Politik

Erfindung des Euro: Kohl ignorierte die deutlichen Warnungen der Bundesbank

Lesezeit: 6 min
03.11.2014 00:09
Helmut Kohl beschreibt sich in seinem neuen Buch als weiser Staatsmann, dessen unfähige Erben Fehler in der Euro-Politik gemacht hätten. Doch die Fakten zeigen: Kohl ignorierte fahrlässig die unmissverständlichen Warnungen der Bundesbank. Bis zum heutigen Tag haben CDU und SPD die fatalen Fehler nicht korrigiert. So wird die Geschichtsklitterung zur Grundlage für eine Politik, die auf die Analyse verzichtet und auf den blanken Machterhalt setzt.

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Helmut Kohl meldet sich wieder einmal zu Wort, um ein weiteres Mal seinem verbissenen Dauergroll über alle seine Nachfolger und viele seiner politischen Wegfährten Ausdruck zu geben. Nun versucht er, Gerhard Schröder die Schuld für die Eurokrise zuzuweisen und sich gleichzeitig von seiner eigenen schweren Verantwortung reinzuwaschen. In seinem neuen Buch kreidet Kohl der Nachfolgeregierung zwei schwere Fehler an: Sie habe Griechenland zu früh in die Eurozone aufgenommen und den Euro-Stabilitätspakt aufgeweicht:

„Beide Entscheidungen gehören zu den wesentlichen Fehlentwicklungen, die wir in der EU, im Euroraum, in einzelnen Mitgliedstaaten und darüber hinaus insgesamt erleben müssen und zu Recht beklagen. Was hier passiert ist, ist wirklich ein Schandstück deutscher Politik und zugleich ein Verrat an der engen deutsch-französischen Zusammenarbeit, die sich - wie hier geschehen - niemals gegen den Stabilitätspakt hätte wenden dürfen. Als Bundeskanzler hätte ich keine Zustimmung gegeben, Griechenland von Anfang an in den Euroraum aufzunehmen. Das Land hat sich schon damals in einer Situation befunden, die jedem, der genauer hinsah, nicht verborgen geblieben sein konnte, und an Warnungen hat es auch nicht gefehlt.“

Kohl weist gleichzeitig jede Kritik an seiner eigenen Rolle bei der Einführung des Euro zurück. Konstruktionsfehler beim Euro oder beim Bau Europas hätten nicht zur Schuldenkrise geführt. Er sei vielmehr froh darüber, „den Euro als feste Klammer für Europa zu haben“. Die mit dem Euro verbundenen Hoffnungen für eine tiefere europäische Zusammenarbeit würden sich erfüllen.

Kohl hat offensichtlich ein sehr kurzes Gedächtnis, was seine eigene Regierungszeit betrifft oder setzt bei den Lesern seines Buches auf ein solches. Schließlich ist er schon seit 16 Jahren nicht mehr im Amt. Dabei sind die eigentlichen Fehler, die später entscheidend zur Eurokrise führten schon gleich am Anfang zu Kohls Regierungszeiten gemacht worden. Das Zusammenferchen von Ländern mit sehr unterschiedlichen Wirtschafts- und Sozialkulturen und dabei vor allem die Aufnahme des hochverschuldeten Italiens waren die Hauptfehler. Danach war das Schicksal dieser Kunstwährung weitgehend und unwiderruflich besiegelt. Der Euro war von Beginn an eine Währung, die auf jede Unruhe an den Kreditmärkten mit einer eigenen schweren Krise reagieren würde. So dauert die Eurokrise ohne größere Hoffnungen auf rasche Besserung an, obwohl im Rest der Welt die Weltkreditkrise bereits weitgehend überwunden wurde.

Schon die Einführung des Euro war in Deutschland sehr umstritten. Mehrheiten hingen aus guten Gründen an der guten alten DM. Doch Kohl scherte sich nicht darum. In einem Interview vom März 2002 sagte Kohl später: In einem Fall [Einführung des Euro] war ich wie ein Diktator. Ihm sei klar gewesen, dass das Durchsetzen des Euro Wählerstimmen kosten werde.

Warnungen aus berufenem Munde gab es genug. Viele der Europartner und selbst Frankreich hatten vorher über längere Phasen eine viel größere Inflation als Deutschland gehabt. In einem Buchbeitrag „D-Mark kontra Eurogeld“ zitierte Rudolf Augstein den ehemaligen Wirtschaftsminister Karl Schiller mit dessen Voraussage großer deutscher Transferzahlungen:

„Mit der zentralbestimmten europäischen Geldmenge werden das Preisniveau und die Wirtschaftsaktivität in jedem Mitgliedsland bestimmt. Aber wir wissen um die großen Unterschiede in der Wirtschaftsaktivität und im Wirtschaftsniveau der einzelnen Mitgliedstaaten. Bei gleicher Währung wird die Wechselkursillusion zwischen ihnen entfallen. Löhne und Sozialleistungen der ärmeren Länder werden zur Aufholjagd ansetzen, große Transferzahlungen (jetzt schon beschlossene Kohäsionsfonds) zwischen reichen und armen Ländern werden sofort fällig.“

In ihrer Stellungnahme zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion vom April 1998 erklärte die Bundesbank warnend mit Worten, die Kohl heute laut in den Ohren klingen und die Schamesröte ins Gesicht treiben sollten (hier Auszüge):

„Der Eintritt in die dritte Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ist ein Vorgang von großer wirtschaftlicher und politischer Tragweite. Die teilnehmenden Volkswirtschaften werden so im Währungsbereich auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden. Für den Gesamterfolg der angestrebten Wirtschafts- und Währungsunion wird es von zentraler Bedeutung sein, dass bei den 1996 beziehungsweise 1998 anstehenden Gemeinschaftsentscheidungen über die Auswahl der für die Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion in Frage kommenden Länder allein auf deren stabilitätspolitische Leistungsfähigkeit abgestellt wird.

Ein zentraler Punkt bei der Urteilsfindung ist die Nachhaltigkeit der Konvergenz. Wenn den Anforderungen lediglich beim Eintritt in die Endstufe der Währungsunion Genüge getan wird oder gar Anpassungsmaßnahmen mit Umkehreffekten in zukünftigen Perioden durchgeführt werden, reicht dies nicht aus. Ökonomisch bedeutet die Währungsunion den Übergang zu einer gemeinsamen Geld- und Währungspolitik, die der Preisstabilität verpflichtet ist. Mit der unwiderruflichen Festlegung der Wechselkurse innerhalb der Währungsunion verzichten die Teilnehmer dauerhaft auf einen ökonomischen Ausgleichsmechanismus. Mit der Währungsunion gehen darüber hinaus insofern Restriktionen einher, als die bislang teilweise unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Traditionen folgenden Mitgliedstaaten sich dauerhaft und unter Zurückstellung nationaler Interessen in den neuen supranationalen Rahmen einfügen müssen.

Die dauerhafte Disziplinierung der Finanzpolitik der Mitgliedstaaten ist eine sehr komplexe und außerordentlich schwierige Aufgabe. Zur ordnungspolitischen Basis der Währungsunion gehört, dass kein Mitgliedstaat mehr eine überhöhte Verschuldung im Vertrauen darauf riskieren kann, dass er sich daraus notfalls mit einer nationalen inflatorischen Politik befreien kann. In den letzten Jahren ist es speziell in Griechenland und Italien, teilweise aber auch in Portugal zu einem kräftigen Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Arbeitskosten gekommen. Im Hinblick auf das Kriterium einer auf Dauer tragbaren Finanzlage der öffentlichen Hand ergibt sich bei den Mitgliedstaaten ein recht unterschiedliches Bild. Drei Mitgliedstaaten, Dänemark, Irland und Luxemburg haben im Jahr 1997 in ihren öffentlichen Haushalten Überschüsse erzielt; elf Mitgliedstaaten verzeichneten Defizite, die den Referenzwert für die Defizitquote von 3% des BIP eingehalten beziehungsweise unterschritten haben. Allerdings war der Abstand zum Grenzwert zumeist recht knapp und wurde in den meisten Fällen erst 1997 erreicht. Der starke Rückgang der Haushaltsdefizite im Jahr 1997 ist teilweise auch auf Einmalmaßnahmen zurückzuführen. Für die absehbaren Zukunftsbelastungen wurde außerdem noch nicht überall hinreichend Vorsorge getroffen. Die meisten Mitgliedstaaten sind bislang nicht ausreichend auf die künftigen Verpflichtungen aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt eingestellt.

Die Währungsunion ist ein historisch einzigartiges Projekt. Sie darf auch im weiteren Verlauf nicht scheitern. Die ökonomischen Grundlagen müssen sowohl beim Eintritt in die Währungsunion stimmen als auch auf die Dauer tragfähig sein. Der Eintritt in die Währungsunion hat beträchtliche ökonomische Konsequenzen, die bei der Entscheidung sorgfältig bedacht werden müssen. Die Auswahl der Teilnehmer bleibt letztlich jedoch eine politische Entscheidung.“

Am 3. Mai 1998 kam es noch zu Kohls Zeiten als Bundeskanzler zu der folgenschwersten Entscheidung über die Staaten, die dem Euro beitreten durften. Der Andrang der stark verschuldeten Länder, wie vor allem Italiens, war stark, da sie sich von dem Beitritt und schon der Perspektive darauf eine erhebliche Absenkung der an den Finanzmärkten für ihre Staatsanleihen zu entrichtenden Zinsen und damit eine Absenkung ihrer Schuldenlast, versprechen konnten. Die italienische Staatsverschuldung hatte 1995 noch bei fast 122 % der jährlichen Wirtschaftsleistung gelegen und lag zum Zeitpunkt der Buchgeld Einführung des Euro am 1. Januar 1999 noch bei 115 % und damit weit über dem oberen Maastricht-Grenzwert von 60 % (siehe Grafik).

Das italienische Haushaltsdefizit sank nur dank des künstlichen Effekts der Zinsabsenkung und einer einmaligen Sondersteuer von 3,1 % in 1998 unter die magische Maastrichtgrenze von 3 % des BIP. Schon dass das italienische Haushaltsdefizit aus größter Höhe in so kurzer Zeit und pünktlich zum Eurobeitritt heruntergeholt wurde, hätte jedermann stutzig machen müssen. Kohl lagen dazu weitere ernste Warnungen vor, wie nach einem SPIEGEL-Bericht aus bislang unter Verschluss gehaltenen Akten aus den Jahren 1994 bis 1998 hervorgeht. So warnte die deutsche Botschaft in Rom. Noch im Januar 1998 hatte der außenpolitische Berater des Kanzlers, Joachim Bitterlich, in einem Vermerk darauf hingewiesen, dass die Defizitreduzierung Italiens vor allem auf außergewöhnliche Effekte, wie die Sondersteuer für Europa und im internationalen Vergleich überproportional gesunkene Marktzinsen, zurückzuführen sei.

Ebenfalls im Januar 1998 notierte der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Jürgen Stark, anlässlich eines Treffens mit einer italienischen Regierungsdelegation: Die „Dauerhaftigkeit solider öffentlicher Finanzen ist noch nicht gewährleistet“. Nach einer Besprechung des Kanzlers mit Finanzminister Theo Waigel und Bundesbankchef Hans Tietmeyer über das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht hielt der damalige Wirtschafts-Abteilungsleiter im Kanzleramt, Sighart Nehring, fest: „Mit den hohen Schuldenständen Italiens sind enorme Risiken verbunden. Die Schuldenstruktur des Defizits ist ungünstig, schon bei geringem Zinsanstieg würden die entsprechenden Ausgaben deutlich steigen.“

Die eigentliche und von der Größenordnung weit gefährlichere Entscheidung war also nicht die Aufnahme Griechenlands unter Schröder sondern die Italiens unter Kohl. Eine Pleite Griechenlands kann die Eurozone allemal verkraften eine solche Italiens oder seiner Banken dagegen nicht mehr.

Doch Kohl ließ sich nicht beirren. Er hatte sehr wenig wirtschaftlichen Sachverstand und machte sich die Entscheidung mit außenpolitischen Erwägungen leicht. Die Sache musste durchgezogen werden. Bange machen galt nicht. Der Euro würde so hart wie die DM werden. In der Bundestags-Debatte zur Abstimmung über die Einführung des Euros erklärte Kohl: „Der Euro ist in gar keiner Weise ein unkalkulierbares Risiko.“ Gleichzeitig startete BILD eine gewaltige Kampagne zugunsten des Euro. Hier einige Zitate:

„Euro - Die Wunderdroge: Wirkt gegen Inflation! Dank Euro sind die Preise so stabil wie seit 50 Jahren nicht mehr. Wirkt gegen Haushaltsdefizite! Dank Euro sparen heute selbst Italien, Portugal und Spanien pickelhart. Er schafft ein Geld und einen Wirtschaftsraum von Lappland bis hinunter zur Algarve. Dort überall zieht die Konjunktur endlich wieder an - und auch bei uns. Wunder-Euro, Euro-Wunder!“

Oder ein Zitat von Jean-Claude Juncker, dem langjährigen Vorsitzenden der Eurogruppe und heutigen Kommissionspräsidenten, der bei der Vorstellung von Kohls neuem Buch mitwirkt:

„Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“

Noch im Wahlkampf von 1998, den Kohl dann verlor, plakatierte seine CDU unter dem Titel "Muss Deutschland für die Schulden anderer Länder aufkommen?":

„Ein ganz klares Nein! Der Maastricht Vertrag verbietet ausdrücklich, dass die Europäische Union oder die anderen EU-Partner für die Schulden eines Mitgliedsstaates haften. Eine Überschuldung eines Euro-Teilnehmerstaats kann daher von vornherein ausgeschlossen werden“.

***

Joachim Jahnke, geboren 1939, promovierte in Rechts- und Staatswissenschaften mit Anschluss-Studium an französischer Verwaltungshochschule (ENA), Mitarbeit im Kabinett Vizepräsident EU-Kommission, Bundeswirtschaftsministerium zuletzt als Ministerialdirigent und Stellvertretender Leiter der Außenwirtschaftsabteilung. Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, zuletzt bis Ende 2002 als Mitglied des Vorstands und Stellvertretender Präsident. Seit 2005 Herausgeber des „Infoportals“ mit kritischen Analysen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung (globalisierungskritisch). Autor von 10 Büchern zu diesem Thema, davon zuletzt „Euro – Die unmöglich Währung“, „Ich sage nur China ..“ und „Es war einmal eine Soziale Marktwirtschaft“. Seine gesellschaftskritischen Analysen beruhen auf fundierter und langjähriger Insider-Erfahrung.

 

 

 

 

Sein Buch über das Ende der sozialen Marktwirtschaft (275 Seiten mit 176 grafischen Darstellungen) kann unter der ISBN 9783735715401 überall im Buch- und Versandhandel für 15,50 Euro bestellt werden, bei Amazon hier.


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