Natürlich nicht aus reiner Nächstenliebe. Aserbaidschan hat seine Rolle als Energielieferant für Europa ausgebaut und würde von einer Fortsetzung des russischen Transits profitieren. Bereits jetzt importiert das Land Gas aus Russland und Turkmenistan und spielt eine Schlüsselrolle in der europäischen Energieversorgung.
Mittlerweile führt die EU Verhandlungen mit Aserbaidschan, um noch mehr Gas zu importieren. Im ersten Kriegsjahr hat Aserbaidschan seine Gasexporte nach Europa um beeindruckende 56-Prozent erhöht und plant, sie bis 2027 sogar zu verdoppeln. Wenn die Exporte weiterhin so stark steigen wie im ersten Halbjahr 2024, könnten bis Ende des Jahres rund 12,8 Milliarden Kubikmeter geliefert werden.
Aserbaidschan als Europas Gas-Retter? Kritiker zweifeln an Versorgungsplänen
Der Berater des aserbaidschanischen Präsidenten, teilte Reuters mit, dass sowohl die EU als auch die Ukraine Aserbaidschan gebeten haben, bei den Gesprächen mit Russland zu vermitteln. Russland hat kürzlich signalisiert, den bestehenden Vertrag verlängern zu wollen. Staatliche russische Nachrichtenagenturen betonten: „Der Transit durch ihr Land hängt von der Ukraine ab. Die haben ihre eigenen etablierten Regeln.“ Sollte es zu einer Vertragsverlängerung kommen, würde das Gas weiterhin durch ukrainische Leitungen fließen.
Russisches Gas durch die Hintertür: Verlängerung des Gasdeals – Moskau ist gesprächsbereit
Moment mal, das Gas würde dann weiterhin über die Ukraine aus Russland kommen? Genau. Das ändert leider nichts an der grundlegenden Problematik: Es bleibt russisches Gas, das über Umwege nach Europa gelangt – nur der Zulieferer würde sich ändern. Europa betont ständig, die Abhängigkeit von Russland verringern zu wollen, doch eine Verlängerung des ukrainisch-russischen Transitvertrags würde genau das untergraben.
Darüber hinaus würde Europa durch diesen Deal indirekt weiterhin den russischen Krieg gegen die Ukraine finanzieren. Russland würde erhebliche Einnahmen aus Gasexporten erzielen, was Europas Abhängigkeit von russischem Gas festigen und die strategische Verwundbarkeit der EU gegenüber Russland verstärken könnte – ein klarer Widerspruch zu den Zielen der EU, sich von russischer Energie unabhängig zu machen.
Langfristig könnten die politischen Risiken und Sanktionen die kurzfristigen wirtschaftlichen Vorteile einer Vertragsverlängerung bei Weitem überwiegen. Außerdem bezweifeln Kritiker, ob das autoritär regierte Aserbaidschan überhaupt die benötigte Menge Erdgas liefern kann.
Europa ohne russisches Gas: Geht das überhaupt? Das DIW sagt Ja!
Ist es denkbar, dass Europa vollständig auf russisches Gas verzichtet? Das DIW hält dies für möglich. Mit einem verstärkten Fokus auf LNG-Importe (Liquefied Natural Gas, also verflüssigtes Erdgas), erneuerbare Energien und Energieeinsparungen könnte die Abhängigkeit von russischem Gas drastisch reduziert werden. Die DIW-Experten sind zuversichtlich, dass die EU auch dann ohne russisches Gas auskommen kann, wenn der Gasbedarf gleich bleibt. Selbst stark abhängige Länder könnten laut Modellrechnungen einen vollständigen Ausfall russischer Lieferungen bewältigen.
„Sollte russisches Gas sanktioniert werden, müsste kein EU-Mitgliedstaat um seine Gasversorgung fürchten. Dieser Ausfall lässt sich über Gas aus anderen Quellen und durch leichte Einsparungen kompensieren. Ein weiterer Ausbau der LNG-Kapazitäten ist überflüssig“, erklärt DIW-Expertin Franziska Holz.
Gas-Krise überstanden: Wie Deutschland den russischen Wegfall meisterte
Die europäischen Gasinfrastrukturen wurden seit dem ersten russisch-ukrainischen Gasstreit 2005/06 erheblich ausgebaut. Kurzfristig könnten Lieferungen aus Norwegen und der kaspischen Region (wie Aserbaidschan und Turkmenistan) sowie LNG-Importe aus den USA und Katar helfen. Für einige Länder, insbesondere Rumänien, bleibt die eigene Förderung wichtig. Langfristig ist der schnelle Umstieg auf erneuerbare Energien entscheidend. Je schneller dieser gelingt, desto schneller verringert sich die Abhängigkeit und Erpressbarkeit europäischer Staaten.Bislang hat Europa – zumindest im Erdgasbereich – den Wegfall russischer Pipeline-Exporte einigermaßen gut überstanden. In Deutschland konnten Einsparmaßnahmen, diversifizierte Bezugsquellen und eine flexible Netzbewirtschaftung mögliche Engpässe ausgleichen. Seit September 2022 sind die Erdgaspreise im Großhandel stark gefallen und Lieferengpässe sind nicht aufgetreten. Wie das DIW betont, ist die „Krise“ der Erdgaswirtschaft spätestens seit dem Frühling 2023 in Deutschland vorbei.