Politik

„Höhere Gewalt“: Euro-Staaten wollen noch mehr Schulden machen

Die Euro-Staaten bereiten sich auf den Ausstieg aus der Stabilitätspolitik vor. Wegen der Flüchtlinge und des Terrors werden zahlreiche Staaten mehr Schulden machen als eigentlich zulässig. Die neue Linie läuft unter der Überschrift „Höhere Gewalt“. Damit lässt sich so ziemlich alles rechtfertigen.
23.11.2015 18:14
Lesezeit: 3 min

Werbung+++

Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..

Trotz höchster Terrorwarnstufe haben die Euro-Finanzminister am Montag in Brüssel über die Lage der nationalen Haushalte beraten. Auf der Tagesordnung stand dabei auch die Forderung Frankreichs, die Mehrausgaben für erhöhte Sicherheitsmaßnahmen nach den Anschlägen von Paris bei der Berechnung des Staatsdefizits zu berücksichtigen. Ähnliche Wünsche hatte es zuvor bereits von Österreich, Italien und Belgien mit Blick auf die durch die Flüchtlingskrise verursachten Kosten gegeben.

Mit diesen beiden Anliegen haben die Euro-Staaten einen Hebel gefunden, um sich endlich auf den bei den meisten verhassten Stabilitätspakt zu verabschieden. Terror und Flüchtlinge werden als höhere Gewalt qualifiziert - obwohl keines der beiden eine höhere Gewalt im klassischen Sinn darstellt: Die Flüchtlingskrise beschäftigt die EU seit drei Jahren. So lange nämlich kommen die Flüchtlinge und Migranten bereits über das Mittelmeer. Seit Jahren haben Experten die EU ermahnt, sich auf die Situation vorzubereiten. Sie ist untätig geblieben, wie die meisten Staaten auch. Nun wollen alle gemeinsam das Problem in der bewährten Weise lösen - nämlich durch den Griff in die Taschen des Steuerzahlers.

Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem sagte am Montag, die EU-Kommission könne Mehrausgaben unter außerordentlichen Umständen berücksichtigen. Dies gelte auch für den Bereich der inneren Sicherheit. Die Bewertung könne aber erst in der Rückschau erfolgen, weshalb derzeit dazu keine Entscheidung nötig sei. "Es steht auf der Agenda", sagte der Niederländer. Nun müsse abgewartet werde, "ob es überhaupt ein Problem für diese Länder wird."

Der österreichische Finanzminister Hans Jörg Schelling sagte mit Blick auf die Pariser Anschläge, er habe Verständnis dafür, wenn bei Staaten mit "so gigantischen Sicherheitsvorkehrungen" die dafür anfallenden Kosten herausgerechnet würden. Er verwies darauf, dass dies bei den Mehrausgaben für die Flüchtlinge im Falle Österreichs erfolgen werde. Es sei aber bei jeder Art von außergewöhnlicher Belastung immer "im Einzelfall zu prüfen", ob Kosten tatsächlich beim Budgetdefizit berücksichtigt werden könnten. "Es wird keine generelle Regel werden." Österreich hat mehr Geld dringend notwendig: Die Regierung muss sich nämlich bemühen, die bis zu 19 Milliarden Euro, die sie mit der Skandalbank Hypo Alpe Adria versenkt hat, irgendwie zu kompensieren. Schon jetzt sind viele öffentliche Einrichtungen in Österreich kaum noch handlungsfähig, weil sie so massiv einsparen müssen.

Italien, Österreich und Belgien hatten die Kommission bei der Vorlage ihrer Haushaltsentwürfe für 2016 gebeten, wegen der Kosten für die Flüchtlingskrise Nachsicht zu zeigen. Italien beziffert die erwarteten Kosten für 2016 auf knapp vier Milliarden Euro, Österreich rechnet mit rund einer Milliarde und Belgien mit 350 Millionen.

Nach den Anschlägen in Paris hatte Frankreichs Premierminister Manuel Valls am Dienstag "noch nie dagewesene Mittel" für Polizei, Gendarmerie und Geheimdienst angekündigt. Dadurch werde Frankreich "zwangsweise" seine europäischen Haushaltsziele nicht einhalten können, sagte er. Präsident François Hollande hatte am Montag bereits von der Schaffung von 8500 neuen Stellen bei den Sicherheitsbehörden und in der Justiz gesprochen. Er verwies vor dem Parlament darauf, dass in solchen Situationen "der Sicherheitspakt vor dem Stabilitätspakt geht".

Auch hier ist zu sagen: Die französischen Problem-Viertel existieren seit einem Vierteljahrhundert. Die Regierung hat nichts dagegen getan - und befindet sich damit in schlechter Gesellschaft mit Belgien, wo die Gewalt schon seit längerem immer wieder aufflackert. Frankreich hat nach Charlie Hebdo faktisch den Polizeistaat ausgerufen. Geholfen hat es nichts, die Attentäter von Paris wurden trotz tausender Soldaten, Spitzel und Denunzianten nicht an ihren Verbrechen gehindert.

Frankreichs Haushaltsdefizit liegt seit Jahren über der im Stabilitätspakt vorgesehenen Marke von drei Prozent der Wirtschaftsleistung. Anfang des Jahres hatte Brüssel Frankreich bereits einen Aufschub bei der Erreichung des Budgetziels gewährt, das damit erst im Jahr 2017 wieder unter die drei Prozent sinken musste. Aber auch dieses Ziel wird Paris nicht mehr erreichen.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) wurde bei dem Treffen durch seinen Staatssekretär Thomas Steffen vertreten. Diese Entscheidung war aber bereits vor Ausrufung der höchsten Terrorwarnstufe in Brüssel getroffen worden.

En passant haben sich die Euro-Finanzminister geeinigt, mit Milliarden die griechischen Banken aus dem ESM zu "retten". Die Tatsache, dass Angela Merkel bei der Einführung des ESM versprochen hat, dass die Steuergelder der Deutschland niemals zur Banken-Rettung verwendet werden, ist längst in Vergessenheit geraten und wird nur noch von Nostalgikern gestellt, die Recht und Gesetz für einen sinnvollen Rahmen des politischen Handelns halten.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Immobilien
Immobilien Indexmiete: Eine gute Wahl?
06.09.2025

Wenn Mieter einen neuen Vertrag unterschreiben, fällt ihnen vielleicht ein ganz spezielles Wort im der Vertragsüberschrift auf: der...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Grönländischer Schlamm: Vom Zufallsfund zum Milliardenprojekt
06.09.2025

Grönländischer Schlamm soll Ernten steigern und CO2 binden. Investoren wittern Milliardenpotenzial – und Deutschland könnte davon...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Verarbeitete Lebensmittel: Wie Konzerne Gesundheitsrisiken herunterspielen
06.09.2025

Coca-Cola, Kraft und Mondelez gewinnen einen Prozess zu verarbeiteten Lebensmitteln. Doch Studien zeigen deutliche Gesundheitsgefahren –...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Russland und China üben Druck aus – NASA plant Mond-Reaktor bis 2030
06.09.2025

Die NASA will bis 2030 einen Mond-Reaktor bauen – im Wettlauf mit China und Russland. Hinter der Technik stehen geopolitische...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Strengere Homeoffice-Regeln: Eine Bank geht den entgegengesetzten Weg
06.09.2025

Während viele Banken strengere Homeoffice-Regeln einführen, setzt eine Bank auf maximale Flexibilität – ein Modell, das auch für...

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Zeigt her eure Schuhe! Wie die Heute Maschinenfabrik im 21. Jahrhundert erfolgreich bleibt
05.09.2025

Die Schuhputzgeräte der Heute Maschinenfabrik mit rotierenden Bürsten sind weltweit im Einsatz. Im Laufe der über 100jährigen...

DWN
Politik
Politik Deutschland setzt auf Strompreisbremse mit Milliarden-Subventionen
05.09.2025

Mit Milliarden-Subventionen will die Bundesregierung die Stromkosten senken. Während Industrie und Landwirtschaft von der Strompreisbremse...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft US-Arbeitsmarktdaten: Beschäftigung in den USA schwächer als erwartet
05.09.2025

Die jüngsten US-Arbeitsmarktdaten sorgen für Gesprächsstoff: Der Jobaufbau bleibt deutlich hinter den Erwartungen zurück. Experten...