Wie Europa die Zukunft der Wissenschaft zwischen geopolitischen Spannungen sieht
Lidia Borrell-Damián, Generalsekretärin von „Science Europe“, sagt im Gespräch mit unseren litauischen Kollegen vom Wirtschaftsportal Verslo Zinios, dass die Wissenschaftsgemeinschaft heute in einem äußerst angespannten geopolitischen Umfeld arbeitet. Politische Kurswechsel in den USA und Einschränkungen beim Datenzugang gefährden aus ihrer Sicht die Arbeit von Forschenden real. Deshalb sei es jetzt wichtiger denn je, technologische Unabhängigkeit von den USA und Asien zu erreichen
Deutsche Wirtschaftsnachrichtne (DWN): Frau Borrell-Damián, Sie bezeichnen Künstliche Intelligenz als Schlüsseltechnologie. Warum ist sie für „Science Europe“ so zentral?
Borrell-Damián: Künstliche Intelligenz spielt heute in nahezu allen Forschungsbereichen eine Rolle. Sie hilft, neue Themen zu identifizieren, Forschungsanträge zu formulieren, Projekte zu bewerten und Ergebnisse zu interpretieren. In Laboren unterstützt sie Analysen, Publikationen und die Datenaufbereitung. Sie begleitet inzwischen jeden Schritt des wissenschaftlichen Prozesses. Wir müssen aber besser verstehen, auf welcher Ebene KI wirklich nützlich ist – und wo der Mensch unersetzlich bleibt. Sonst riskieren wir, dass KI zu mächtig wird und sich verselbstständigt.
DWN: Sie betrachten KI also nicht als eigenes Fachgebiet, sondern als Werkzeug für alle Wissenschaften?
Borrell-Damián: Genau. KI kann in Biotechnologie, Medizin, Physik oder Sozialwissenschaften eingesetzt werden – sie ist eine Querschnittstechnologie. Ich erinnere mich an eine Konferenz in Italien über Religionsforschung. Dort nutzen Wissenschaftler KI, um in alten, beschädigten Manuskripten unsichtbare Textschichten zu erkennen. Das zeigt, dass KI nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern auch für die Geisteswissenschaften von großer Bedeutung ist.
DWN: Sie haben gesagt, KI könne in gewisser Weise ein Forschungspartner sein. Wie ist das gemeint?
Borrell-Damián: KI ist so leistungsfähig, dass sie riesige Datenmengen in kürzester Zeit verarbeiten kann. Sie kann Auffälligkeiten erkennen, fehlende Daten identifizieren oder Muster sichtbar machen, die ein Mensch nie bemerken würde. In diesem Sinne kann sie wie ein zusätzlicher Forscher agieren. Gleichzeitig liegt hier die größte Gefahr: KI kann nur auf Grundlage der Daten arbeiten, die man ihr gibt. Wenn diese Daten fehlerhaft oder voreingenommen sind, produziert sie ebenfalls verzerrte Ergebnisse. Die Datenqualität ist daher entscheidend.
DWN: Welche anderen Forschungsfelder erscheinen Ihnen derzeit besonders vielversprechend?
Borrell-Damián: Neben der Künstlichen Intelligenz sehe ich enormes Potenzial in der Quantenphysik und den Biowissenschaften. Die Quantenforschung ist die Quelle vieler anderer Technologien. Deshalb fließen dort erhebliche Investitionen. Aber keine Technologie darf sich losgelöst von der Gesellschaft entwickeln. Wir müssen verstehen, wie Menschen mit Technologie interagieren. Dafür brauchen wir Philosophie, Soziologie und Geisteswissenschaften. Die technologische Entwicklung kann nur nachhaltig sein, wenn sie gesellschaftlich verstanden und akzeptiert wird.
DWN: Wie wirkt sich der aktuelle geopolitische Kontext auf die Arbeit der Wissenschaft aus – insbesondere die Spannungen zwischen Europa und den USA?
Borrell-Damián: Er wirkt sich massiv aus. Viele Datenbanken in den USA sind inzwischen gesperrt. Forschende haben den Zugang zu Millionen von Datensätzen verloren, die in US-Agenturen oder Universitäten gespeichert waren. Die Regierung von Präsident Trump hat den Zugang zu diesen Infrastrukturen aus politischen Gründen blockiert. Das war ein großer Schlag, besonders für Bereiche wie Gesundheitsforschung oder Klimastudien.
Ähnliches geschah mit Russland. Nach Beginn der großangelegten Invasion in die Ukraine 2022 haben die EU-Staaten ihre wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Russland beendet, und Russland reagierte mit Gegenmaßnahmen. Dadurch gingen auch wichtige arktische Klimadaten verloren – Daten über Gletscherschmelze, die für den Klimawandel zentral sind.
DWN: Europa versucht, Forschende aus den USA anzuziehen. Funktioniert das?
Borrell-Damián: Noch ist es zu früh, das zu beurteilen. Die Budgetkürzungen und Entlassungen in den USA begannen erst in diesem Jahr. Migration ist ein komplexer Prozess – sie betrifft ganze Familien. Es dauert, bis Menschen eine solche Entscheidung treffen. Wir werden frühestens im nächsten Jahr erkennen, ob Programme zur Talentgewinnung Wirkung zeigen. Vielleicht bringt diese Situation auch einige europäische Forscher zurück nach Hause.
DWN: Und was ist mit globalen Projekten wie der grünen Transformation? Wird die Forschung darunter leiden, wenn internationale Kooperationen schwächer werden?
Borrell-Damián: Der Klimawandel ist die größte Herausforderung der Menschheit. Er betrifft alles – Wasser, Energie, Städte, Lebensqualität. Wir erleben bereits Stürme, Brände und extreme Wetterereignisse. Politische Blockaden beim Klimaschutz sind unverantwortlich. Wer heute keine vorbeugenden Maßnahmen ergreift, wird morgen mit irreparablen Schäden konfrontiert sein.
DWN: Wie sollte Europa auf die US-Politik reagieren, die auf schnelle, aber umweltschädlichere Produktion setzt?
Borrell-Damián: Wir können nicht ändern, was wir nicht ändern können. Wir können Donald Trump nicht ändern. Aber wir können entscheiden, wie Europa handelt. Wir müssen auf unsere eigene Stärke bauen, gemeinsam mit Europa und für Europa handeln. Nur so können wir uns an die neue Realität anpassen.
DWN: Europa sollte also nicht einfach warten, bis Trumps Amtszeit endet?
Borrell-Damián: Nein. Im Gegenteil: Seine Politik hat auch einen positiven Nebeneffekt. Europa hat erkannt, dass es technologisch eigenständig werden muss. Wir müssen für unsere digitale und technologische Souveränität sorgen, sogar bei sozialen Netzwerken und IT-Infrastrukturen. Wir haben uns zu lange auf amerikanische Technologien verlassen.
Fast jede öffentliche Einrichtung arbeitet mit Microsoft-Produkten. Theoretisch könnte man uns den Zugang von einem Tag auf den anderen sperren. Wir müssen Alternativen entwickeln. Das ist möglich. Es gibt bereits viele Open-Source- und europäische Lösungen. Was fehlt, sind Investitionen und klare politische Rahmenbedingungen. Öffentliche Institutionen sollten verpflichtet oder zumindest motiviert werden, europäische Software zu nutzen.
DWN: Bedeutet das, Sie fordern gesetzliche Vorgaben zur Nutzung europäischer Technologien?
Borrell-Damián: Ich würde eher von Anreizen als von Zwang sprechen. Ein solcher Mechanismus würde Innovation fördern und den Aufbau eigener Werkzeuge beschleunigen. Wir müssen verstehen, dass wir die Verantwortung für unsere Zukunft selbst tragen. Wenn wir eine sicherere, unabhängige und offene digitale Welt wollen, müssen wir sie selbst gestalten.
DWN: Wie sehen Sie die Beziehungen zwischen Europa und China in der Forschung?
Borrell-Damián: Viele unserer Mitglieder arbeiten mit chinesischen Forschern zusammen, vor allem in der Quantenforschung. Kooperation ist aber nur dann sinnvoll, wenn sie auf Gegenseitigkeit beruht. In China entscheidet die Regierung, welche Daten geteilt werden dürfen. Das schafft ein Ungleichgewicht. Wir haben das klar angesprochen. China hat zwar seine Gesetze angepasst, aber der neue Rahmen bleibt vage. Forschende müssen sich der Risiken bewusst sein.
DWN: Sollte Europa die Zusammenarbeit mit China beenden?
Borrell-Damián: Nein. Europa darf sich nicht abschotten. Besser ist es, Risiken aktiv zu managen, anstatt alle Türen zu schließen. Gleichzeitig sollten wir Kooperationen mit anderen asiatischen Ländern ausbauen, etwa mit Japan, Südkorea, Taiwan oder Vietnam. Diese Staaten wollen enger in europäische Forschungsprogramme wie „Horizon Europe“ eingebunden werden. Das schafft neue Perspektiven.
DWN: Welche strukturellen Herausforderungen sehen Sie in der europäischen Wissenschaftslandschaft?
Borrell-Damián: Europa ist stark fragmentiert. Einige Länder investieren bis zu vier Prozent ihres BIP in Forschung, andere weniger als ein halbes. Diese Ungleichheit schwächt den gesamten Kontinent. Wir müssen Mobilität fördern – als beidseitigen Austausch, nicht als Abwanderung. Programme wie „Marie Curie“ zeigen, dass Rückkehr und Wissensaustausch möglich sind. Wer ins Ausland geht und zurückkehrt, bringt neue Netzwerke und Erfahrung mit. Das stärkt Europa langfristig.
DWN: Was bedeutet das für Deutschland und die EU insgesamt?
Borrell-Damián: Deutschland und Europa müssen technologische Souveränität als strategisches Ziel begreifen. Daten, Standards und Infrastrukturen müssen in Europa kontrolliert werden. Forschung darf nicht davon abhängen, ob ein Server in Washington, Moskau oder Peking eingeschaltet bleibt. Nur wer seine digitale Basis selbst sichert, bleibt handlungsfähig – wissenschaftlich und politisch.
Souveränität beginnt bei Daten, Standards und Infrastruktur
Für Deutschland und die EU wird Technologische Souveränität zur sicherheitspolitischen Aufgabe. Blockierter Datenzugang in den USA und Russland, restriktive Datenteilung in China und ein zunehmend fragmentiertes digitales Ökosystem erhöhen Europas Verwundbarkeit. Berlin muss den Aufbau europäischer Cloud-, Daten- und KI-Infrastrukturen beschleunigen, Beschaffungsregeln zugunsten europäischer Software und Hardware anpassen und Forschungsdaten in europäischen Rechenzentren sichern. Parallel braucht es echte Diversifizierung in Asien. Kooperation mit Japan, Südkorea, Taiwan und Vietnam kann Abhängigkeiten reduzieren. Ohne eigene Systeme bleibt Deutschland in Krisen auf externe Schalter angewiesen.
Die Botschaft von „Science Europe“ ist eindeutig. Europa kann Trump nicht ändern. Europa kann jedoch seine Technologische Souveränität stärken. Wer Daten, Standards und Infrastrukturen kontrolliert, kontrolliert die Zukunft der Forschung. Investitionen in Technologie und Gesellschaft sind gleichermaßen nötig. Kooperation bleibt wichtig. Risikomanagement wird zur Pflicht.
***
Science Europe ist eine Organisation, die 40 nationale und regionale Forschungsräte und Forschungsorganisationen aus 30 europäischen Ländern vereint. Zusammen besitzen sie ein Vermögen von etwa 36 Milliarden US-Dollar. Dies sind öffentliche Mittel für die Wissenschaft. Diese Vereinigung vertritt Institutionen, die wissenschaftliche Politik gestalten, die wissenschaftliche Forschung finanzieren oder die fortschrittlichste Forschung betreiben.

