Am Montag ist die vertiefte Konfliktlinie klargeworden, die sich durch die EU zieht: Auf der einen Seite beharrt Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble auf seiner Position, es dürfe keinen Schuldenschnitt für Griechenland geben. Auf der anderen Seite drängt der Süden nach genau diesem Exempel. Tsipras hat seine Referendums-Schlacht auch für sie gewonnen.
Schäubles Starrsinn führt zu einer denkbar kurzsichtigen Sichtweise, weil es den deutschen Steuerzahlern nicht hilft, wenn man ihnen sagt: Das Geld ist weg – aber die Griechen sind schuld. Es wird Schäuble auch nicht helfen, dass er behauptet, der IWF sei gegen einen Schuldenschnitt. Und auch die technokratischen Phrasen des EU-Vizepräsidenten Valdis Dombrovskis, der allen kritischen Journalistenfragen mit Stereotypen auswich, können nicht verschleiern, dass die europäischen Steuerzahler wählen können zwischen einem ungeordneten Austritt (= alles ist weg) und einem Schuldenschnitt (= man rettet einen kleinen Teil, oder wenigstens die Fiktion).
Die Euro-Retter agieren ausgesprochen kopflos. Man hat den Eindruck, ihr einziges Bestreben besteht darin, die hieße Kartoffel weiterzureichen und eine Lesart für die Nachwelt zu erstellen, in der sie nicht mit dem Milliarden-Debakel in Verbindung gebracht werden.
Die Bundeskanzlerin bereitet im Hintergrund den x-ten Euro-Gipfel vor. Sie ist vorsorglich in Deckung gegangen, weil das griechische Votum so deutlich war, dass man sich besser nicht dagegen positioniert - so wie es die EU in unglaublich leichtsinniger Weise im Vorfeld getan hat. Merkel ließ das Bundespresseamt die Binsenweisheit verkünden, «dass das Votum der griechischen Bürger zu respektieren» sie daher vorerst keine Basis für Verhandlungen zur Rettung der griechischen Staatsfinanzen sehe. Was künftig geschieht, werde davon abhängen, «welche Vorschläge die griechische Regierung auf den Tisch legt», sagte Merkels Sprecher Steffen Seibert
Die Sozialdemokraten befinden sich im freien Fall. Für sie ist der worst case eingetreten: Eine linke Partei agiert als antikapitalistische Vorhut für ein neues Europa. Der Franzose Pierre Moscovici, der eigentlich als Finanzkommissar in Brüssel hätte auftreten sollen, ließ sich durch den Litauer Dombrovskis vertreten. Der sprach wiederum, weil Juncker auf Tauchstation gegangen war. Moscovici kann nicht mehr für die Deutschen reden, weil die Franzosen eine andere Linie verfolgen: Finanzminister Michel Sapin sagte in Paris, dass Griechenland im Euro bleiben sollte. Sein deutscher Parteikollege Sigmar Gabriel dilettiert in ziemlich unangemessener Weise in Außenpolitik, sagt zuerst, dass die Griechen alle Brücken hinter sich abgerissen hätten und dass die endgültige Zahlungsunfähigkeit Griechenlands unmittelbar bevorstehe, um wenig später – nach einem Anruf aus Paris? – zu sagen, der „Sparkurs“ sei gescheitert, Griechenland bräuchte neue Kredite. Die müsste man nun „Investitionen“ nennen.
In der Euro-Gruppe herrscht ohnehin schon seit langem das blanke Chaos. Erstens blickt keiner der Finanzminister mehr durch. Nun, da Yanis Varoufakis aus dem Kreis verschwunden ist, fehlt auch der letzte Hauch Sachverstand. Die Osteuropäer lehnen Vergünstigungen für Griechenland ab. Sie müssen ihren Wählern erklären, dass in der EU alle vor dem Naturgesetz der Austerität gleich seien. Die Südeuropäer wollen das griechische Desaster nutzen, um für sich selbst einen Schuldenschnitt zu verhandeln. In Frankreich sagte Marine Le Pen, der Sieg der Syriza sei ein erster Erfolg eines Volkes über die „EU-Kleptokratie“. In Spanien sagte Podemos-Chef Iglesias, nun sei die Demokratie nach Europa zurückgekehrt. In Italien sagte Beppe Grillo, dass sich alle Europäer vom Joch des Euro befreien sollen. Zu Dijsselbloem twittert ein geistreicher Journalist: "Je seltener man sich beim Namen Dijsselbloem vertippt umso schlimmer wird die Euro-Krise."
Mitten in diesem Kreis sitzt Wolfgang Schäuble und sagt nur noch das, was er immer schon gedacht hat und was die Bild-Zeitung seit Monaten zu ihrer Hass-Kampagne gegen „die Griechen“ inspiriert hat: Es liegen keine neuen Vorschläge auf dem Tisch, die Griechen müssten nun sehen, wie sie mit den Folgen klarkommen, es werde keinen Schuldenschnitt geben, Deutschland peilt die schwarze Null an.
Soviel Weltfremdheit war in Europa selten. Die Euro-Retter wiegen sich wegen der lauen Reaktion „der Märkte“ in Sicherheit. Dombrovskis sagte den verräterischen Satz, dass die EU alle Mittel habe und auch zum Einsatz bringen werde, um, falls notwendig, den Euro zu retten. Doch es bestehe keine akute Gefahr, wie die verhaltene Reaktion der Märkte gezeigt habe.
Politiker, die ihre Aktionen am „Verhalten der Märkte“ ausrichten und nicht am Wohl und Wehe ihrer Völker, haben schon verloren – die Orientierung ebenso wie ihre Legitimation. So blieb es in diesem beispiellosen Prozess der Selbstzerfleischung einem UN-Mann vorbehalten, den Euro-Rettern den Spiegel vorzuhalten. In Peking sagte der der UN-Hochkommissar für Menschrechte unterstellte UN-Schuldenbeauftragte Juan Pablo Bohoslavsky:
„Ich habe den Eindruck, dass die EU vergessen hat, dass die internationalen Menschenrechte in Finanz-Fragen eine Rolle spielen und eine Rolle spielen sollen. Die internationale Gemeinschaft misst der Verbindung von Menschenrechten und Finanzpolitik große Bedeutung zu. Die Botschaft lautet, dass alles und insbesondere die Lage der griechischen Bevölkerung leichter wäre, hätten die in die griechische Tragödie involvierten Parteien mehr Aufmerksamkeit dem gewidmet, was die Menschrechtsnormen zu sagen haben. Die Botschaft der griechischen Bevölkerung ist klar: keine weitere Austeritäts-Maßnahmen. Und wenn man sich die Zahlen ansieht, muss man feststellen, dass die Austeritäts-Maßnahmen dem Land nicht wirklich geholfen haben, sich zu erholen.“
Das muss sich die Friedensnobelpreisträgerin EU im Jahr 2015 von der UN sagen lassen. Mehr Scheitern geht kaum.