Politik

Armut und Ungleichheit: Deutschland ist kein Musterland in Europa

Lesezeit: 2 min
11.09.2015 00:39
Der jüngste Oxfam-Bericht warnt vor sozialen Spannungen in Europa. Die Ungleichheit der Vermögen und die grassierende Armut müssten wirkungsvoll bekämpft werden. Auch Deutschland kommt in dem Bericht nicht gut weg.
Armut und Ungleichheit: Deutschland ist kein Musterland in Europa

Mehr zum Thema:  
Europa >
Benachrichtigung über neue Artikel:  
Europa  

Die zunehmende Armut und Ungleichheit in Europa bedrohen den sozialen Zusammenhalt und untergraben die Demokratie. Davor warnt die Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam in ihrem aktuellen Bericht „Ein Europa für alle“. Demnach fehlte im Jahr 2013 50 Millionen Menschen in Europa das Geld, ihre Wohnungen zu heizen oder unvorhergesehene Ausgaben zu bestreiten – ein Anstieg um 7,5 Millionen seit 2009. Fast ein Viertel der europäischen Bevölkerung, insgesamt 123 Millionen Menschen, lebt an der Armutsgrenze oder darunter. Dem stehen auf der Sonnenseite der europäischen Vermögensskala 342 Milliardäre gegenüber, mehr als doppelt so viele wie noch im Jahr 2009. In Deutschland ist der Anteil der von Armut bedrohten Menschen zwischen 2005 und 2013 von zwölf auf 16 Prozent gewachsen. Im gleichen Zeitraum wuchs das Nettovermögen aller Milliardäre in Deutschland von 214 auf 296 Milliarden US-Dollar.

Der Bericht identifiziert drei Hauptursachen für die wachsende Ungleichheit und Armut:

- Reiche Einzelpersonen, Unternehmen und private Interessensgruppen kontrollieren die Entscheidungsprozesse in der Politik. Die Folge: Steuersysteme und Regierungspolitiken nutzen einigen wenigen, nicht aber der Mehrheit, weshalb die Einkommens- und Vermögensungleichheit steigt.

- In einigen EU-Staaten ging die Sparpolitik im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ausschließlich zulasten der Ärmsten. Mindestlöhne mussten auf Druck der Gläubiger gekürzt, der Kündigungsschutz abgeschafft, der öffentliche Sektor verkleinert werden. Nationale Tarifverhandlungen wurden in Spanien, Portugal und Griechenland zurückgedrängt und durch Verhandlungen auf Firmenebene ersetzt.

- Ungerechte Steuersysteme vergrößern in vielen europäischen Ländern die Lücke zwischen Arm und Reich, statt Einkommensungleichheiten zu verringern. Sie besteuern Arbeit und Konsum stärker als Kapital, was reichen Einzelpersonen, Gutverdienenden und großen Unternehmen ermöglicht, ihren Steuerverpflichtungen zu entgehen. So bezieht Spanien 90 Prozent seiner Steuereinnahmen aus Steuern auf Arbeit, Einkommen und Konsum, Unternehmenssteuern machen nur zwei Prozent der Einnahmen aus. Zugleich verlieren die EU-Staaten insgesamt eine Billion Euro pro Jahr durch Steuervermeidung.

Ergänzend zum Bericht „Ein Europa für alle“ veröffentlicht Oxfam eine Rangliste, die die EU-Mitgliedstaaten anhand sieben verschiedener Kennzahlen zu Armut und Ungleichheit einordnet:

- In Deutschland, Griechenland und Portugal herrscht EU-weit die höchste Einkommensungleichheit vor Steuern und Sozialtransfers.

Die größte Ungleichheit bei den verfügbaren Einkommen (nach Steuern) findet sich in Bulgarien, Lettland und Litauen. In Deutschland ist die diesbezügliche Ungleichheit zwischen 2005 und 2013 signifikant gestiegen.

- Rumänien und Griechenland haben die höchste Quote an Menschen, die trotz Arbeit von Armut bedroht sind. Auch in Deutschland stieg dieser Wert zwischen 2005 und 2013 kontinuierlich.

- In Deutschland, Österreich und Tschechien bestehen die höchsten Einkommensgefälle zwischen Männern und Frauen.

Jörn Kalinski, Leiter der Kampagnenarbeit von Oxfam Deutschland, kommentiert: „Global gesehen ist die EU eine Gruppe reicher Länder, doch ein Viertel der Bevölkerung ist auch hier von Armut bedroht. Dies ist kein unabwendbares Schicksal, sondern Folge fehlgeleiteter Politik, die sich ändern lässt. Es gibt Alternativen: Wir dürfen Armut, Ungleichheit und die politische Vorherrschaft reicher Eliten nicht länger hinnehmen. Denn dies bedroht den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaften und langfristig die Demokratie. Wir brauchen mehr Geld für öffentliche Dienstleistungen, Steuersysteme, die den Armen und nicht den Reichen nutzen, sowie Standards für faire Löhne und Arbeitsbedingungen.“


Mehr zum Thema:  
Europa >

Anzeige
DWN
Panorama
Panorama Kostenloses Experten-Webinar: Die Zukunft der personalisierten Medizin aus der Cloud - und wie Sie davon profitieren

Eine individuelle Behandlung für jeden einzelnen Menschen - dieser Traum könnte nun Wirklichkeit werden. Bei der personalisierten Medizin...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Tesla Grünheide - Protesttage: Polizei schützt Autofabrik mit Großaufgebot
10.05.2024

Die Kundgebungen gegen den Autobauer Tesla in Grünheide erreichten am Freitag einen neuen Höhepunkt. Während eines...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Der Chefredakteur kommentiert: Deutsche Bahn, du tust mir leid!
10.05.2024

Liebe Leserinnen und Leser, jede Woche gibt es ein Thema, das uns in der DWN-Redaktion besonders beschäftigt und das wir oft auch...

DWN
Technologie
Technologie Kein Erdgas mehr durch die Ukraine? Westeuropa droht erneute Energiekrise
10.05.2024

Eines der größten Risiken für die europäische Erdgasversorgung im nächsten Winter ist die Frage, ob Gaslieferungen weiterhin durch die...

DWN
Finanzen
Finanzen DAX-Rekordhoch: Deutscher Leitindex springt auf Allzeithoch bei über 18.800 Punkten
10.05.2024

Der DAX hat am Freitag mit einem Sprung über die Marke von 18.800 Punkten seinen Rekordlauf fortgesetzt. Was bedeutet das für Anleger und...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Streik am Bau: Gewerkschaft kündigt Proteste in Niedersachsen an
10.05.2024

Die IG Bauen Agrar Umwelt hat angekündigt, dass die Streiks am Bau am kommenden Montag (13. Mai) zunächst in Niedersachsen starten...

DWN
Politik
Politik Selenskyj drängt auf EU-Beitrittsgespräche - Entwicklungen im Ukraine-Krieg im Überblick
10.05.2024

Trotz der anhaltenden Spannungen an der Frontlinie im Ukraine-Krieg bleibt Präsident Selenskyj optimistisch und setzt auf die...

DWN
Politik
Politik Corona-Aufarbeitung: Spahn spricht sich für breite Analyse aus mit allen Blickwinkeln
10.05.2024

Im deutschen Parlament wird zunehmend eine umfassende Analyse der offiziellen Corona-Maßnahmen, einschließlich Masken und Impfnachweisen,...

DWN
Politik
Politik Pistorius in den USA: Deutschland bereit für seine Aufgaben
10.05.2024

Verteidigungsminister Boris Pistorius betont in Washington eine stärkere Rolle Deutschlands im transatlantischen Bündnis. Er sieht den...