Der militärische Aufmarsch aller europäischen Großmächte - Großbritannien, Frankreich und Deutschland - sowie das bereits bestehende Engagement der USA und Russlands in Syrien führt zu einer brandgefährlichen geopolitischen Situation. Viele Akteure agieren maskiert, anonym oder durch Stellvertreter. Die Eskalation ist die Zuspitzung einer Entwicklung, die seit einige Jahren läuft - betrieben von den Militär-Strategen, den Geheimdiensten und radikalen Gruppierungen. „Wir stehen vor einem schleichenden, Dritten Weltkrieg“, sagte der frühere österreichische Vizekanzler Erhard Busek – fürwahr kein Apokalyptiker – im Herbst 2015 in einem Interview
Genau besehen, haben wir es nicht mit einem Weltkrieg zu tun, sondern mit vier verschiedenen Ebenen von Kriegen, die ineinander verzahnt sind.
Die Vernetzung der Welt hat nämlich nicht, wie erhofft, zur völligen Befreiung, zu mehr Gerechtigkeit, Gleichheit, Minderheitenschutz und Vielfalt geführt: Das Internet, einst vom Militär als neue Kommunikations-Struktur erfunden, wurde von Geheimdiensten, Konzernen, politischen Agitatoren und globalen Profit-Hengsten gekapert. Wir erleben die technologisch-industrielle Revolution von ihrer zerstörerischen Seite: Der Krieg hat sich die modernen Möglichkeiten zu Eigen gemacht. Tod durch Technologie, das scheint die Avantgarde zu sein, mit der die Revolution über den Erdball fegt.
Die erste Ebene betrifft die realen Kriege: Mit technologischen Mitteln ist es heute möglich, scheinbar „sauber“ zu töten. Über einen „Joy-Stick“ – welch obszöne Bezeichnung in diesem Zusammenhang – werden Drohnen ferngesteuert und töten. Es gibt keine Kriegserklärung. Die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Soldaten ist aufgehoben. Die Urheber der sogenannten „gezielten Tötungen“ bleiben im Dunklen. Es gibt auch keine regulären Armeen mehr: Söldner kämpfen überall, politische Sekten werden in Stellvertreter-Kriege geschickt. Die einzigen, die noch ein Gesicht haben, sind jene, die die Folgen zu tragen haben. Die Toten bleiben uns meist verborgen – es sei denn, sie werden zu Propaganda-Zwecken noch einmal missbraucht.
Die stummen Ankläger dieser realen Kriege haben jedoch ein Gesicht: Es sind die Flüchtlinge, die im Jahr 2015 zu Hunderttausenden nach Europa gekommen sind. Sie wurden vertrieben von Kriegen, deren Kriegsherren niemand kennt. Sie haben uns im behaglichen Europa aufgescheucht und lassen uns wissen, dass Krieg herrscht auf der Welt.
Der zweite Krieg ist der Finanzkrieg: Dank der globalen Vernetzung ist es möglich, Geldströme in Lichtgeschwindigkeit über den Erdball zu jagen. Viele kriegerische Phänomene, vor denen wir heute rätselnd stehen, sind lange im Voraus vorbereitet. Sie sind das Ergebnis von gezielten Angriffen auf andere Finanzsysteme. Die Regierungen der großen Staaten befehligen ganze Armeen von Finanz-Kriegern. Sie agieren unerkannt. Sie können jederzeit eine andere Regierung oder ein Unternehmen zu Fall bringen. Sie sind in Stellung gebracht, um zu manipulieren, anzugreifen oder zurückzuschlagen. Man sieht sie nicht, man hört sie nicht, man kennt sie nicht. Und doch können diese wahren Waffen der Massenvernichtung ganze Erdteile über Nacht ins Unglück stürzen.
Der dritte Krieg ist der sogenannte Cyber-Krieg: Das Internet, von den Nerds und Garagen-Gründern als neues Paradies ersehnt, ist zu Vorhölle der Zerstörung geworden. Auch hier bleiben Täter und Drahtzieher unerkannt. Mit professionellen Hackern können ganze Infrastrukturen lahmgelegt werden. Wie gefährlich und wie entwickelt diese Strukturen mittlerweile sind, zeigt die Tatsache, dass die USA und China neulich mit Verhandlungen über ein Abrüstungsabkommen begonnen haben: Man wolle sich gegenseitig darauf verständigen, dass die Zerstörung von Staudämmen, Stromanlagen, Kernkraftwerken und Verkehrseinrichtungen ausgeschlossen werden solle. Die Verhandlung der Großmächte darüber, dass sie die Zerstörung unterlassen wollen, belegt: Sie sind heute bereits zur Zerstörung in der Lage. Die Atombombe nimmt sich neben diesen Möglichkeiten der „smarten“ Kriegsführung aus wie eine Keule neben einem Jagdflugzeug.
Der vierte Krieg, der im technologischen Zeitalter tobt, ist der Propaganda-Krieg. Eigentlich bestünde heute die Möglichkeit einer ungeahnten Freiheit und Vielfalt. Doch die Wirtschaftskrise und das Erodieren des Geschäftsmodells haben viele Zeitungen in die Arme der Spin-Doctores und PR-Maschinen getrieben. Journalisten haben heute wenig Zeit und nicht selten noch weniger Fachkompetenz. Sie müssen jenen aus den Händen fressen, die nicht an Aufklärung, sondern an Irreführung interessiert sind. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten in den meisten Ländern Europas sollen die Öffentlichkeit eigentlich über das Versagen der Regierungen informieren. Doch sie werden von ebendiesen Politikern kontrolliert und finanzieren sich über Zwangsgebühren. Das kann nicht funktionieren.
So werden auch die Medien in die Propagandakriege hineingezogen, die die realen Kriege, die Finanzkriege und die Cyber-Kriege orchestrieren müssen. Deren Mittel sind unerschöpflich. Und deren Skrupellosigkeit ist universal.
Kriege werden nie aus ethischen Gründen angezettelt. Und im Verlaufe von Kriegen haben sich immer alle Parteien Verbrechen zuschulden kommen lassen. Natürlich gibt es Abstufungen: Die Shoa, also die rational geplante und technisch-industriell exekutierte Ermordung von sechs Millionen Juden in Europa sowie die mit derselben eiskalten Präzision erfolgte Ermordung von Sinti und Roma, Homosexuellen, Behinderten und anderen Minderheiten sind ein in der Menschheitsgeschichte einmaliges Ereignis. Die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer willigen Helfer haben dazu geführt, dass mit dem Ruf „Nie wieder Krieg!“ Europa eine ungewöhnlich lange Epoche des Friedens und des Wohlstands geschenkt war.
Doch die apokalyptischen Reiter sind nicht verschwunden. Sie haben nur ihre Taktik geändert. Heute, ein halbes Jahrhundert später, scheint diese goldene Epoche an ihr Ende gekommen zu sein: Alle Staaten sind im Zug der technisch-industriellen Revolution aufgeschreckt oder im Aufbruch. Sie nutzen die neuen Möglichkeiten, um die Lage zu testen, um Nadelstiche zu setzen oder wirklich neue Fakten zu schaffen. In den vergangenen Jahren haben sich auch die Realitäten auf der Welt verändert. Fast alle Staaten haben grundlegende Probleme, die sie zum Handeln zwingen. Für viele ist die Flucht nach vorne das Mittel der Stunde, also der Krieg. Die neuen Technologien versetzen die Staaten in die Lage, mit gewalttätigen Aktionen von ihren inneren Problemen abzulenken. Sie suchen die Solidarität der eigenen Bürger mit neuen Feindbildern.
Der Krieg um Syrien vereint all diese Formen der modernen Kriegsführung. Es ist nicht ausgemacht, dass er wirklich eskaliert. Der Abschuss einer russischen Maschine durch die Türkei führt uns jedoch vor Augen, wie schnell die Lage eskalieren kann. Man muss realistische sagen: Wenn nicht in Syrien, dann werden die globalen Feindseligkeiten eben anderswo ausgtragen.
Die globale Überschuldung, das demographische Ungleichgewicht, die technologische Revolution und ihre Einsatzmöglichkeiten sowie die steigende Ungleichheit im Hinblick auf die Vermögensverhältnisse wirken im Zeitalter der Globalisierung wie Brandbeschleuniger: Es ist durchaus denkbar, dass wir uns bereits mitten in einem modernen, 30-jährigen Krieg befinden. Eskaliert er weiter, werden die Generationen nach uns, wie im historischen 30-jährigen Krieg, eine verbrannte Erde vorfinden.
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Dieser Text ist ein aktualisierter Auszug aus dem neuen Buch von DWN-Herausgeber Michael Maier. Er analysiert in dem Buch die Folgen der modernen Kriege für Deutschland und Europa. Das Wesen dieser Kriege ist die Anonymität: Niemand weiß mehr, wer ist der Feind, wer ist der Freund. Die Angst wird zum globalen Lebensgefühl und schafft damit die idealen Voraussetzungen für Gewalt, Repression und Totalitarismus. Es gibt keine Inseln der Seligen mehr.
Michael Maier: „Das Ende der Behaglichkeit. Wie die modernen Kriege Deutschland und Europa verändern“. FinanzBuch Verlag München, 228 Seiten, 19,99€.
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