Unternehmen

Rohstoff-Schock: Die nächste Krise der Weltwirtschaft am Horizont

Lesezeit: 7 min
02.08.2015 00:05
Der Verfall der Rohstoff-Preise trifft die Produzenten hart und wird mit voller Wucht auf ihre Wirtschaft durchschlagen. Anders als in früheren Krisen können die Zentralbanken nicht mit niedrigen Zinsen gegensteuern. Export-Nationen wie Deutschland müssen sich auf massive Einbrüche vorbereiten.
Rohstoff-Schock: Die nächste Krise der Weltwirtschaft am Horizont
Quelle: EIA

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Die Rohstoffpreise sind global in einer scharfen Baisse. Der Preis für Erdöl als wichtigstem Rohstoff ist stark gefallen und hat sich halbiert. Unter normalen Umständen wird sich die Preisbaisse fortsetzen. Die Preisbestimmung auf den Energiemärkten ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung: Die Weltmarktpreise verschiedenster Energieformen sind hoch korreliert und sorgen für eine extreme Exposition spezialisierter Produzentenländer. Diese werden den Sturz der Rohöl-Preise mit voller Wucht zu spüren bekommen.

Die Preisbildung von Rohöl folgt seit den 1970er Jahren einem Muster langer Zyklen. Korrekt interpretiert haben die Erdölschocks der 1970/80er und der 2000er Jahre eine hohe Ähnlichkeit. Auch wenn sie nicht kausal den exakt gleichen Faktoren zuzuschreiben sind.

Die nominellen Preise von Erdöl (blaue Linie) verzeichneten in den 1970er Jahren den prozentual grössten Anstieg, genauer in den Jahren 1973 bis 1981. Nach einer Stagnation auf hohem Niveau brachen sie 1986 ein und fielen ungefähr auf die Hälfte des Preises zurück. Sie oszillierten nachher während mehr als einem Jahrzehnt auf diesem neuen Gleichgewichtsniveau. Die realen Preise von Erdöl (rote Linie) dagegen vermitteln ein anderes Bild. Dabei werden zwei verschiedene Definitionen verwendet. Diejenige der amerikanischen Energieagentur EIA, welche eine Konsumentensicht abbildet und hier gezeigt wird, und diejenige der Produzentenländer OPEC, welche die Produzentenseite erfassen soll. Im Ergebnis sind beide kaum zu unterscheiden.

Wichtig ist, dass in den 1970er und frühen 1980er Jahren ein erheblicher Teil des Anstiegs der Erdölpreise durch die allgemeine Inflation aufgefressen wurde. Preisbereinigt war der Anstieg des Erdölpreises nicht stärker als in den 2000er Jahren. Die Weltwirtschaft hat also in den 2000er Jahren einen zweiten Erdölschock erlebt, mit dem Höhepunkt 2011/12. In der Größenordnung war dieser Schock mindestens so bedeutend wie in den 1970er Jahren. Der Rückgang von 2015 ähnelt demjenigen von 1986 stark. Zwar beträgt er bisher im Jahresmittel erst rund 40%. Die aktuellen Marktpreise aber liegen nochmals fast 10 $ tiefer. Die historisch präzedenzlose Lagersituation sowie die anhaltende Angebotsausweitung aller großen Produzenten – USA, Russland, Saudi-Arabien - lassen ein weiteres, unter Umständen massives Abrutschen der Preise erwarten.

Der Preiseinbruch im Erdöl ist nicht nur im Absturz vergleichbar wie 1986. Auch die Umstände weisen eine gewisse Parallele auf. Saudi-Arabien als swing producer im OPEC-Kartell vermochte den Erdölpreis nicht mehr zu stabilisieren. Damals hatte die Kombination von neuen Anbietern (Nordseeöl) und einem Rückschlag der Nachfrage zur Überproduktion geführt. Um den Preis hochzuhalten, hatte das Königreich in den Vorjahren die Produktion drastisch eingeschränkt (gelbe Linie). Als Saudi-Arabien Ende 1985 seine Politik aufgab, die Produktion weiter zu drosseln, kollabierte der Ölpreis.

2014/15 war es wieder Saudi-Arabien, das den großen Preis-Kollaps auslöste. Die Überproduktion entstand durch die starke Zunahme der amerikanischen Erdölförderung. Die Ausdehnung des mit neuen Methoden gewonnen Öls repräsentiert eine schwere Bedrohung für die Marktmacht des OPEC-Kartells. Saudi-Arabien, in einer viel komfortableren Situation als Mitte der 1980er Jahre, entschied sich für eine Vorwärtsstrategie. Das Land sorgte ab Mitte 2014 dafür, dass die OPEC-Quoten nicht nach unten angepasst wurden, und dehnte seine Produktion deutlich sichtbar über seine Quote hinaus. In der ersten Jahreshälfte 2015 produzierte das Land so viel Erdöl wie nur in der Spitze 1980.

1986 markierte ein positives Datum für die Weltwirtschaft. Zwischen 1986 und 1990 expandierte die globale Konjunktur nach dem Rückschlag der ersten Hälfte der 1980er Jahre kräftig. Weltweit setzte ein langfristiger Wachstumsprozess ein, der eigentlich – nur unterbrochen von zyklischen Rezessionen 1993 und 2002 - bis 2008 anhielt.

Oberflächlich betrachtet erscheint die Entwicklung im Jahr 2015 ähnlich denjenigen im Jahr 1985. Der Preiseinbruch ist in Bezug auf die Größenordnung vergleichbar. Deshalb sind viele Analysten positiv, und die Märkte sind extrem hoch bewertet. Doch diesmal dürfte die makroökonomische Gesamtwirkung erheblich anders ausfallen.

Wichtig dafür ist eine Reihe von strukturellen Veränderungen der Weltwirtschaft. Das Gewicht der Länder, welche auf die Produktion von Energie und Rohstoffen spezialisiert sind, hat im Boom der 2000er Jahre massiv zugelegt. Diese Länder werden vom Preisfall der Energiepreise mit voller Wucht getroffen. Wichtig sind auch Strukturveränderungen im Energiesektor selber. Die Energieintensität der Wirtschaft ist in den OECD-Ländern viel geringer als vor 30 Jahren. Deshalb löst der Preisfall in der gleichen Größenordnung wie damals geringere positive Wachstumsimpulse aus.

Vor allem die US-Konsumenten profitieren aufgrund der veränderten Fördermethoden für Erdgas viel weniger als in der Vergangenheit vom Fall der Erdölpreise: Sie haben die Erdgas-Dividende bereits seit 2009 bezogen. Und wichtig ist das makroökonomische Umfeld: Die frühen 1980er Jahre waren Jahre hoher Inflation. Der Fall der Erdölpreise 1985 / 86 beschleunigte den Prozess der Disinflation und erlaubte es den Notenbanken damals, die Zinsen drastisch zu senken. Zum reduzierten Erdölpreis gesellte sich also ein sehr kräftiger monetärer Stimulus. Dieser zusätzliche Antrieb wird diesmal ausbleiben. Grosse Wirtschaftsräume wie die USA, Europa oder Japan haben schon seit Jahren Nullzinsen oder Zinsen nahe bei Null. Und China als größter Wachstumstreiber für die Weltwirtschaft des vergangenen Jahrzehnts ermattet im Wirtschaftswachstum, oder könnte sogar einen Einbruch erleiden.

Um diese Konstellation genauer zu analysieren, werden die Faktoren im Einzelnen dargestellt. Ein Faktor, den viele Analysten nicht berücksichtigen, ist die Korrelation der international gehandelten Energiepreise. Nicht verwunderlich ist die hohe Korrelation der Rohölpreise. Nur in den letzten Jahren trat eine ungewöhnliche Preisdifferenz zwischen der Erdölsorte Brent, dem weltweiten Benchmark für Rohöl, und West Texas Intermediate (WTI) auf. Dieser Spread entstand durch die ‚tight oil’ Produktion in den USA, durch mangelnde Transportkapazität zwischen Texas und der Ostküste, sowie durch das Exportverbot für Rohöl in den USA. Auch Ural, der wichtigste Referenzpreis für russisches Rohöl, ist hoch mit Brent korreliert. Dessen Spread ist gegenüber den 1990er Jahren stark zurückgegangen.

Was weit weniger bekannt ist, wie hoch Rohöl mit anderen international gehandelten Energiepreisen korreliert ist. Im Folgenden werden Graphiken für die raffinierten Erdölprodukte wie Benzin, Diesel oder Heizöl für den amerikanischen Markt gezeigt. Die USA haben die weltweit größte Raffinerie-Kapazität und sind auch einer der größten Exporteure der Welt für Öl-Derivate. Die Preise repräsentieren nicht Detailhandelspreise, sondern Großhandelspreise auf Spotmärkten. Und wichtig ist, dass die Preissetzung auch in den USA sich auf Brent und nicht auf WTI bezieht.

Rohöl und Erdgas sind im globalen Kontext im unterschiedlichen Ausmaß korreliert. In den USA galt während Jahrzehnten eine grobe, technisch bedingte Relation zwischen Rohöl- (blaue Linie) und Erdgaspreisen. Kurz- und mittelfristig gab es Perioden bedeutender Abweichungen. Seit 2009 ist der Preiszusammenhang völlig zusammengebrochen. Der Einsatz des Fracking zur Gewinnung von ‚shale gas’ hat die Erdgaspreise (grüne Linie) zum Einsturz gebracht. Die Rohölpreise (blaue Linie) verzeichneten dagegen historische Höchstwerte. Erdgas wird in den USA zu Heizzwecken und zur Elektrizitätsproduktion verwendet. Die Preisbaisse hat deshalb den Konsum und die allgemeine Konjunktur bereits seit 2009 unterstützt. Von daher wird der Effekt fallender Rohölpreise auf Benzin und Heizöl beschränkt bleiben. Konsum und Konjunktur werden zusätzlich verstärkt, aber nur in einem gegenüber 1986 sehr reduzierten Ausmaß.

In Europa wird der Preis für Erdgas traditionell anders bestimmt. Er wird nach einer fixen Formel an die Erdölpreise für Brent der vergangenen Monate angepasst. Auch das nach Europa exportierte russische Erdgas wurde so bepreist. Seit 2009 wurde zusätzlich ein Discount in Verhandlungen festgelegt. Deshalb haben die russischen Erdgaspreise im Export (rote Linie) die Hausse von Brent in den Jahren 2011-14 nicht mehr voll mitgemacht. In Asien wird mangels Transportmöglichkeiten Erdgas nicht nur mit einem Discount, sondern eher mit einem Aufschlag gegenüber Brent festgelegt. In der Graphik sind die Preise für indonesisches Flüssiggas (engl. Liquid Natural Gas, kurz LNG) angegeben. Vor allem China und Japan sind gegenwärtig und zukünftig große Bezüger von Erdgas.

Schließlich sei auf die Preise international gehandelter Kohle verwiesen. Kohle repräsentiert das mit Abstand schnellst wachsende Segment im Außenhandel mit Energieprodukten. Die Weltmarktpreise für Kohle sind ebenfalls hoch korreliert mit den Rohölpreisen.

Die Analyse zeigt somit ein gemischtes Bild: Im Inneren eines Landes können Energiepreise administriert, oder von speziellen Bedingungen wie im Falle des Erdgas in den USA etc. geprägt sein. Die Weltmarkt- oder anders ausgedrückt die Export- und Importpreise verschiedener Energiesorten dagegen sind global hoch korreliert. Der Rückgang der Transportkosten und die Entwicklung von Derivatemärkten haben die globalen Energiemärkte integriert.

Für die einzelnen Länder macht es in unterschiedlichem Ausmaß strukturell langfristig Sinn, sich nur auf Rohöl oder Erdgas zu spezialisieren oder im Gegenteil Exporte verschiedener Energieprodukte zu kombinieren. Durch den Betrieb von Raffinerien können etwa grosse Rohölproduzenten eine zusätzliche Wertschöpfung aufbauen. Für einzelne Länder mag es auch günstig sein, Erdgas zu verflüssigen und so durch Seetransport Absatzmärkte zu erschließen. Auch die Versorgung der eigenen Bevölkerung bzw. Wirtschaft mit Energie kann durch die Diversifikation sichergestellt werden.

Aber in einem zyklischen Weltmarkt-Kontext bietet diese Diversifikation keinen Schutz. Die Korrelation der Preise weltweit gehandelter Energie ist sehr hoch. Und die Preisschwankungen von Rohöl, welche die Weltmarktpreise dominieren, sind derart massiv, dass sie alle anderen Effekte weit überragen. Abweichungen mag es geben, aber sie sind in aller Regel temporär und quantitativ nicht genügend bedeutsam. Diese hohe Korrelation hat Effekte auf die makroökonomischen Systemrisiken in globaler Hinsicht.

Den Preissturz des Erdöls werden alle Produzentenländer, die im Export auf Energie spezialisiert sind, voll zu spüren bekommen. Sie werden richtiggehend in einen Hammer hineinlaufen. Und zwar unabhängig davon, ob sie Rohöl, Derivate wie Benzin, Diesel, Heizöl oder Kerosin, oder ob sie Erdgas oder Kohle exportieren. Ihre Exporteinnahmen werden, zeitlich um einige Quartale verzögert, durch den Sturz der Erdölpreise mehr als halbiert werden. Selbstverständlich bleibt die Wirkung nicht auf diese Länder beschränkt. Sie werden ihre Importe massiv einschränken müssen, und damit wird es die großen Exportländer treffen: China, USA, Deutschland, Japan, Korea. Der Sturz der Erdölpreise wird noch ganz andere Effekte haben als nur eine Konsumbeschleunigung im Inneren von OECD-Ländern.

 


Mehr zum Thema:  

DWN
Politik
Politik Krankenhausreform: Entscheidung über Lauterbachs hoch umstrittenes Projekt heute im Bundesrat
22.11.2024

Krankenhausreform: Kommt sie jetzt doch noch? Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) steht mit seinem hochumstrittenen Projekt vor...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Insolvenz von HH2E: Rückschlag für Habecks Energiewende - Wasserstoffprojekte in Sachsen in Gefahr
22.11.2024

Der Wasserstoff-Spezialist HH2E hat Insolvenz angemeldet, die Finanzierung durch ein britisches Private-Equity-Unternehmen ist gestoppt....

DWN
Finanzen
Finanzen US-Aktien sind heiß gelaufen: Warum immer mehr Analysten den europäischen Aktienmarkt in den Blick nehmen
22.11.2024

Vermögensverwalter Flossbach von Storch sieht zunehmend Risiken für US-Aktien. Nach der jüngsten Rekordjagd an den US-Börsen verlieren...

DWN
Politik
Politik SPD-Kanzlerkandidat steht fest: Pistorius zieht zurück und ebnet Weg für Scholz
21.11.2024

Nach intensiven Diskussionen innerhalb der SPD hat Verteidigungsminister Boris Pistorius Olaf Scholz den Weg für die erneute...

DWN
Finanzen
Finanzen Bitcoin-Prognose: Kryptowährung mit Rekordhoch kurz vor 100.000 Dollar - wie geht's weiter?
21.11.2024

Neues Bitcoin-Rekordhoch am Mittwoch - und am Donnerstag hat die wichtigste Kryptowährung direkt nachgelegt. Seit dem Sieg von Donald...

DWN
Panorama
Panorama Merkel-Buch „Freiheit“: Wie die Ex-Kanzlerin ihre politischen Memoiren schönschreibt
21.11.2024

Biden geht, Trump kommt! Wer auf Scholz folgt, ist zwar noch unklar. Dafür steht das Polit-Comeback des Jahres auf der Tagesordnung: Ab...

DWN
Politik
Politik Solidaritätszuschlag: Kippt das Bundesverfassungsgericht die „Reichensteuer“? Unternehmen könnten Milliarden sparen!
21.11.2024

Den umstrittenen Solidaritätszuschlag müssen seit 2021 immer noch Besserverdiener und Unternehmen zahlen. Ob das verfassungswidrig ist,...

DWN
Finanzen
Finanzen Bundesbank: Konjunkturflaute, Handelskonflikte, leere Büroimmobilien - Banken stehen vor akuten Herausforderungen
21.11.2024

Eigentlich stehen Deutschlands Finanzinstitute in Summe noch ganz gut da – so das Fazit der Bundesbank. Doch der Blick nach vorn ist...