Politik

Chaos droht: Argentinien vor dem nächsten Staatsbankrott

In Argentinien protestieren die Bürger angesichts steigender Preise und der rigorosen Sparpolitik der Regierung. Um internationale Gläubiger zu beruhigen, hat Argentinien weitreichende Einschnitte der Sozialleistungen verabschiedet. Die Inflation ist auf einem Rekordhoch. Das südamerikanische Land steuert auf den nächsten Staatsbankrott zu.
Autor
avtor
03.08.2022 09:23
Aktualisiert: 03.08.2022 09:23
Lesezeit: 4 min

Die Protestwelle in Argentinien reißt nicht ab. Seit nun mehr 90 Tagen gehen die Bürger in der Hauptstadt Buenos Aires auf die Straße, um gegen Preissteigerungen und die umfangreichen Kürzungen in Sozialprogrammen durch Argentiniens Mitte-Links-Bündnis zu demonstrieren. Das südamerikanische Land durchlebt derzeit eine schwere Wirtschaftskrise und politische Grabenkämpfe. Die argentinische Regierung reagiert derweil auf die grassierenden Probleme des Landes mit demselben Rezept: Mehr Staat, mehr Kontrolle und mehr Protektionismus. Preise für Hunderte Produkte wurden eingefroren und Einfuhrbeschränkungen für viele ausländische Waren beschlossen.

Nach einem Bericht des Wall Street Journal berief der argentinische Präsident Alberto Fernández den dritten Wirtschaftsminister in nur einem Monat. Sergio Massa, derzeit Präsident des Unterhauses des Kongresses, wird das Amt des Wirtschaftsministers übernehmen. Der Präsident übertrug Massa auch die Kontrolle über die Landwirtschafts- und Produktionspolitik und schuf damit ein Ministerium, das von argentinischen Analysten als „Superministerium“ bezeichnet wird, da dort alle wichtigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen zusammenlaufen.

Hohe Arbeitslosigkeit und harter Sparkurs treiben Bürger auf die Straße

Die Probleme Argentiniens sind vielfältig und tiefgreifend. Laut offiziellen Angaben der Regierung hatten im ersten Quartal 2022 nur 43 Prozent der Bevölkerung eine feste Arbeit. Viele Menschen arbeiten in der Schattenwirtschaft in prekären Verhältnissen. In den letzten Jahren sind Schätzungen zufolge rund 4,5 Millionen Menschen in die Armut abgerutscht. Die Armutsquote ist von 35 Prozent vor der Pandemie auf 45 Prozent gestiegen. Hinzu kommt der anhaltende Abbau des Sozialstaats, der von internationalen Gläubigern wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vorangetrieben wird und den Frust der Bürger weiter anheizt.

Der Wohlfahrtsstaat war in den letzten 20 Jahren stark angewachsen und schätzungsweise 22 Millionen Argentinier sind inzwischen von irgendeiner Form staatlicher Unterstützung abhängig. Argentinien gibt umgerechnet mehr als 6 Millionen US-Dollar pro Tag für Sozialleistungen aus. Die staatlich finanzierten Programme erstrecken sich auf nahezu jeden Aspekt der Wirtschaft, von den Löhnen bis hin zu Versorgungsleistungen, Bildung und Gesundheitsfürsorge.

In den letzten Monaten wurden etliche dieser Förderprogramme gestrichen, etwa Unterstützungszahlungen für Energie. Das trifft die Bevölkerung insofern besonders hart, da es bereits seit Monaten eine Energieknappheit im Land gibt, die bereits zu sozialen Unruhen geführt hat. Der Mangel an Kraftstoff bedroht im Land sogar die Lebensmittelversorgung, da Bauern angesichts der hohen Preise zu Streiks aufgerufen haben. Ironischerweise ist Argentinien ein rohstoffreiches Land, dass auf großen Schiefergasvorkommen sitzt und traditionell zu den größten Lebensmittelexporteuren der Welt zählt. Nun droht dem Land Lebensmittelknappheit und die Rationierung von Treibstoff.

Argentiniens Inflationsrate erreicht bedrohliches Niveau

Finanziert wurden die Sozialleistungen des Landes größtenteils durch Schulden. Allerdings ist Argentinien seit seinem Zahlungsausfall im Jahr 2020 von den internationalen Finanzmärkten weitestgehend abgeschnitten. Die Regierung finanziert sich stattdessen durch Gelddrucken und inländische Anleihen, die an die Inflation gebunden sind und mit immer höheren Zinssätzen verzinst werden.

Der IWF hat dem Land 2019 einen Kredit in Höhe von 55 Milliarden Dollar gewährt, von denen bisher 44 Milliarden ausgezahlt wurden. Anfang des Jahres wäre der Kredit beinahe geplatzt, nachdem Argentinien eine geplante Tilgungsrate nicht bedienen konnte. Der damalige Wirtschaftsminister Martin Guzman hatte daraufhin einen neuen Restrukturierung der Schulden mit dem IWF ausgehandelt, der unter anderem die umfangreichen Kürzungen der Sozialleistungen zur Bedingung hatte. Nur drei Monate nach der Restrukturierung legte Guzman das Amt des Wirtschaftsministers nieder.

Die lockere Geldpolitik Argentiniens treibt unterdessen die Inflation in die Höhe. Die Inflationsrate Argentiniens lag in den letzten 12 Monaten bei 64 Prozent. Analysten prognostizieren, dass die Inflation aufs gesamte Jahr bei 90 Prozent liegen könnte. „Das Risiko einer Beschleunigung des Tempos, in dem sich die argentinische Wirtschaft verschlechtert, ist erheblich“, zitiert die Financial Times einen Analysten der Citibank.

Eine weitere Bedingung des IWF für eine Fortführung des Milliardenkredits war es daher, dass die Leitzinsen über der jährlichen Inflationsrate liegen. Dementsprechend reagierte die Zentralbank des Landes jüngst auf die steigende Inflation mit der größten Leitzinsanhebung seit drei Jahren. Laut Bloomberg hob sie den Leitzins um 800 Basispunkte auf 60 Prozent an, um den steigenden Preisen etwas entgegenzusetzen. Zudem hat das argentinische Finanzministerium den Zinssatz für die kurzfristigen inländischen Anleihen, die die Obergrenze für den geldpolitischen Zinssatz bildet, um 600 Basispunkte erhöht. Die Regierung will damit erreichen, dass die Anleihen den Anlegern höhere Zinsen bieten, um das Gelddrucken der Zentralbank zu reduzieren.

Bürger versorgen sich auf dem Schwarzmarkt mit harter Währung

Ob die Rechnung aufgeht, ist angesichts weiter steigender Preise zweifelhaft. Die Preise in den Lebensmittelgeschäften ändern sich jede Woche, berichtet Al Jazeera. Die Verkäufer von Baumaterialien würden die Käufer davor warnen, dass sie möglicherweise nicht in der Lage sind, ein Angebot für mehr als ein paar Tage einzuhalten, da einige Hersteller gezwungen wären, die Produktion ganz einzustellen. Hinzu kommen Einfuhrbeschränkungen, die die schwindenden Devisenreserven der Regierung schützen sollen, allerdings vor allem die Angst vor künftigen Engpässen schüren. Trotz weltweit hoher Rohstoffpreise belaufen sich die argentinischen Devisenreserven auf gerade einmal 2,4 Milliarden Dollar.

„Wir befinden uns in einer sehr kritischen Zeit“, zitiert Al-Jazeera Silvia Saravia, Leiterin einer der sozialen Organisation, die Suppenküchen in den einkommensschwachen Vierteln in Buenos Aires betreibt. „Wir wissen nicht, wie hoch die Preise noch steigen werden. Und weil die Einkünfte so unbeständig sind und mehr als 50 Prozent der Menschen in der Schattenwirtschaft arbeiten, kann jemand, der einen Gelegenheitsjob hat, nicht arbeiten, wenn es regnet, und verdient daher kein Geld. Das erzeugt eine Menge Ärger und zehrt an den Nerven.“

Die Argentinier beobachten zudem, wie der Straßenwert des US-Dollars im Verhältnis zu ihrer schwachen Währung steigt. Deshalb heben sie weiterhin ihre Guthaben von den Konten ab, um sie illegal auf dem Schwarzmarkt gegen Dollar zu tauschen, denn offiziell dürfen die Bürger des Landes nur 200 Dollar pro Monat kaufen. Laut Financial Times wurde ein US-Dollar vergangene Woche auf den Straßen von Buenos Aires gegen 337 argentinische Pesos eingetauscht – ein Anstieg von 15 Prozent in nur einer Woche. Damit weitet sich die Kluft zwischen dem Schwarzmarkt-Dollar und dem künstlich kontrollierten offiziellen Kurs auf mehr als 150 Prozent aus. Zuletzt wurde dieses Niveau während der argentinischen Hyperinflation 1990 erreicht.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Technologie
Technologie Erkennen Sie schnell instabile Li-Ion-Batterien

Brady Corporation bietet eine neue, kostengünstigere Lösung an, um instabile Li-Ion-Batterien im Lager schnell und einfach zu erkennen....

avtor1
André Jasch

                                                                            ***

André Jasch ist freier Wirtschafts- und Finanzjournalist und lebt in Berlin.  

DWN
Technologie
Technologie Windkraft Deutschland: Windräder der Schande - tatsächlich?
26.01.2025

Windkraft, insbesondere in den USA und Deutschland, wird von Populisten infrage gestellt. AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel sagte, eine...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Warntag der Wirtschaft funkt SOS: Unternehmer demonstrieren am 29.01.2025 gegen die deutsche Wirtschaftspolitik
25.01.2025

Kurz vor der Bundestagswahl demonstrieren rund 100 Verbände am „Wirtschafts-Warntag“ kommenden Mittwoch (29.01.2025) vor dem...

DWN
Politik
Politik Neue Regierung erbt Probleme: Haushalt, Energiekosten, Wirtschaft und Verteidigung
25.01.2025

Die gescheiterte Ampel-Koalition hinterlässt der neuen Bundesregierung zahlreiche Herausforderungen. Welche Themen nach der Wahl am 23....

DWN
Politik
Politik Trump gegen BRICS: Strafzölle, Indiens Annäherung an China und die neue Weltordnung
25.01.2025

Bereits Wochen vor seiner Rückkehr ins Weiße Haus richtete der designierte US-Präsident Donald Trump eine deutliche Warnung an die...

DWN
Politik
Politik Erbschaftsteuer erhöhen oder senken? Das „Wahlkampfgetöse“ der Parteien beginnt!
25.01.2025

Erben sollen von der Erbschaftsteuer befreit werden, auch wenn sie das Familienheim nicht selbst bewohnen – sondern vermieten. Das ist...

DWN
Politik
Politik Fünf-Prozent-Hürde: Wie BSW, Linke und FDP um den Einzug kämpfen
25.01.2025

Die Fünf-Prozent-Hürde stellt kleine Parteien wie BSW, Linke und FDP vor große Herausforderungen. Mit Umfragewerten zwischen 3 und 5...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Wirtschaftskrise Deutschland: 6 Branchen, die sich 2025 in Deutschland besonders warm anziehen müssen
25.01.2025

Handelskonflikte, Bürokratie und Energiekosten - 6 Branchen zittern vor dem Wirtschaftsjahr 2025 besonders. Sie haben mit massiven...

DWN
Finanzen
Finanzen Krypto-Steuererklärung: Wie Sie Gewinne aus Bitcoins, Ripple und Co. versteuern - und wann Krypto steuerfrei sind
25.01.2025

Immer mehr Menschen kaufen Kryptowährungen. In den vergangenen Wochen haben viele Anleger damit viel Geld gemacht - und fragen sich jetzt,...