Der Dokumentarfilm „The Price of the World Cup“ des dänischen Journalisten Mikkel Keldorf löste in den letzten Tagen im Netz eine Welle der Empörung aus. Keldorf beschreibt wie in verschiedenen brasilianischen WM-Austragungsorten Straßenkinder, im Vorfeld der „Copa“ entführt und ermordet wurden. Keldorf sagt, diese Verbrechen geschehen, weil die Straßenkinder nicht ins Bild passen, das die brasilianischen Veranstalter den Touristen von ihren Städten vermitteln wollen. Deshalb würden die Kinder „nachts im Schlaf erschossen und aus den Touristenvierteln entfernt, damit die Gringos die WM ungestört genießen können“. Ein Gespräch mit dem Regisseur des Films.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie haben jahrelang in Brasilien als Korrespondent gearbeitet. Sie wollten auch direkt aus Brasilien über die Fußball-WM berichten. Diesen Plan haben Sie aufgegeben…
Mikkel Keldorff: Ja, ich habe aus Brasilien für TV2, dem größten dänischen TV-Sender, berichtet. Jetzt arbeite ich in Dänemark für den selben Sender als World Cup Kolumnist. Bevor ich im September 2013 nach Brasilien ging habe ich Portugiesisch gelernt. Ich habe auch in Rio Kurse über Brasilianische Geschichte und Dokumentarfilm belegt. Dann habe ich mich an die Arbeit gemacht. Ich wollte über das große Fußball-Fest berichten, aber auch über Schattenseiten. Aber die Zustände, die ich vorgefunden habe haben mich zu dem Entschluss gebracht, nicht mehr über das Fest zu berichten. Die Schattenseiten waren zu hart.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welche Beweise gibt es, dass Straßenkinder wirklich ermordet wurden?
Mikkel Keldorff: Es ist unstrittig, dass Straßenkinder in Brasilien ermordet wurden. Ob ich beweisen kann, dass es Todesschwadronen waren, die die Morde ausführten? Nun, ich habe großes Vertrauen in meine Quellen: Der Sozialarbeiter aus Fortaleza, Manoel Torquato, der mich mit Informationen versorgt hat, war gerade in Genf, um bei der UNO über die Situation der Straßenkinder in Brasilien zu berichten. Ich habe seine Aussagen mit vielen Aussagen von Straßenkindern in Fortaleza abgeglichen. Nach den vielen Interviews bin ich mir sicher, dass viele Kinder weiterhin in Brasilien verschwinden. Das Grauen geht weiter. Ob ich ein Smoking Gun habe (zu deutsch etwa: „Das rauchende Schießeisen“, als Synonym für einen eindeutigen Beweis)? Nein.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Um wieviele verschwundene Kinder geht es? In welchen Städten sind sie verschwunden?
Mikkel Keldorff: Schwer zu sagen. Offiziell gibt es diese Fälle gar nicht. Die Straßenkinder sind normalerweise nirgends gemeldet. Deshalb können sie offiziell auch gar nicht verschwinden oder ermordet werden. Wenn man die Behörden in Fortaleza fragt, dann lautet die offizielle Antwort: Die Anzahl der verschwundenen Kinder liegt bei null. Eine lokale Hilfsorganisation vor Ort hat aber 121 tote Straßenkinder gezählt – allein in Fortaleza. Allerdings waren nicht alle Todesfälle auf paramilitärische Gruppen zurückzuführen, die im Auftrag von Mächtigen Lokalfürsten oder mit deren Billigung oder Duldung agieren.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Gibt es zumindest in Einzelfällen Vermutungen, wer die Mörder sind?
Mikkel Keldorff: Es ist schwer zu sagen, wer die Mörder genau sind. Das Phänomen der Todesschwadronen ist historisch nicht neu: Sie sind normalerweise aus korrupten Polizisten zusammengesetzt. Diese werden von mächtigen Leuten in den Städten beauftragt: Von Geschäftsleuten, Stadträten, Bürgermeistern. Marcelo Freixo, Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im Regionalparlament von Rio de Janeiro, beschreibt das Phänomen in meinem Dokumentarfilm sehr plastisch.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie hat man in Brasilien auf Ihren Film und die darin enthaltenen Vorwürfe reagiert?
Mikkel Keldorff: Die lokale Polizei von Fortaleza hat sich geweigert, meine Fragen zu beantworten. Die brasilianische Oberstaatsanwaltschaft hat allerdings offizielle Schreiben an den Bürgermeister von Fortaleza geschickt. Darin werden Vorschriften formuliert, wie man in Zukunft mit Straßenkindern und Obdachlosen im Allgemeinen umgehen soll. Einiges hat sich schon getan. Kleine Schritte. Aber im Allgemeinen kann man sagen: Weder ich noch mein Dokumentarfilm sind bei den Mächtigen in Brasilien besonders beliebt.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Trägt die FIFA eine Mitverantwortung?
Mikkel Keldorff: Ich glaube nicht.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Fühlten Sie sich in Brasilien bedroht, nachdem Sie diese schweren Menschenrechtsverletzungen angeprangert hatten?
Mikkel Keldorff: Es gab Hasskampagnen gegen mich: Es wurde behauptet, ich sei von den politischen Gegnern Dilma Roussefs bezahlt worden. Andere sagten, ich sei nur auf Publicity und Geld aus. Es gibt aber auch viele Brasilianer, die sagen, endlich spricht da einer aus, was gern unter den Teppich gekehrt wird, obwohl alle wissen, dass es existiert.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Raten Sie dazu, die WM zu boykottieren?
Mikkel Keldorff: Ich denke nicht, dass alle die WM boykottieren sollten. Die Leute sollten aber wachsam sein, sich für die Zustände in Brasilien interessieren, und daraus ihre Schlüsse ziehen.
Der renommierte Investigativ-Journalist Antonio Cascais begleitet für die Deutschen Wirtschafts Nachrichten in den kommenden Wochen die Entwicklung in Brasilien. In der Rubrik „Das andere Tagebuch der Fußball WM“ wird Cascais über die sozialen Probleme und die Proteste der Brasilianer gegen das Kommerz-Spektakel berichten. Cascais hatte zuletzt mit seiner TV-Dokumentation „die story – Geschäfte wie geschmiert?“ (mit Marcel Kolvenbach) für Aufsehen gesorgt. In der Doku zeigten die Autoren die Hintergründe eines U-Boot-Deals in Portugal auf. Der Film ist in der Mediathek des WDR abrufbar.
Teil 1: Die Revolution hat in Brasilien Feuer gefangen
Teil 2: Brasilien: Künstler protestieren gegen die Fußball-WM
Teil 3: Brasilien: Von der Fußball-WM profitieren Konzerne, Politiker und Banken
Teil 4: Weltmeister: Deutsche Waffen-Industrie verdient prächtig mit der Fußball-WM
Teil 5: Brasilien: Staudamm-Bau mit Methoden einer Militär-Diktatur
Teil 6: Wer ist die rätselhafte Dilma Rouseff?
Teil 7: Brasilien: Straßenkinder passen nicht ins Bild der WM – und verschwinden
Teil 8: Der ganz andere WM-Song: „Öffnet eure Augen, Brüder / die FIFA greift in unsere Taschen“
Teil 9: Brasilien: Fifa unterstützt Projekte gegen Kinderprostitution nicht
Teil 10: Lage in São Paulo eskaliert: Polzei knüppelt streikende U-Bahn-Fahrer nieder
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