DWN: Herr Reggelin, in Ihrem Buch „Neuro Webdesign“ schreiben Sie, dass viele Websites auf den ersten Blick modern wirken, aber dennoch scheitern. Woran?
Jonas Reggelin: Der Hauptgrund ist, dass die meisten Websites auf rationaler Ebene überzeugen wollen, obwohl unsere Entscheidungen zum überwiegenden Teil unbewusst getroffen werden. Viele Unternehmen, insbesondere im Mittelstand, gehen mit einer sehr faktenorientierten Herangehensweise an ihren Webauftritt: Sie präsentieren ihre Leistungen oder Firmengeschichte und erwarten, dass die Besucher allein aufgrund dieser Infos konvertieren. Was dabei vergessen wird: Der erste Eindruck entsteht nicht durch Fakten, sondern durch das Gefühl, das eine Website auslöst. Farben, Bildsprache, Struktur – all das beeinflusst unser Gehirn in wenigen Millisekunden.
DWN: Sie sagen, dass wir über 90 Prozent unserer Entscheidungen unbewusst treffen. Warum ist das für KMU-Websiten entscheidend?
Reggelin: Weil KMU oft nicht die Markenbekanntheit oder Budgets haben wie große Konzerne, müssen sie bei der digitalen Überzeugungsarbeit umso besser sein. Das bedeutet: Sie müssen die unbewussten Entscheidungsmuster ihrer Zielgruppen verstehen und gezielt ansprechen. Bevor ein Nutzer überhaupt einen Satz gelesen hat, hat er ein Gefühl. Innerhalb von wenigen Hundert Millisekunden bewertet unser Gehirn eine Website: Ist das professionell? Vertrauenswürdig? Relevant für mich? Genau in diesem Moment entscheidet sich, ob jemand bleibt oder geht.
DWN: Viele KMU verlassen sich auf Website-Kennzahlen wie Verweildauer oder Absprungrate. Warum greifen diese oft zu kurz und wie sollten KMU den Erfolg ihrer Website stattdessen messen?
Reggelin: Klassische Metriken sind oft trügerisch. Eine lange Verweildauer kann bedeuten, dass der Nutzer interessiert ist – oder dass er verzweifelt etwas sucht, das er nicht findet. Eine hohe Absprungrate kann negativ sein – oder einfach bedeuten, dass der Nutzer sofort fand, was er brauchte. Viel wichtiger ist es, sich auf das „Warum“ hinter den Zahlen zu konzentrieren: Welche Handlungen wollen wir erzielen? Mehr Kontaktanfragen? Bewerbungen? Kaufabschlüsse? Erfolg sollte an konkreten Conversion-Zielen gemessen werden, nicht an allgemeinen Kennzahlen.
DWN: Ein zentrales Prinzip in Ihrem Buch ist die visuelle Hierarchie. Was machen KMU hier falsch?
Reggelin: Viele Unternehmen unterschätzen, wie wichtig die Reihenfolge und visuelle Gewichtung von Inhalten ist. Ein weit verbreiteter Fehler ist es, dass das wichtigste Verkaufsargument, also der USP, irgendwo im Fließtext oder auf Unterseiten versteckt ist. Der Nutzer muss mühsam suchen, was die Firma eigentlich bietet und warum sie besser ist als andere. Gute visuelle Hierarchie bedeutet, dass die relevantesten Informationen sofort ins Auge fallen: Was bieten wir an? Für wen? Warum lohnt sich das gerade bei uns? Wer das nicht sofort erkennt, ist schon beim nächsten Wettbewerber. Besonders im Mittelstand wird dieser Informationszugang oft noch aus Unternehmensbrille strukturiert. Erfolgreiches Neuro Webdesign kehrt das um: Es denkt vom Nutzer aus.
DWN: Können Sie ein Beispiel nennen?
Reggelin: Ein schönes Beispiel war eine Website, bei der oben rechts eine kleine britische Flagge zur Sprachwahl eingebunden war. Visuell knallig, rot, und damit ein echter Aufmerksamkeitsmagnet – allerdings nicht im positiven Sinne. Die zentrale Headline wurde dadurch schlichtweg übersehen. Unsere Lösung war denkbar einfach: Wir haben die Flagge entfernt und stattdessen schlichten Text („EN/DE“) eingesetzt. Die Wirkung? Sofort sichtbar. Die Nutzer fokussierten sich auf die Headline, blieben länger auf der Seite und scrollten weiter. Ein kleines Detail – mit großer Wirkung.
DWN: Viele KMU betreiben ihre Website eher nebenbei. Was raten Sie Unternehmerinnen und Unternehmern, die sich zwar bewusst sind, dass da mehr ginge, aber weder die Zeit noch die Manpower dafür haben?
Reggelin: Gerade kleinere Unternehmen glauben oft, dass sie sofort alles perfekt machen müssen – mit großem Relaunch und externer Agentur. Aber das stimmt nicht. Heute kann sich mit ein bisschen Einlesearbeit fast jede:r eine funktionale Website aufbauen. Technisch ist das einfacher denn je. Entscheidend ist aber die Perspektive: Viele KMU schreiben über sich – „Wir sind…“, „Wir machen…“. Dabei sollte es auf der Website um den Nutzer gehen: Welches Problem wird gelöst? Welchen Nutzen hat er konkret? Und welches emotionale Bedürfnis spricht das Angebot an? Wer diese Sicht einnimmt, muss nicht gleich alles umbauen – oft reicht es, Sprache und Aufbau gezielt zu überarbeiten.
DWN: Welche psychologischen Mechanismen lassen sich für KMU am einfachsten integrieren?
Reggelin: Es gibt einige, die sehr leicht umzusetzen sind. Social Proof ist ein Klassiker: Menschen orientieren sich an anderen – das ist tief in uns verankert. Wenn ich sehe, dass viele andere etwas gekauft oder empfohlen haben, steigt meine Bereitschaft enorm. Deshalb funktionieren Kundenstimmen, Sternebewertungen oder auch bekannte Logos sehr gut. Ein weiterer Punkt ist Reziprozität – also das Prinzip: Ich bekomme etwas geschenkt, also will ich etwas zurückgeben. Zum Beispiel durch kostenlose Inhalte oder Beratungsangebote. Und was oft unterschätzt wird: Klarheit. Ein klarer Einstieg, ein verständlicher Nutzen, ein gut sichtbarer Handlungsaufruf – das wirkt.
DWN: Was macht gutes Neuro Webdesign im E-Commerce anders als bei klassischen Unternehmensseiten – gerade wenn es um B2B-Kommunikation oder komplexe Leistungen geht?
Reggelin: Die Grundprinzipien bleiben gleich, weil sie auf menschlichem Verhalten basieren. Aber die Anwendung unterscheidet sich deutlich je nach Ziel. In einem Onlineshop geht es oft um schnelle, impulsive Entscheidungen – der Nutzer muss innerhalb weniger Sekunden verstehen, worum es geht. Gute Bilder, klare Botschaften und ein sofort sichtbarer Call-to-Action sind da entscheidend.
Bei einer klassischen Unternehmensseite im B2B-Bereich geht es häufiger um komplexere Leistungen, um Vertrauen und um längere Entscheidungsprozesse. Da ist es nicht sinnvoll, den Call-to-Action gleich nach drei Zeilen zu platzieren. Hier geht es eher darum, Argumente aufzubauen, Nutzen zu erklären und mit psychologischer Struktur zu arbeiten. Aber auch hier entscheidet sich früh, ob jemand bleibt oder abspringt. Emotionalität und Klarheit sind also in beiden Fällen zentral – nur mit unterschiedlichen Schwerpunkten.
DWN: Sie haben Predictive Eye-Tracking bereits erwähnt. Was genau ist das, und lohnt sich das auch für kleine Unternehmen?
Reggelin: Absolut. Früher war Eye-Tracking etwas, das nur große Konzerne sich leisten konnten, mit Testlabors, Spezialbrillen und hohen Kosten. Heute gibt es KI-gestützte Tools, die anhand tausender echter Blickverläufe sehr präzise simulieren können, wo Nutzer wahrscheinlich zuerst hinschauen werden. Für KMU ist das eine enorme Chance. Denn so lässt sich herausfinden, ob wichtige Elemente auf der Website – etwa der Call-to-Action oder der USP – wirklich gesehen werden. Oder ob nicht doch ein kleines, auffälliges Design-Element die ganze Aufmerksamkeit abzieht. Diese Tools kosten heute einen Bruchteil und liefern innerhalb von Minuten aussagekräftige Ergebnisse. Und sie helfen, Entscheidungen zu treffen, die nicht auf Bauchgefühl, sondern auf Daten basieren.
DWN: Welche Tools oder Herangehensweisen empfehlen Sie, um überhaupt erst mal zu starten?
Reggelin: Der wichtigste Schritt ist überhaupt: anfangen. Es braucht oft gar keine aufwendigen Tools, um erste Erkenntnisse zu gewinnen. Viel bringt schon ehrliches Feedback von außen – etwa von Freunden, Bekannten oder auch Kund:innen. Sie entdecken oft Dinge, die man selbst durch Betriebsblindheit gar nicht mehr wahrnimmt. Wer zusätzlich einfache Analyse-Tools nutzt oder aufzeichnet, wie sich Nutzer durch die Seite bewegen, kann schnell herausfinden, wo es hakt – auch ohne tiefe Technikkenntnisse.
DWN: Wenn Sie sich auf eine Empfehlung beschränken müssten, was würden Sie einem Mittelständler mit auf den Weg geben?
Reggelin: Machen Sie den Drei-Sekunden-Test. Öffnen Sie Ihre Website – am besten auf dem Smartphone – und stellen Sie sich vor, Sie kennen das Unternehmen nicht. Und dann beantworten Sie für sich selbst drei Fragen: Was macht diese Firma? Warum ist sie besser als andere? Und: Vertraue ich dem, was ich da sehe? Wenn Sie auch nur bei einer dieser Fragen zögern, dann sollten Sie Ihre Seite überdenken. Denn genau so geht es auch Ihren potenziellen Kunden oder Bewerberinnen. Dieser Test klingt banal, aber er deckt gnadenlos auf, ob eine Seite funktioniert – oder eben nicht.
DWN: Künstliche Intelligenz verändert das digitale Umfeld rasant. Was bedeutet das für die Entwicklung von Neuro Webdesign?
Reggelin: KI ist ohne Zweifel ein Beschleuniger. Sie automatisiert, analysiert und skaliert Prozesse, die früher viel Zeit und Geld gekostet haben. Aber genau deshalb wird der menschliche Faktor immer wichtiger. Denn KI kann zwar Muster erkennen, aber keine Empathie empfinden. Sie weiß, was oft funktioniert, aber nicht, warum es bei einem bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation funktioniert. In einer Welt voller KI-generierter Inhalte wird das, was echt, menschlich und emotional berührbar ist, zum schärfsten Differenzierungsmerkmal. Neuro Webdesign wird also nicht verdrängt, sondern gewinnt an Bedeutung – gerade weil es dort ansetzt, wo die KI an ihre Grenzen stößt.
DWN: Wie unterscheiden sich eigentlich die digitalen Erwartungen und das Nutzerverhalten zwischen den Generationen?
Reggelin: Sehr stark. Die Generation Z etwa ist mit TikTok, Instagram und Co. groß geworden. Das hat die Art, wie Informationen aufgenommen und bewertet werden, komplett verändert. Sie entscheiden in Sekundenbruchteilen, ob etwas relevant ist – oft nur anhand von Bildern, Headlines oder Bewegungen. Wer hier mit Textwüsten oder langsamen Ladezeiten kommt, ist raus, bevor überhaupt ein Eindruck entstehen konnte. Ältere Zielgruppen, etwa Babyboomer oder Gen X, erwarten dagegen oft etwas mehr Substanz und Tiefe, schätzen aber genauso gut strukturierte, optisch ansprechende Seiten. Was beide Gruppen eint: Sie wollen Klarheit, Relevanz und Vertrauen. Und niemand, wirklich niemand, liest gerne lange Texte, wenn es nicht unbedingt sein muss.
DWN: Was heißt das für KMU mit Blick auf die Generation Alpha?
Reggelin: Die wachsen in einer Welt auf, in der klassische Webseiten kaum noch eine Rolle spielen. Für sie sind KI, Touch-Interaktion und plattformbasierte Inhalte selbstverständlich. Wenn Unternehmen diese Zielgruppe erreichen wollen, müssen sie Inhalte visuell, interaktiv und snackable gestalten – also schnell erfassbar und relevant. Die Website wird dabei nicht verschwinden, aber sie muss sich neu erfinden: weg von der klassischen Struktur hin zu einem flexiblen, dynamischen Zugangspunkt für Information und Vertrauen.
DWN: Herr Reggelin, vielen Dank für das Gespräch.
Info zur Person: Jonas Reggelin ist Gründer und Geschäftsführer der Neuromarketing-Agentur wirkungswerk, zertifiziertes Mitglied der Neuromarketing Science & Business Association und bringt 15 Jahre Erfahrung in Psychologie und Webdesign in sein Buch „Neuro Webdesign“ ein. Nach vielen Jahren intensiver Recherche und praxisnaher Erprobung präsentiert er wissenschaftlich fundierte Methoden zur Gestaltung benutzerzentrierter und ästhetisch ansprechender Websites.