Am Samstagabend liegt eine bedrückende Stille über dem Solinger Neumarkt. Hunderte Menschen, ihre Gesichter von Trauer gezeichnet, versammeln sich in der Fußgängerzone. Viele halten Kerzen, Blumen und umarmen sich, während sie den Worten der Kirchenvertreter lauschen. "Solingen unter Schock, die Stadt ist heute eine andere als gestern", sagt Stadtdechant Michael Mohr. "Worte reichen nicht - Gesten sagen mehr."
Die 160.000-Einwohner-Stadt Solingen unter Schock, gelegen zwischen Düsseldorf, Köln und Wuppertal, ringt damit, die Geschehnisse vom Freitagabend zu verarbeiten. Das "Festival der Vielfalt" anlässlich des 650. Stadtgeburtstags wurde zum Schauplatz eines verheerenden Messerattentats. Dieses Ereignis hat nicht nur Solingen unter Schock versetzt, sondern ein ganzes Land erschüttert.
Noch in der Nacht des Attentats reist NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) an. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) fordert harte Strafen für den Täter, der drei Menschen mit einem Messer getötet und acht weitere verletzt hat, vier von ihnen schwer. Die Identität des Täters bleibt bis zum späten Samstagabend ungeklärt.
Am Samstagnachmittag treffen sich Spitzenpolitiker von Bund und Land mit Solingens Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD) im Rathaus, darunter auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und Innenminister Reul. Sie äußern ihre Bestürzung und danken den Einsatzkräften.
Wüst sendet eine klare Botschaft: "Unser Land wankt nicht. Wir lassen uns nicht vom Terror erschüttern, sondern verteidigen unsere Lebensweise."
Faeser nennt den Anschlag "abscheulich" und betont: "Wir stehen in Zeiten wie diesen zusammen und lassen es nicht zu, dass solch ein furchtbarer Anschlag die Gesellschaft spaltet."
IS-Terror: Solingen unter Schock
Am Abend reklamiert die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) den tödlichen Messerangriff für sich. Ob das Bekennerschreiben, das bei der Polizei Düsseldorf einging, authentisch ist, muss erst noch geklärt werden.
Zwei Männer im Alter von 67 und 56 Jahren und eine 56-jährige Frau sterben bei dem Messerattentat. Der Täter flüchtet offenbar im Tumult. Ein 15-Jähriger wird festgenommen, jedoch nicht für den Täter gehalten. Es wird vermutet, dass er zuvor Kontakt mit dem Täter hatte. Am Samstagabend durchsucht die Polizei eine Flüchtlingsunterkunft in der Innenstadt und nimmt eine Person fest. Weitere Details sind zunächst nicht bekannt.
Die Staatsanwaltschaft schließt einen terroristischen Hintergrund für die Tat nicht aus, da ein anderes Motiv bisher nicht erkennbar ist. Der Täter bleibt weitgehend ein Phantom, was die Situation besonders unklar macht. Es gibt weder ein Fahndungsfoto noch eine Videoüberwachung.
Wer war es? Es ist wenig, was die Ermittler der verunsicherten Öffentlichkeit nach dem mutmaßlichen IS-Terroranschlag mitteilen können.
Reul bittet um Geduld, damit diejenigen, die jetzt arbeiten müssen, ihre Ruhe haben und es keine voreiligen Spekulationen gibt. Vorsorglich hat er die Polizeipräsenz bei größeren Veranstaltungen im Land erhöht, solange der Täter noch nicht gefasst ist.
Angst breitet sich aus: Solingen unter Schock
Bei den Menschen, die am Tag nach dem Messerattentat Blumen niederlegen, ist die Angst spürbar. "Ich habe zu meinem Mann gesagt: Wir können nicht mehr dahin gehen, wo viele Menschen sind", sagt eine ältere Frau, die seit Jahrzehnten in einem Haus direkt am Tatort wohnt. Plötzlich habe man ein Messer im Rücken. "Da musst du Angst haben."
Eine weitere Anwohnerin sagt resigniert: "Solingen ist momentan sehr oft in den Schlagzeilen." Dieser Satz fällt in der Stadt häufig. Im März starben bei einem Feuer in einer Dachgeschosswohnung vier Menschen. Der Brand soll von einem ehemaligen Mieter gelegt worden sein.
Im Juni ließ ein Mann vor einem Solinger Geschäft eine Flasche mit einer Substanz fallen, die eine Explosion verursachte. Der Mann starb wenig später. Es wird vermutet, dass dieser Fall mit der sogenannten niederländischen Mocro-Mafia in Verbindung steht, über die in NRW seit Wochen diskutiert wird.
Viele Menschen erinnern sich auch noch an den Brandanschlag in Solingen im Jahr 1993, bei dem fünf türkischstämmige Frauen und Mädchen von Rechtsextremisten ermordet wurden. Dieser Anschlag markierte den Tiefpunkt einer Serie rassistischer Gewalt in Deutschland.
Aber nicht nur Solingen wird mit den Ereignissen und den Folgen des Messerattentats umgehen müssen, sondern auch ganz Deutschland. Messerangriffe haben zugenommen. Bundesinnenministerin Faeser hatte kürzlich eine Verschärfung des Waffenrechts angekündigt, was die Diskussion jedoch nicht beruhigte. In einer Woche stehen Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen an.
Solingens Oberbürgermeister Kurzbach ist auch am Tag nach der Tat noch tief betroffen: "Auch wenn es jetzt schon viele Stunden her ist, fällt es mir schwer, die richtigen Worte zu finden", sagt er im Kreise der Spitzenpolitiker. Je mehr er mit Angehörigen spricht, die Verletzte oder Tote zu beklagen haben, und mit Augenzeugen der Tat, desto erschütternder wirkt das Geschehene auf ihn. "Es geht schwer unter die Haut."
Auf einen demonstrativen Trauermarsch verzichten die Politiker. "Wir beenden unseren Termin jetzt. Wir gehen nicht mehr zum Tatort", erklärt Reul, bevor Faeser, Wüst, NRW-Vize-Regierungschefin Mona Neubaur (Grüne) und er wieder in ihre Limousinen einsteigen: "Wir waren uns einig, dass wir die Arbeit vor Ort nicht stören wollen."