Krieg als Nährboden, um in die Ukraine zu investieren
Die Ukraine sei ein Land mit „enormem Investitionspotenzial“, sagt Pierre Heilbronn, Sondergesandter des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für den Wiederaufbau der Ukraine. In einem Interview mit unseren Kollegen der litauischen Wirtschaftszeitung Verslo Žinios nennt er klare Indikatoren: ein stetiges Wirtschaftswachstum von drei bis fünf Prozent, stabilisierte Inflation sowie starke Verteidigungs- und Industriesektoren, obwohl dort ein Krieg in vollem Gange ist. „Der Krieg hat die Ukrainer gezwungen, erfinderisch zu arbeiten, eng zusammenzuarbeiten und mit knappen Ressourcen zu wirtschaften. Der Mangel an Selbstverständlichkeiten schafft ein ideales Umfeld für Innovation“, erklärt Heilbronn.
Er verweist auf Investoren, die den Schritt bereits gewagt haben, etwa den französischen Milliardär Xavier Niel, der die ukrainischen Telekommunikationsunternehmen Lifecell und DataVolia übernommen hat, was die größte ausländische Direktinvestition in der Ukraine seit Jahren im Umfang von 1,5 Milliarden Euro ist.
Heilbronn verweist auch auf die Analyse des ehemaligen EZB-Chefs Mario Draghi, der Europas strukturelle Schwächen gegenüber den USA und China aufgezeigt hat: mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, ein Innovationsdefizit, die Spannung zwischen Dekarbonisierung und Industriepolitik sowie sicherheitspolitische Risiken. „Gerade hier kann die Ukraine einen Beitrag leisten“, sagt Heilbronn. „Sie stärkt durch Ressourcen, Verteidigungsfähigkeit und technologische Innovationskraft die strategische Autonomie Europas.“
Die Ukraine verfüge heute über die größte Armee Europas und über starke Innovationskompetenzen. Technologien aus dem Verteidigungsbereich würden früher oder später auch in der zivilen Wirtschaft Anwendung finden. „Das Land hat reiche Rohstoffvorkommen und eine hochqualifizierte, technisch orientierte Arbeiterschaft. Der Wiederaufbau der Ukraine ist eine Chance, die Reindustrialisierung Europas neu zu beleben.“
Finanzierung, Sanktionen und die Frage westlicher Entschlossenheit
Doch Heilbronn warnt: „Die Ukraine braucht Geld – jetzt.“ Nach unterschiedlichen Schätzungen könne sich das Land nur noch bis März kommenden Jahres über Wasser halten. Auf dem Tisch der EU-Staats- und Regierungschefs liege daher ein neuer Finanzierungsvorschlag: die Nutzung eingefrorener russischer Vermögenswerte im Umfang von 140 Milliarden Euro zur Finanzierung von Krediten für Kiew. Belgien blockiert bislang, da sich der Großteil der russischen Zentralbankgelder in seiner Jurisdiktion befindet. Heilbronn zeigt sich dennoch überzeugt, dass beim EU-Gipfel im Dezember eine Einigung erzielt werde. „Wie Präsident Macron betont hat, soll dieses Instrument unter klaren Auflagen zunächst die militärischen Bedürfnisse der Ukraine finanzieren“, erklärt Heilbronn. „Etwa, dass die beschaffte Ausrüstung in Europa hergestellt wird. Weitere Mittel zur Unterstützung des ukrainischen Staatshaushalts sollten an Bedingungen geknüpft sein: Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und Fortschritt in der europäischen Integration.“ Er räumt ein, dass der Krieg länger andauern wird als erwartet: „Russland ist derzeit nicht zu Friedensverhandlungen bereit. Es kann nur durch anhaltenden Druck an den Verhandlungstisch gezwungen werden.“
Auch zur EU-Mitgliedschaft äußert sich Heilbronn vorsichtig: Ob die Ukraine bis 2030 Vollmitglied werde, hänge von den Reformen in beiden Seiten ab. „Die EU muss sich institutionell und wirtschaftlich auf diese Erweiterung vorbereiten.“
Was den in Westeuropa spürbaren „Kriegsmüdigkeits“-Diskurs betrifft, widerspricht er entschieden: „Wir müssen vorsichtig mit Begriffen umgehen, die den Eindruck eines möglichen Rückzugs erwecken. Solche Narrative stammen oft aus Desinformationskampagnen. Die Ukrainer wären die Ersten, die Ermüdung empfinden könnten. Doch sie kämpfen weiter. Es ist also nicht Müdigkeit, sondern Normalisierung: Der Krieg wird Teil unserer täglichen Realität, während die Welt in eine Phase permanenter Krisen eintritt.“
Heilbronn hat dafür eine Strategie: „Wir müssen den Narrativ verändern. Wenn ich mit Medien über die Ukraine spreche, konzentriere ich mich auf Investitionen und Chancen. Das erzeugt ein anderes Bild als die übliche Kriegsberichterstattung. Ein Beispiel: Ein im Vorjahr gegründeter 200-Millionen-Euro-Fonds hat in sieben französischen Regionen mehr als 50 Unternehmen mobilisiert, die nun Projekte in der Ukraine unterstützen.“
Europas Schlüsselfigur auf dem geopolitischen Schachbrett
„Die Ukraine spielt heute eine zentrale Rolle in der Sicherheits- und Wirtschaftsarchitektur Europas“, sagt Heilbronn. „Frankreich hat die Ukraine lange als östliches Randland Europas betrachtet, doch tatsächlich liegt sie im Herzen der geopolitischen Spannungen des Kontinents. Sie ist die entscheidende Figur im großen geopolitischen Schachspiel. Das wird sich nicht ändern.“
Gleichzeitig kämpft Frankreich selbst mit politischer Instabilität: mehrere gestürzte Regierungen, ein ungelöster Haushaltsstreit, eine Staatsverschuldung (die dritthöchste in der EU) und wachsende Unterstützung für die extreme Rechte.
Wird Paris also seine Ukraine-Politik abschwächen? Heilbronn verneint: „Die Unterstützung bleibt robust. Ein großer Teil der Hilfe fließt über europäische Instrumente, bei denen Frankreich zweitgrößter Beitragszahler ist. Wenn jedoch neue Finanzierungsmechanismen die Risiken unverhältnismäßig auf einzelne Staaten verlagern, könnte das innenpolitische Spannungen auslösen. Daher braucht es eine Balance zwischen EU- und nationaler Verantwortung.“
Wie sinnvoll ist es, in die Ukraine zu investieren?
Für Deutschland steht die Ukraine wirtschaftlich und sicherheitspolitisch im Mittelpunkt der europäischen Neuordnung. Heilbronns Aussagen fügen sich in die Berliner Linie ein, die auf langfristige Integration der Ukraine in EU-Strukturen und gemeinsame Rüstungs- und Wiederaufbauprogramme setzt. Deutsche Unternehmen (etwa im Bereich Infrastruktur, Maschinenbau, Energie und Verteidigungstechnologie) könnten von den geplanten Investitionsrahmen massiv profitieren. Die Nutzung eingefrorener russischer Vermögenswerte, die in Deutschland kontrovers diskutiert wird, könnte ein Finanzierungsmodell auch für deutsche Wiederaufbau-Initiativen werden.
Frankreichs Position zeigt, dass Paris die Ukraine nicht mehr nur als „Hilfsempfänger“, sondern als strategischen Partner begreift. Wird sie ein Land, das Europas sicherheitspolitische Autonomie stärken kann? Das wird sich zeigen. Gleichzeitig deutet Heilbronns Optimismus auf eine neue europäische Arbeitsteilung hin: Deutschland als industrieller Motor, Frankreich als politischer Architekt, die Ukraine als militärisch-technologischer Puffer. Doch die geopolitische Realität bleibt widersprüchlich: Europa kämpft mit politischer Polarisierung, wirtschaftlicher Abschwächung und einem Krieg ohne absehbares Ende.


