Die Geiselnahme Beslan in der Schule bleibt auch nach 20 Jahren eine schwere Last für Russland. Der Vorfall gilt als der verheerendste islamistische Anschlag, den das Land je erlebt hat. Vom 1. bis 3. September 2004 nahmen Terroristen im Nordkaukasus über 1.100 Kinder und Erwachsene als Geiseln. Am Ende dieser Geiselnahme Beslan, nach einem schrecklichen Blutbad, zählte man mehr als 330 Tote, darunter 186 Schulkinder. Zudem wurden 31 der Geiselnehmer getötet.
Ein ähnlich verheerender Vorfall ereignete sich in Russland nach Jahren relativer Ruhe erst im März dieses Jahres mit dem Angriff auf den Konzertsaal Crocus City Hall bei Moskau. Vier mutmaßliche Mitglieder der Organisation Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) töteten mindestens 144 Menschen. Wie auch bei der Geiselnahme Beslan zeigte sich, dass die russischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen den Terror überfordert sind. In Beslan konzentrierte sich die Polizei darauf, die Extremisten auszuschalten, statt die Kinder zu retten.
Präsident Wladimir Putin nutzte den Anschlag damals, um die demokratischen Rechte in Russland weiter zu beschneiden. Kurz vor dem 20. Jahrestag der Geiselnahme Beslan besuchte er die Stadt. Doch dieser Besuch schien mehr mit den aktuellen Krisen zu tun zu haben als mit dem Gedenken an das Ereignis von 2004.
Warum die Geiselnahme Beslan bis heute nachhallt
Auch 20 Jahre nach der Geiselnahme Beslan bleibt sie von zentraler Bedeutung. Sie ist, auch wenn am geografischen Rand Europas, nach wie vor der schlimmste islamistische Anschlag auf europäischem Boden. Angriffe auf Schulen sind bis heute Teil der Taktik dschihadistischer Gruppen weltweit – von Pakistan bis Nigeria. Doch nirgends war die Zahl der Opfer so hoch wie bei der Geiselnahme Beslan.
Wie überall in Russland beginnt auch am 1. September 2004 in Beslan das neue Schuljahr. An der Schule Nr. 1 versammeln sich die Kinder, Lehrer und viele Eltern. Plötzlich stürmen schwer bewaffnete Terroristen das Gebäude und zwingen alle in die Turnhalle, die mit Sprengfallen gesichert ist. Sicherheitskräfte riegeln die Schule ab, und die Behörden sprechen zunächst von 354 Geiseln. Doch in der Kleinstadt ist klar, dass die Zahl der Geiseln viel höher sein muss.
Am zweiten Tag der Geiselnahme Beslan leiden die Kinder unter der Hitze sowie Hunger und Durst. Vor der Schule hoffen verzweifelte Angehörige auf die Rettung ihrer Liebsten. Der Kontakt zwischen den Geiselnehmern und den Einsatzkräften bleibt jedoch minimal. Immerhin werden einige Mütter mit ihren Babys freigelassen. Ein starker russischer Polizist bringt eines der kleinen Kinder in Sicherheit.
Am 3. September verschlechtert sich die Lage der Geiseln weiter. Kurz nach 13.00 Uhr explodieren zwei Bomben in der Turnhalle - der genaue Auslöser bleibt unklar. Ein stundenlanges Feuergefecht folgt, in dem die Terroristen auf fliehende Geiseln schießen. Polizei und Geheimdienst stürmen die Schule und setzen Panzer und schwere Waffen ein. Die verzweifelten Menschen in Beslan verstehen nur: In diesem Moment sterben Dutzende Kinder. Erst am Abend kehrt Stille ein. "Warum ging es gegen die Kinder?", fragt eine trauernde Frau.
Am Tag danach suchen Familien in Krankenhäusern und Leichenhallen nach ihren Kindern. Alle prüfen die Listen der Überlebenden, die öffentlich aushängen. Einige unverletzte Geiseln kehren nach Hause zurück. "Ich habe mich ein bisschen gefürchtet und manchmal geweint", erzählt die sechsjährige Luisa Kudakowa. Unter Schock spricht die Erstklässlerin fast beiläufig über das Erlebte. Einen Tag später beginnen viele Familien mit dem schmerzvollen Gang zum Friedhof. Ira Tetowa (13) und ihre Schwester Alina sind die ersten, die beerdigt werden. Ein endloser Zug von Kinderleichen folgt.
Die Konsequenzen für Russland
Der Drahtzieher der Geiselnahme Beslan war der tschetschenische Terroristenführer Schamil Bassajew, der 2006 getötet wurde. Hintergrund war der 1999 von Putin befohlene Krieg, um das abtrünnige Tschetschenien wieder unter Kontrolle zu bringen. Als der anfangs nationalistisch motivierte Widerstand der Tschetschenen in die Defensive geriet, griffen die Terroristen zu islamistischen Methoden gegen Russland. Für die Menschen in Beslan, einer christlich geprägten Region in Nordossetien, war die Geiselnahme Beslan ein Angriff ihrer muslimischen Nachbarn aus Tschetschenien und Inguschetien.
Die russische Führung übertrug die Untersuchung des Vorfalls an das kremltreue Parlament, das die Sicherheitsbehörden erwartungsgemäß entlastete. Ein überlebender Geiselnehmer wurde 2006 zu lebenslanger Haft verurteilt. 2017 gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Klagen von mehr als 400 Hinterbliebenen der Geiselnahme Beslan recht: Der Einsatz sei chaotisch, schlecht geplant und übermäßig gewalttätig gewesen.
Putin nutzte die Geiselnahme Beslan, um seine Kontrolle über das politische System Russlands weiter zu stärken. Die Direktwahl von Gebietsgouverneuren und Präsidenten der Teilrepubliken wurde abgeschafft, und Änderungen im Wahlrecht begünstigten linientreue Parteien. Der Kreml betonte die angeblichen ausländischen Verbindungen des tschetschenischen Terrors. Falls solche Verbindungen bestanden, führten sie in die globale islamistische Szene, etwa zu Geldgebern aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten. Doch Putin machte die westlichen Staaten als eigentliche Drahtzieher verantwortlich und behauptete, sie wollten Russland destabilisieren.
Putins Besuch in Beslan
Kurz vor dem 20. Jahrestag der Geiselnahme Beslan besuchte Putin die Stadt. Er kniete auf dem Friedhof nieder und bekreuzigte sich. Er sprach auch mit Vertreterinnen der Organisation "Mütter von Beslan". Doch dieser Besuch schien eher eine Ablenkung von den Schwierigkeiten im Krieg gegen die Ukraine zu sein. Seit dem 6. August kämpfen ukrainische Truppen wieder auf russischem Boden, im Gebiet Kursk.
Putin zog direkte Parallelen: "Wie wir damals gegen die Terroristen gekämpft haben, müssen wir heute gegen diejenigen kämpfen, die im Gebiet Kursk, im Donbass, in Neurussland Verbrechen begehen", sagte er. Dabei verhaspelte er sich bei der Zahl der toten Kinder. Laut den Müttern zeigte er sich schlecht informiert, als sie eine Aufklärung der damaligen Ereignisse forderten.
"Vielleicht wollte er Buße tun, die Kinder um Verzeihung bitten – er kniete auf dem Friedhof nieder", sagte Emma Tagajewa von der Organisation "Golos Beslana" (Stimme Beslans). "Aber dadurch wird unser Schmerz nicht geringer. Wir leben jeden Tag mit diesem Schmerz, denken an die Qualen, die unsere Kinder durchleben mussten und wie sie gestorben sind."