Benzinkrise: Preisschock im russischen Energiemarkt
Nach Berechnungen von CNN hat die Ukraine allein in diesem Monat mindestens zehn besonders wichtige Energieobjekte in Russland getroffen, darunter die riesige „Lukoil“-Raffinerie in Wolgograd, die größte im Süden Russlands, die im August zweimal attackiert wurde. Die jüngsten Angriffe trafen am Sonntag ein Gasterminal nahe Sankt Petersburg, wo ein Großbrand ausbrach, sowie eine Raffinerie in der Region Samara. Laut ukrainischem Geheimdienst stellen die im August attackierten Raffinerien jährlich mehr als 44 Millionen Tonnen Produkte her – das entspricht über zehn Prozent der russischen Produktionskapazität.
Moskau hatte bereits Ende Juli als Reaktion auf die Attacken den Benzinexport gestoppt, um die Versorgung im Inland zu sichern. Doch dies verhinderte weder Knappheit noch steigende Preise. Selbst mit Exportverbot wird die Inlandsnachfrage nicht vollständig gedeckt“, erklärte Sergej Kaufman, Analyst bei der Moskauer Brokerfirma „Finam“, laut des litauischen Wirtschaftsportals Verslo Zinios. „Das Fehlen von Lagerbestandsstatistiken, die Russland seit Mai zurückhält, verschärft die Nervosität am Markt zusätzlich.“
Versorgungsknappheit, Rationierung und steigende Nachfrage
Am vergangenen Mittwoch erreichte der Preis für das meistgenutzte Benzin A95 an der Börse in Sankt Petersburg 82.300 Rubel (1.023 US-Dollar) pro Tonne – 55 Prozent mehr als zu Jahresbeginn und acht Prozent mehr als Anfang August. Im Einzelhandel steigen die Preise langsamer, da der Staat Ölkonzerne subventioniert und informell ein Verbot verhängt hat, die Preise abrupt anzuheben. Dennoch legten die Benzinpreise in Russland im vergangenen Jahr um neun Prozent zu, seit Januar allein um mehr als fünf Prozent – und damit stärker als die durchschnittliche Inflationsrate.
Neben den direkten Schlägen gegen Raffinerien verschärfen ukrainische Angriffe auf die Eisenbahninfrastruktur die Lage. In Zentralrussland kam es zu Störungen beim Transport von Treibstoffen mit Güterzügen, aber auch beim Passagierverkehr. Eingeschränkte Zug- und Flugverbindungen führten dazu, dass mehr Menschen auf Autos auswichen – was die Nachfrage zusätzlich steigerte.
Je nach Region und Tankstelle unterscheidet sich die Versorgungslage stark. Am härtesten betroffen sind abgelegene Gebiete. Im Transbaikalgebiet wird Benzin inzwischen per Gutschein rationiert, ebenso in Teilen des russischen Fernen Ostens. Anwohner berichteten der „Moscow Times“, Zapfsäulen seien mancherorts schlicht mit Schildern „Außer Betrieb“ abgedeckt. In größeren Städten sei Tanken zwar noch möglich, doch bildeten sich Schlangen von bis zu zwei Stunden. Auch auf der von Russland annektierten Krim gab es zuletzt Engpässe bei A95.
Am Donnerstag meldete der ukrainische Auslandsgeheimdienst, russische Unternehmen kauften eilig Erdölprodukte in Belarus ein. Der staatliche Ölkonzern „Belneftekhim“ bestätigte, dass die Nachfrage aus Russland in den vergangenen Tagen sprunghaft gestiegen sei. Höchstwahrscheinlich werden die Preise weiter steigen. Allerdings dürfte die saisonale Nachfrage durch Tourismus und Landwirtschaft sinken und teilweise beschädigte Raffinerien könnten wiederhergestellt werden.
Flamingo: Die neue Waffe mit Eskalationspotenzial
Reparaturen derartiger Infrastruktur sind wegen westlicher Sanktionen komplex. Zudem will die Ukraine diese Angriffe nicht stoppen. Sergej Vakulenko vom „Carnegie Endowment for International Peace“ warnte, der Verbrauchermarkt könne mit „beispiellosen Problemen“ konfrontiert werden. Nach Angaben der ukrainischen Armee verursachten Langstreckenangriffe allein in diesem Jahr Verluste von 74 Milliarden US-Dollar, fast 40 Prozent der Schläge trafen Ziele mindestens 500 Kilometer im Landesinneren.
Während frühere Angriffe verstreut waren und meist einzelne Raffinerien betrafen, richtet sich die aktuelle Kampagne gegen nahezu alle Werke in den Hauptverarbeitungsregionen – mit der Aussicht, diese langfristig außer Gefecht zu setzen. Zwar nutzt die russische Armee überwiegend Diesel, an dem es keinen Mangel gibt, doch mit der neuen, in der Ukraine entwickelten Marschflugkörperwaffe „Flamingo“ könnte sich das Bild ändern. Die Rakete, die vergangene Woche vorgestellt wurde, trägt einen 1.150 Kilogramm schweren Sprengkopf und hat eine Reichweite von 3.000 Kilometern, erklärte Iryna Terekh, Direktorin des Herstellers „Fire Point“, gegenüber „Politico“. Laut ihr seien die Drohnen und Raketen des Unternehmens teilweise verantwortlich für Flughafenschließungen und steigende Benzinpreise in Russland. Die Serienproduktion läuft bereits, bis zu 200 Raketen pro Monat sind geplant.
Im Unterschied zu Drohnen mit kleinen Sprengladungen entfalten schwerere Waffen eine deutlich größere Wirkung. Als die Ukraine im Juni die Raffinerie in Tuapse mit einer „Neptun“-Rakete und 150 Kilogramm Sprengkopf angriff, dauerte es drei Tage, den Brand zu löschen. Raketenexperte Fabian Hoffmann von der Universität Oslo errechnete, dass die „Flamingo“ mit einem Explosionsradius von über 38 Metern für besonders verwundbare Destillationskolonnen enormen Schaden anrichten könne. Er bezeichnete sie als „stärkste Sicherheitsgarantie der Ukraine“. Mit 3.000 bis 5.000 solcher Raketen könne die Ukraine binnen 24 bis 48 Stunden bis zu 25 Prozent der russischen Wirtschaftsleistung vernichten.
Auch David Kirichenko von der Londoner „Henry Jackson Society“ sieht in „Flamingo“ einen potenziellen Trumpf für Kiew in künftigen Verhandlungen. Selbst mit begrenzter Eigenproduktion habe die Ukraine bereits gezeigt, dass sie Russlands Energieinfrastruktur empfindlich treffen könne. Sollte die Serienproduktion von Langstreckenraketen gelingen, drohten den russischen Raffinerien, Häfen und Pipelines katastrophale Folgen. Russlands Größe, einst als Stärke gesehen, könne zur Schwäche werden, da das Land nicht genug Luftabwehrsysteme habe, um tausende Ziele über elf Zeitzonen zu schützen.
Warum die Flamingo-Rakete Russlands größte Schwäche offenlegt
Die ukrainischen Schläge markieren eine neue Stufe im Energiekrieg: Moskaus Abhängigkeit von Öl- und Gasexporten wird zunehmend zur Achillesferse. Während die USA unter Präsident Donald Trump auf eine weichere Linie gegenüber Russland einschwenken, gerät Europa zwischen die Fronten. Einerseits steigt die Gefahr, dass Engpässe in Russland auch die Versorgung europäischer Abnehmer destabilisieren. Andererseits könnten ukrainische Langstreckenraketen mit Reichweiten von 3.000 Kilometern das geopolitische Gleichgewicht verschieben – indem sie Russland dort treffen, wo es am verwundbarsten ist: in der Energieinfrastruktur, die seine Kriegswirtschaft finanziert.
Die Benzinkrise in Russland ist ein Vorbote dessen, was die ukrainische Waffentechnologie künftig auslösen könnte. Mit „Flamingo“ könnte Kiew erstmals eine strategische Waffe besitzen, die Putins Kriegsökonomie substanziell bedroht. Die Frage ist nicht mehr, ob Russland wirtschaftlich verwundbar ist – sondern, ob die Ukraine genug Raketen herstellen kann, um diese Verwundbarkeit in einen entscheidenden Vorteil zu verwandeln.


