Die Ägäis wird zum Grab für immer mehr Flüchtlinge. Allein in der Nacht zum Freitag kamen vor den griechischen Inseln mindestens 22 Menschen bei einem Bootsunglück ums Leben, darunter zehn Kinder. In der türkischen Ägäis starben vier Kinder bei einer weiteren Flüchtlingstragödie. Damit sind in den ersten zehn Monaten 2015 bereits 3329 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken, mehr als im gesamten Jahr 2014 (3279 Tote), wie die Internationale Organisation für Migration mitteilte. Viele Flüchtlinge kommen aus Syrien, wo seit viereinhalb Jahren ein Bürgerkrieg tobt. Die meisten wollen nach Deutschland.
Der griechische Regierungschef Alexis Tsipras zeigte sich im Parlament am Morgen tief betroffen von den wiederholten Bootsunglücken. «Als Mitglied der Führung Europas schäme ich mich.» Das eine Land schiebe das Problem dem anderen zu, die Wellen spülten nicht nur tote Migranten, sondern auch die europäische Kultur an Land. Doch Griechenland kann das Problem offenbar auch nicht lösen: Tsipras schlug nämlich vor, die Registrierungszentren (Hotspots) von den griechischen Inseln in die Türkei zu verlagern, damit die Menschen nicht die gefährliche Seereise auf sich nehmen müssen.
Die Route von der türkischen Westküste nach Lesbos wird derzeit immer noch von vielen Flüchtlingen genutzt, obwohl sich das Wetter verschlechtert hat. Für das Wochenende sagt der staatliche griechische Wetterdienst Sturm und starken Seegang voraus. Helfer auf Lesbos befürchten, dass die Zahl der Toten weiter steigt.
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen teilte mit, ihre Teams unterstützten Überlebende auf den Inseln Leros und Kalymnos. Pro Asyl forderte ein rasches Eingreifen der Europäer. Die Situation auf Lesbos und anderen griechischen Inseln sei katastrophal, teilte die Organisation mit. «Die Helfer sind am Limit und mit dem Massensterben überfordert.» Auch Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt zeigte sich bei einem Besuch auf Lesbos tief erschüttert.
«Nachts ist es besonders schlimm, dann wird der Wind noch stärker», sagt der Brite Faruk Divelli, der mit anderen Privatleuten auf Lesbos hilft. «Wir entzünden Feuer am Strand, damit die Flüchtlinge sehen, wo sie hinsteuern müssen.» Wenn die Menschen das rettende Ufer erreichen, spielen sich dramatische Szenen ab, berichtet der 48-jährige. «Sie sind durchnässt, unterkühlt und traumatisiert, wir haben halbtote Kinder von den Booten geholt, mit Wasser in der Lunge. Und wir haben nicht einmal genug Rettungsdecken, Wasser und Medikamente für sie.»
Divelli und seine Mitstreiter kommen aus Bolton bei Manchester. Innerhalb einer Stunde hat die Gruppe am Vormittag bereits drei überfüllte Boote mit jeweils rund 40 Flüchtlingen geborgen und die Menschen notdürftig versorgt. Die Gemeinde in der Heimat unterstützt die Initiative, aus Bolton sollen in den nächsten Tagen 22 Paletten mit Hilfsmitteln geliefert werden. Fassungslos ist Divelli über die Tatsache, dass auf Lesbos hauptsächlich Privatleute und Nichtregierungsorganisationen helfen. «Man sieht keine staatlichen Helfer, nur Freiwillige aus aller Herren Länder.»
Die EU-Kommission listete am Freitag erfüllte und ausstehende Zusagen aller 28 EU-Staaten bei der Bereitstellung von Personal und Geld zur Bewältigung der Einwanderungsströme auf. Demnach fehlen rund die Hälfte der zugesagten 5,6 Milliarden Euro, mit denen die EU afrikanische Länder, Anrainerstaaten Syriens sowie das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR unterstützen will. Während Großbritannien mit 137 Millionen Euro bisher den größten Beitrag geleistet hat, steuern Zypern mit 20.000 Euro und Kroatien mit 40.000 Euro die wenigsten Mittel bei. Deutschland hat den Angaben zufolge 123 Millionen Euro zugesichert und Österreich 36 Millionen Euro.
Auch bei der Bereitstellung von Personal für die EU-Grenzschutzagentur Frontex und die EU-Asylbehörde Easo hinken viele EU-Staaten hinterher. Von den rund 750 Frontex-Grenzschützern sind bisher nur rund 350 zugesagt, bei Easo sind es weniger als die Hälfte der angepeilten 374 Mitarbeiter.
Zeit lassen sich die Mitgliedsländer zudem bei der vereinbarten Verteilung von 160.000 Flüchtlingen - bisher haben 14 EU-Staaten insgesamt 1375 verfügbare Plätze gemeldet, davon vier in Litauen und zehn in Deutschland. Die Bundesrepublik kämpft allerdings schon jetzt mit dem Zustrom Hunderttausender Migranten, die sich bereits in der EU befinden und nicht vom Verteilungsschlüssel erfasst sind. Auf Grundlage des Systems wurden bisher lediglich 86 Flüchtlinge aus Italien Richtung Schweden und Finnland gebracht.